§ 10. Reflexion über Bacons Leben und Charakter

[29] Um Bacons Leben und Charakter sowohl von seiner Licht- als Schattenseite gehörig würdigen und seine bei seinem an sich unverkennbar edlen Charakter außerdem unerklärlichen Fehler begreifen zu können, muß man erkennen, daß er einen Urfehler beging, und diesen Urfehler als den Grund seiner moralischen Fehler erfassen. Dieser Urfehler bestand bei ihm darin, daß er ebensowohl der schmeichlerischen Sirenenstimme der äußerlichen Notwendigkeit Gehör geben wollte und wirklich gab als der Gottesstimme der innerlichen Notwendigkeit, der Stimme seines Genius, seines Talentes, daß er dem Studium der Natur und Philosophie, zu dem er sich berufen fühlte, sich nicht ausschließlich widmete, sondern noch dazu ein sogenanntes Brotstudium betrieb, und überdies ein Studium, das ihn in die zwar glänzende, aber von der Wissenschaft abziehende Laufbahn des Hof- und Staatslebens hineinwarf, daß er dadurch sich zersplitterte, die Einheit seines Geistes mit sich zerstörte. Bacon sagt selbst von sich: »Me ipsum autem ad veritatis contemplationes quam ad alia magis fabrefactum deprehendi, ut qui mentem et ad rerum similitudinem (quod maximum est) agnoscendum satis mobi lem, et ad differentiarum subtilitates observandas satis fixam et intentam haberem, qui et quaerendi desiderium et dubitandi patientiam et meditandi voluptatem et asserendi cunctationem et resipiscendi facilitatem[29] et disponendi sollicitudinem tenerem, quique nec novitatem affectarem, nec antiquitatem admirarer et omnem imposturam odissem. Quare naturam meam cum veritate quandam familiaritatem et cognationem habere judicavi.«21 In einem Briefe an Thomas Bodley gesteht er selbst, daß er gar keinen Hang zu Staatsgeschäften habe und nicht ohne Überwindung sich mit ihnen abgeben könne. In einem Briefe an den König Jacob, den er nach seinem Sturze schrieb, ersucht er ihn, ihm doch seine Pension ausbezahlen zu lassen, damit er nicht genötigt sei, zu studieren, um zu leben, er, der nur zu leben wünsche, um zu studieren.

Galilei, der Zeitgenosse B. s, wohnte in seinen spätern Jahren fast alle Zeit »ferne von dem Getümmel der Stadt Florenz, entweder auf den Gütern seiner Freunde oder auf einem von den benachbarten Gütern D. Belloguardo oder D. Arcetri, woselbst er um desto lieber sich aufhielt, weil ihm deuchte, die Stadt sei gleichsam ein Gefängnis spekulativischer Gemüter, hingegen das freie Landleben sei ein Buch der Natur, so einem jeden immerdar vor Augen liege, der mit den Augen seines Verstandes darin zu lesen und zu studiren beliebe«.22 Spinoza sagte: »Nos eatenus tantummodo agimus, quatenus intelligimus«,[30] und nicht nur sein, das Leben aller Denker bestätigte die Wahrheit dieses Satzes. Leibniz sagt irgendwo: »Nous sommes faits pour penser. Il n'est pas necessaire de vivre, mais il est necessaire de penser«, und sein Wahlspruch, den gleichfalls sein Leben bewährte, war: »Pars vitae, quoties perditur hora, perit.« Der echte Denker, der echt wissenschaftliche Mensch dient aber nur der Menschheit, indem er zugleich der Wahrheit dient; er hält die Erkenntnis für das höchste Gut, für das wahrhaft Nützliche; ihre Förderung ist sein praktischer Lebenszweck; jede Stunde, die er nicht dem Dienste der Erkenntnis widmet, betrachtet er daher als einen Lebensverlust. Wie konnte also B. bei seiner entschiedenen Neigung zum Studium der Natur und der Wissenschaft überhaupt, die nur gedeiht in der Eingezogenheit und Beseitigung aller disparaten Beschäftigungen, sich in eine ihr geradezu entgegengesetzte Bahn, in die Bahn des Staatslebens werfen? Und was war die unausbleibliche Folge davon? Ein so geschickter und gewandter Staatsmann er auch war, was bei seinen ausgezeichneten Talenten nicht anders zu erwarten war, so war er doch in dem Staatsleben gleichsam außer sich, nicht in seinem Wesen; es fand in dieser politischen Tätigkeit sein Geist der nur das Bedürfnis der Wissenschaft hatte, keine Befriedigung; er hatte in dieser Sphäre notwendig keinen Mittelpunkt, keinen Halt, keinen festen Charakter, denn wo einer nicht sein Wesen hat, da hat er auch nicht seinen Schwer- und Mittelpunkt und wankt und schwankt deswegen hin und her; er war in dieser Sphäre nicht mit seiner Seele, nicht mit seinem ganzen Wesen, mit ganzer Fassung gegenwärtig23, und er mußte daher in diesem Widerspruche, in einer Sphäre zu sein, die nicht wahrhaft seine war, die dem wahren Triebe seiner Intelligenz widersprach, auch Fehltritte tun, die selbst seinem moralischen[31] Wesen, das offenbar edler Natur war, widersprachen. Wenn einer wirklich sich berufen fühlt, produktiv, und zwar nicht in einer besondern Sphäre des Wissens, sondern in der Wissenschaft überhaupt, zu sein, Großes und Ewiges in ihr zu leisten, wenn er solche umfassende, universale Pläne faßt wie B., wenn er sich bestrebt, neue Prinzipien zu finden und noch dazu ein Wissen zu fördern und zu treiben, das eine unendliche Ausdehnung in die Breite und Weite erfordert, wenn er in sich den Trieb hat, die Wissenschaft selbst als solche zum Zweck und Ziel seines Lebens zu machen, so ist die Wissenschaft seine Seele, sein Mittelpunkt, die wissenschaftliche Tätigkeit die ihm angewiesene Sphäre; er ist außer ihr außer sich, in der Irre und Fremde, und läßt er sich durch irgendwas für äußere Reize und Motive verführen, sich in ein von der Wissenschaft abziehendes, entgegengesetztes Element zu begeben, so hat er den ersten und wahren Grund zu seinen spätern Mißgriffen und Fehltritten gelegt, er hat eine Sünde gegen den heiligen Geist begangen, denn er hat das der Wissenschaft allein rechtmäßig zukommende Geistesvermögen ihr, wenn auch nicht entzogen, doch ihren Anteil geschmälert, er hat einen Ehebruch begangen, indem er seine Liebe, die er allein seiner gesetzmäßigen Gattin, der Wissenschaft, zuwenden sollte, an die Welt verschwendet. Gerecht, ja, man könnte sagen notwendig war daher auch der schmähliche Sturz B.s, denn durch diesen Sturz büßte er für seinen ersten Sündenfall, für den Abfall von dem wahren Berufe seiner Intelligenz und kehrte er wieder in sein ursprüngliches Wesen zurück.

