§ 17. Die Einteilung der Naturwissenschaft

[57] Der höchste Rang im Reiche der Naturwissenschaften gebührt daher auch nur jener Wissenschaft, die zum Gegenstande ihrer Untersuchung die wahren Differenzen oder Bestimmungen, d. i. die in ihrer Art ewigen und unveränderlichen[57] Formen hat und die darum auch Metaphysik40 heißt. Die ihr untergeordneten Wissenschaften sind die Physik und Naturgeschichte. Die Physik jedoch steht wieder über der Naturgeschichte und macht zugleich mit der Metaphysik die theoretische Naturphilosophie aus; denn wie die Wissenschaften überhaupt in Geschichte oder Erfahrung und Philosophie, so wird auch die Naturwissenschaft in Naturgeschichte und Naturphilosophie eingeteilt. (»De Augm. Sc.«, II, c. I)

1. Die Naturgeschichte hat drei Teile. In dem ersten handelt sie von der Natur im Stande der Freiheit, d.h. von allen ihren Produktionen in ihrer ungestörten, freien, gesetzmäßigen Entwickelung; im zweiten von den Verirrungen der Natur, d.h. den Mißgeburten und andern abnormen Erscheinungen, in denen sie durch die Bosheit und den Übermut der hartnäckigen Materie und andere gewaltsame Hindernisse aus ihrer gesetzmäßigen Laufhahn herausgestoßen wird; im dritten von der Natur im Stande der Knechtschaft, in die sie die menschliche Tätigkeit oder Kunst versetzt, welche die Natur von Grund aus umbilden, verwandeln und in ihrem Innern erschüttern kann und sie wie einen Proteus zu tun zwingt, was sie außerdem zu tun würde unterlassen haben. (l. c., II, c. 2; »Descript. Gl. Int.«, c. 2)

Denn die Kunst ist nicht etwa bloß so ein oberflächlicher Zusatz zur Natur, sie hat nicht etwa bloß die Bestimmung und Bedeutung, ihre Entwürfe auszuführen oder ihre Fehler zu korrigieren oder sie von allenfallsigen Hemmungen in ihrer Tätigkeit zu befreien. Die Produkte der Kunst oder Empirie (z.B. der Agrikultur, der Chymie, der Koch- oder Färbekunst usw.) unterscheiden sich von den Produkten der Natur nicht der Form oder dem Wesen, sondern nur dem Produzenten, der äußern, wirkenden Ursache nach; denn der Mensch vermag weiter nichts über die Natur, als die Körper einander zu nähern oder voneinander zu entfernen,[58] er hat also von der Natur nur die Bewegung in seiner Gewalt, alles übrige vollbringt die Natur selbst von innen aus eigener Kraft. (l. c.)

Die Naturgeschichte muß aber jetzt in einem ganz andern Geiste behandelt werden als bisher, nämlich nur in Beziehung auf die Philosophie, nicht mehr aber für sich und um ihrer selbst willen; denn die Naturgeschichte hat keinen andern Zweck, als Vorrat, Material für die Philosophie herbeizuschaffen; alle Bäche der Empirie müssen sich in den Ozean der Philosophie ergießen. Daher muß man auch nicht mehr, wie bisher geschah, in der Naturgeschichte so vielen unnützen Fleiß auf die Beschreibung und genaue Angabe der Mannigfaltigkeit der Dinge, der Verschiedenheiten der Tier-, Pflanzen- und Fossilienarten verwenden. Denn dergleichen kleinliche Verschiedenheiten sind meistens weiter nichts als Spielereien, als Possen der Natur, und ihre Beschreibung gewährt wohl Vergnügen, bisweilen auch einigen Nutzen, aber fördert nicht die Erkenntnis und Wissenschaft. Man muß sich daher vielmehr bemühen, die Ähnlichkeiten und gemeinschaftlichen Verhältnisse der Dinge sowohl in ihrem ganzen Wesen als in ihren besondern Teilen aufzusuchen. Denn nur diese bringen Einheit in die Natur und legen so den Grund zur Wissenschaft. (»N. O.«, II, A. 27; »Parasceve ad Hist. Nat.«, A. 3)

2. Die Naturphilosophie aber hat zwei Hauptteile, nämlich einen theoretischen und einen praktischen Teil. (»De Augm. Sc.«, III, c. 3) a) Der theoretische Teil der Naturphilosophie zerfällt wieder in zwei Teile, nämlich in die Metaphysik und Physik. Die Physik hat zu ihrer Aufgabe die Erforschung der Materie und der äußeren, wirkenden Ursache, zu ihrem Objekte daher die veränderlichen und unbeständigen Ursachen, die so mannigfach und verschieden sind als die Materien, die der Gegenstand ihrer Wirkungen sind, wie z.B. das Feuer in der einen Materie die Ursache ihrer Verhärtung, in der andern wieder die Ursache ihrer Flüssigkeit ist. Die Physik hat daher zu ihrem Gegenstande das ganz in die Materie Versenkte und Veränderliche, die Metaphysik dagegen, als die Wissenschaft von den Formen und Zweckursachen, das Abstraktere und Beständige. Die Physik setzt in der Natur nur Dasein, Bewegung und Notwendigkeit voraus, die[59] Metaphysik aber auch Geist und Idee. (l. c., c. 4)

