§ 14. Die Notwendigkeit und die Bedingungen einer totalen Reformation der Wissenschaften

[46] Es handelt sich daher jetzt um eine radikale Kur der Wissenschaften, eine völlige Erneuerung, Wiedergeburt und Reformation derselben von ihren untersten Grundlagen an, es gilt jetzt, eine neue Basis des Wissens, neue Prinzipien der Wissenschaft zu finden; denn das würde wenig die Wissenschaft fördern, wenn man das Neue auf das Alte propfen wollte. (l. c., A. 31, 97)

Die objektive Bedingung aber einer gründlichen Reformation der Wissenschaften ist, daß sie wieder auf die Erfahrung und die Naturphilosophie, von der sie sich zeither losgerissen haben, zurückgeführt werden. Denn alle Künste und Wissenschaften, die sich von ihrer Wurzel, der Erfahrung und Naturwissenschaft abreißen, können wohl eine äußerlich polierte und zum gemeinen Schul- und Lebensgebrauch hinreichende Form erhalten, aber nichts an Umfang und Inhalt gewinnen. Nur diese Abtrennung von der Natur ist schuld daran, daß die Astronomie, die Musik, die meisten mechanischen Künste und selbst die Medizin und (was noch mehr auffallen kann) sogar die Moral und Politik und die logischen Wissenschaften in ihrer Grundlage aller Tiefe ermangeln und sich nur auf der Oberfläche der äußerlichen Verschiedenheit der Dinge aufhalten, denn sie holen ihren Nahrungsstoff nicht aus der Natur, die ihnen doch allein die Säfte und Kräfte zum Wachstum geben kann. (l. c., A. 79, 80, 74)

Die subjektive Bedingung der Restauration der Wissenschaft ist, daß der Geist sich von allen Theorien und Vorurteilen reinige und so mit einem ganz leeren Verstande die Beschäftigung mit dem Besondern wieder von vornen anfange. Denn man kann in das Reich der Menschheit, welches auf der Wissenschaft beruht, wie in das Himmelreich nur als ein Kind kommen. (l. c., A. 68, 97)

Es gibt aber vier Hauptklassen von Götzenbildern oder Vorurteilen, von denen sich vor allem der Mensch befreien muß, wenn er zur wahren Naturphilosophie kommen will.

Die erste Klasse derselben, die idola tribus, die Stammoder Geschlechtsvorurteile, haben ihren Grund in der menschlichen Natur selber, denn die menschliche Natur ist[46] nicht, wie fälschlich behauptet wurde, das Maß der Dinge, im Gegenteil, alle unsere, sowohl sinnliche als geistige Vorstellungen sind nur nach der Analogie des Menschen, aber nicht des Universums gebildet, und der menschliche Verstand nimmt die Strahlen der Dinge nur wie ein krummer, ungleicher und trüber Spiegel auf, mischt sein Wesen in das Wesen der Dinge ein und verdreht und entstellt so die Natur. (l. c., A. 41, und »De Augm. Sc.«, V, c. 4)

Die hauptsächlichsten Vorurteile nun der ersten Klasse, die wichtigsten von allen, sind folgende:

Der menschliche Verstand setzt seiner eigenen Natur zufolge leicht eine größere Ordnung und Gleichheit in den Dingen voraus, als sich wirklich vorfindet, und erdichtet daher selbst bei den disparatesten und unvergleichbarsten Dingen noch Vergleichungspunkte und Ähnlichkeiten. (»N. O.«, I, A. 45)

Der menschliche Verstand berücksichtigt immer nur die Instanzen in der Natur, die ihm zur Bestätigung irgendeiner beliebten und als wahr angenommenen Meinung dienen, aber nicht die entgegengesetzten, verneinenden Fälle, wenn diese auch noch so oft vorkommen. So bemerken z.B. die Menschen nur die Träume, die in Erfüllung gingen, aber über die unzähligen Träume, wo das Gegenteil stattfindet, gehen sie leichtfertig hinweg. Der menschliche Verstand zieht daher irrtümlich aus einer besondern Neigung die affirmativen Instanzen den negativen vor, während er doch beiden gleiche Aufmerksamkeit schenken, ja, sogar den negativen Instanzen eine größere Bedeutung geben sollte als den affirmativen, wofern er einmal eine allgemeine Wahrheit feststellen und begründen will. (l. c., A. 46)

Der menschliche Verstand weiß nirgends bei seiner unersättlichen, nie zu befriedigenden Neugierigkeit die schicklichen Grenzen einzuhalten und am gehörigen Orte unnützes Weiterfragen und aberwitziges Forschen einzustellen. Daher er selbst noch bei den allgemeinsten Prinzipien der Natur, die doch schlechthin positiv und unmittelbar, durch keine weiteren Ursachen vermittelt sein dürfen, nach Ursachen und noch allgemeineren Prinzipien fragt. (l. c., A. 48)

Der menschliche Verstand hat einen besondern Hang zu der Abstraktion und dem Abstrakten und gibt daher dem Veränderlichen in der Natur willkürlich Bestand. (l. c., A. 51)[47] Der menschliche Verstand wird besonders irregeführt von der Stumpfheit, der Unzulänglichkeit und Trüglichkeit der Sinne, so daß ihm die grobsinnlichen Dinge bei weitem wichtiger erscheinen als die feinsinnlichen, die doch von größerer Bedeutung und Wichtigkeit sind, und allein seine Aufmerksamkeit fixieren. Wo daher das Unsichtbare anfängt, da hört er auf, nachzuforschen. Deswegen ist selbst die Natur der gemeinen Luft und aller Materien, die noch bei weitem feinsinnlicher sind als die Luft und deren es eine große Anzahl gibt, bis jetzt fast noch gänzlich unbekannt.37 (l. c., A. 5 und »Hist. Nat.«, Cent. I, art. 98)

Die zweite Klasse der Vorurteile, die Vorurteile der Höhle, idola specus, haben ihren Grund in der dunkeln Höhle oder Grotte der Individualität, der besondern Natur des einzelnen, seinem Temperamente, Erziehung, Gewohnheiten usw. Die dritte Klasse der Vorurteile, die Vorurteile des öffentlichen Marktplatzes, idola fori, entspringen aus der Konversation, der Sprache, dem willkürlichen Gebrauche der Worte. Die vierte Klasse, die Vorurteile der Theater oder Theorien, die idola theatri, kommen her von den verschiedenen Dogmen der bisherigen Philosophen und den Gesetzen der bisher geltenden Beweisarten. (»N. O.«, I A. 52-63)

37

Es erhellt, daß, was hier B. dem intellectus schuld gibt, nicht auf den intellectus, sondern den homo in seiner unverständigen Partikularität paßt. Denn wenn die angegebenen Fehler Fehler der Natur und der Intelligenz selbst wären, so würde B. sie nicht als solche einsehen und verwerfen können; dadurch, daß B. sie als solche erkennt und sich von ihnen befreit, beweist er eben, daß sie die Fehler einiger Menschen, aber eben deswegen noch nicht notwendig die Fehler anderer sind, daß sie also keinen objektiven und allgemeinen, sondern nur einen partikulären Grund, daß sie nur in der Trägheit, Eilfertigkeit, Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit, denn nur diese unterlassen es z.B., die negativen Instanzen zu berücksichtigen, nur in den der Verstandestätigkeit entgegengesetzten oder sie hemmenden Eigenschaften der Individuen, also in dem Unverstande, aber nicht im Verstande ihren Grund haben.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 46-48.
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