Wenn B. bewiesen hat, daß auch die Gelehrten große Staatsmänner sein können, so hat er auch zugleich, wenigstens von sich, bewiesen, daß die Wissenschaft im höchsten Grade eifersüchtig ist, daß sie die letzte Gunst nur dem gewährt der sich ihr ungeteilt hingibt, daß der Gelehrte, wenn er sich wenigstens eine solche Aufgabe stellt, wie B. sich stellte nichts auf das Weltwesen verwenden kann, ohne dadurch in[32] das Hauswesen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit eine Störung zu bringen.24 Hätte B. sein Leben nicht zersplittert, hätte er nach dem Beispiel anderer großer Gelehrten sein ganzes Leben dem Dienste der Wissenschaft geweiht, so hätte er es nicht bei dem bloßen Kommandowort, bei dem vornehmen Überblick über den großen Bau der Wissenschaft bewenden lassen, ohne irgendeinen Teil daran auszuarbeiten; so würde er in die Tiefe besonderer Materien sich versenkt und bei der Masse von Kenntnissen, Versuchen und Beobachtungen, die ihm zu Gebote standen, und bei seinen ausgezeichneten Geistesfähigkeiten es zu bestimmten Resultaten gebracht, bestimmte Naturgesetze wie ein Galilei und Cartesius gefunden haben; so würde er die Universalität seines Geistes nicht in dem bloßen Entwerfen von Plänen, sondern auch in der Durchdringung und Bewältigung des Besondern, in der Erhebung des Besondern zum Allgemeinen, worin sich der wahre universale Geist bewährt, bewiesen und über so viele Gegenstände nicht so leichtfertig dahingefahren, kurz, unendlich mehr geleistet haben, als er wirklich geleistet hat.25