Der erste und hauptsächlichste Teil der Metaphysik hat zu seinem Objekte die Gesetze oder Formen der einfachen Qualitäten (wie z.B. der Wärme, Kälte, Dichtigkeit, Schwere usw.) und ihrer Bewegungen und Prozesse, durch die sie sich zu konkreten Körpern gestalten, also die Formen, die ungeachtet ihrer geringen Anzahl doch die Grundlage und das Wesen der Beschaffenheiten und Bestimmungen aller konkreten Körper ausmachen. Die Metaphysik hat daher insofern dieselben Objekte wie die Physik, aber diese betrachtet sie nur als äußerliche, veränderliche Ursachen oder nur die causa efficiens, die das bloße Vehikel der Form ist. (»N. O.«, II, A. 9, 7)

Die Metaphysik, inwiefern sie die Wissenschaft von der Form ist, ist die vortrefflichste aller Wissenschaften; denn die Aufgabe der Wissenschaften, durch Verkürzung der langen Umwege der Erfahrung dem alten Lamento über die Kürze des Lebens und die Langwierigkeit der Kunst ein Ende zu machen, löst nur sie allein am besten, und zwar dadurch, daß sie die besondern Sätze verbindet und in allgemeine Sätze oder Gattungen, welche das ganze Gebiet aller Einzelwesen umfassen, ihre Materie mag auch noch sosehr verschieden sein, zusammenfaßt. Daher ist es ein vortrefflicher Gedanke Platos und Parmenides‹ (wenn er gleich bei ihnen bloße Spekulation war), daß alles stufenweise zur Einheit emporsteigt. Deswegen eben ist auch die Metaphysik die herrlichste Wissenschaft, weil sie den menschlichen Geist am wenigsten mit der Vielheit der Dinge belastet, denn sie betrachtet hauptsächlich nur die einfachen Formen der Dinge, die, so wenige ihrer auch sind, doch durch die verschiedenen Grade und Weisen ihrer Verbindung untereinander alle Mannigfaltigkeiten der konkreten Körper begründen. (l. c.)

Der zweite Teil der Metaphysik hat zu seinem Objekte die Zwecke oder Zweckursachen in der Natur. Die Erforschung der Zwecke nämlich gehört nicht in die Physik, ob sie wohl bisher in ihr Gebiet aufgenommen war, leider aber nur zu ihrem größten Nachteil, denn sie hielt die Menschen ab, den realen und wahrhaft physischen Ursachen nachzuforschen. Daher war die Naturphilosophie Demokrits und anderer, welche bei der Konstruktion der Natur nicht die Ideen von[60] Gott und Geist zugrunde legten, den Bau des Universums aus unzähligen Vorspielen und Versuchen der Natur und die Ursachen der besondern Dinge nicht aus Zwecken, sondern nur aus der Materie und dem Laufe der Notwendigkeit ableiteten, viel gründlicher als die Naturphilosophie Platos oder Aristoteles'. Die Teleologie ist unfruchtbar und gebiert nichts, gleich einer gottgeweihten Jungfrau. (l. c.)

b) Die praktische Naturphilosophie hat auch zwei Teile, nämlich die Mechanik und die Magie. Jene wird von der Physik als der Wissenschaft der wirkenden und materiellen, äußerlichen Ursachen, diese von der Metaphysik als der Wissenschaft der wahrhaften Ursachen und allgemeinen Formen hervorgebracht. Denn die Magie ist die Wissenschaft oder Kunst, welche aus der Erkenntnis der verborgenen Formen erstaunenswürdige Wirkungen oder Experimente ableitet und durch die gehörige Annäherung der wirkenden Kräfte an die empfänglichen Gegenstände die großen Taten der Natur ans Licht bringt, eine Kunst, die wie so viele andere bis jetzt noch vermißt und von der bisher sogenannten Magie gänzlich verschieden ist. Übrigens ist auch die ältere Magie keineswegs so ohne weiteres zu verwerfen, sondern es ist vielmehr genau und sorgfältig zu untersuchen, ob nicht unter dem vielen abergläubischen, lügen- und märchenhaften Zeuge so manches, wie die Verzauberung, die Erhöhung und Verstärkung der Imaginationskraft, die Sympathie auch entfernter Dinge, die magische Einwirkung der Geister auf Geister und der Körper auf Körper, seinen Grund in wirklichen Naturkräften hat. (»N. O.«, II, A. 31; »Hist. Nat.«, Cent. X)

40

»Inquisitio formarum (seu verarum differentiarum, ›Aug. Sc.‹, III, c. 4) quae sunt (ratione certe et sua lege) aeternae et immobiles, constituit Metaphysicam.« »N. O.«, II, A. 9.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 57-61.
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