Wenn aber B. eine wahre Neigung zum spekulativen Leben in sich hatte, wie war es möglich, daß er sich dennoch in das politische Leben hineinwarf, daß er einen solchen Widerspruch beging? Nur dadurch, daß in seinem Wesen selbst, in seinem Geiste oder metaphysischem Geistesprinzip ein Dualismus lag. Obgleich nämlich B., wie sich zeigen wird, fern davon war, der Empiriker zu sein, der später aus ihm gemacht wurde, ob er gleich Sinn und Fähigkeit für metaphysisches Denken und seine Einfachheit hatte und selbst tiefe metaphysische Gedanken hervorbrachte, obgleich die[33] Empirie ihm nicht die Sache, sondern nur das notwendige Mittel, nicht das Wesen, sondern nur ein Moment ist, so ist doch zugleich der Geist des Materialismus, wie er sich später entfaltete, der in die Sinnlichkeit ausströmende, nur nach außen gerichtete, von der sinnlichen, nur das Sinnliche für Realität haltenden Einbildungskraft beherrschte oder wenigstens affizierte Geist auch schon in ihm und seinem Geistesprinzipe enthalten. Mag B., um sich vor seinem eigenen Gewissen zu rechtfertigen, als Motiv seiner Bewerbungen um Staatsämter anführen, was er will, sogar den frommen Zweck der Seelsorge, den er am besten in einer hohen Stellung im Staate erreichen zu können geglaubt hätte; es war nur der aus sich herausströmende und herausgerissene, von dem Glanze weltlicher Größe geblendete Geist des Materialismus, der ihn über seine wahre Bestimmung, wenigstens anfangs, nicht zur Besinnung kommen ließ, aus der metaphysischen Einfachheit des wissenschaftlichen Lebens herauslockte und in den glänzenden Bilderreichtum des Staatslebens hineinzog. Es war also nur der Dualismus in seinem geistigen Wesen – ein Dualismus, der sich bei ihm auch darin äußert, daß er, während er eine rein unabhängige und selbständige Anschauung der Physik hatte und begründete, die Physik, die übrigens allerdings nach ihm nur einen Teil ausmachen soll, von der Theologie ganz losriß alle Beziehungen, die die Physik in ein Verhältnis zur Religion setzen, abschneidet, dennoch wieder aus Frömmigkeit seine rein physikalischen Gedanken im Geschmack seiner und der nächstfolgenden Zeiten mit den Aussprüchen der Bibel in Parallele setzt und so über die im Herzen ganz irdisch gesinnte Weltdame seiner Physik einen Heiligenschein verbreitet26, es war, sage ich, nur jener metaphysische oder[34] geistige Dualismus, der den Dualismus seines Lebens erzeugte.

21

Impetus Philosophici: »De interpretatione naturae Prooemium«, coll. 744, ed. Francof. 1665. Dieses ganze Proömium ist von Wichtigkeit für den gegenwärtigen Gegenstand.

22

Lebensbeschreibung des Galilei in »Acta Philosophorum«, T. III, 15. Stück, 1724, und »Lettres philosophiques à Mad.... etc.« par Charle Pougens, Lettre sur Galilée.

23

»Wenn er eine Beförderung im bürgerlichen Leben verlangte oder sich darnach bemühte, so geschahe es bloß in der Absicht, um dadurch die Mittel zu erhalten, sein Lehrgebäude zu verbessern und zu vollführen. Denn selber die allerprächtigsten Handlungen in seinem Leben mußten ihm nur dazu behülflich sein. Mit einem Worte, die Einführung dieser neuen Art, die Weisheit zu erhalten, war seine herrschende Neigung und die große Quelle seiner Handlungen sein Leben hindurch. Es machte ihn geschwind in der Bemühung nach Bedienungen; es tröstete ihn, wenn ihm solche Bemühungen fehlschlugen; da er den höchsten Grad seiner Größe erreicht, beschäftigte es ihn auf eine höchst angenehme Weise in seinen müßigen Augenblicken.« »Biogr. Britan.« in Baumgartens Sammlung, S. 313.

24

Mit Recht sagt daher D. Peter Heylyn: »Es war schade, daß er nicht mit einem freien Solde unterhalten wurde und von allen Geschäften, beides bei Hofe und in den Gerichten, abgezogen lebte und mit hinlänglichen Mitteln und Hülfe versehen wurde, in seinem Vorhaben fortzufahren.« L. c., S. 455.

25

B. hat geleistet, was er leisten wollte, und er hat genug geleistet. Er wollte nur den Grundriß des aufzuführenden Gebäudes geben; den Bau selbst überließ er andern. Er wußte, daß das, was er wollte, nicht von einem allein, sondern nur von Unzähligen, nicht von seiner Zeit, sondern nur von den kommenden Jahrhunderten aufgeführt werden könne. Er appelliert daher stets an die Zukunft.

26

Nur eine Stelle zum Belege dieses Widerspruchs. In das Reich der Natur, sagt er (oder des Menschen oder der Wissenschaft, denn es ist eins), kann man nur, wie in das Himmelreich, als ein Kind kommen. Wie fromm klingt diese Vergleichung! Aber auch nur ein wenig analysiert, zeigt sie gerade das rein Entgegengesetzte. Ist es nicht die ausschließliche, nur ihm zukommende, es von jedem andern Reich unterscheidende Eigenschaft des Himmelreichs, daß man in dasselbe nur als ein Kind kommen kann? Kann ich mich denn mit derselben Stimmung des Gemütes, mit derselben Gesinnung den gemeinen sinnlichen und natürlichen Dingen nähern und hingeben, mit denen ich mich Gott hingebe? Was habe ich denn für ihn, womit ich ihn ehren und verehren kann, wenn ich nicht das Beste in mir, das kindliche Gemüt, für ihn allein aufbewahre und ihm ausschließlich hingebe? Nehme ich nicht gerade dadurch dem Himmelreich, was ich dem irdischen Reiche gebe? Doch es ist hier der Ort nicht, ins einzelne weiter einzugehen. Gleichwohl sieht der Verfasser der Schrift »Le Christianisme de François Bacon etc.« à Paris An VII, 2 Bände, es als ein besonderes Zeichen der Frömmigkeit B.s an, daß er so häufig Bibelsprüche anführt.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 29-35.
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