§ 20. Das Wesen der Wissenschaft überhaupt, ihre Herrlichkeit und ihre Wirkungen auf den Menschen

[66] Das Wesen der Wissenschaft besteht darin, daß sie das Abbild des Seins ist. Alles, was daher würdig ist zu existieren, ist auch würdig, gewußt zu werden; die niedrigsten und häßlichsten Dinge sind darum ebensogut Gegenstand der Wissenschaft[66] als die herrlichsten und kostbarsten; denn das Niedrige und Gemeine hat ebensogut Existenz als das Herrliche. Auch befleckt sich dadurch nicht die Wissenschaft, sowenig als die Sonne, die ebenso über Kloaken hinwegschreitet als über Paläste. Die Wissenschaft ist kein Kapitolium noch eine Pyramide, dem Menschen zur Ehre und zum Stolze errichtet, sondern ein heiliger Tempel, nach dem Muster der Welt in dem menschlichen Geiste aufgebauet. (»N. O.«, I, A. 120)

Die Wissenschaft ist das Abbild der Wahrheit. Denn die Wahrheit des Seins und die Wahrheit des Erkennens sind identisch und unterscheiden sich nicht mehr voneinander als der gerade und reflektierte Strahl. (»De Augm. Sc.«, I, p. 18)

Nicht weniger erhaben als das Wesen der Wissenschaft sind ihre Wirkungen auf den Menschen. Die Wissenschaft nämlich erfüllt den Menschen mit dem Bewußtsein seiner Gebrechlichkeit, der Unbeständigkeit des Glücks, der Würde seiner Seele und seiner Bestimmung und Pflichten; daher die wissenschaftlichen Männer sich nicht die Vergrößerung ihres Vermögens als ein besonderes Gut zum Zwecke machen und die Sorge für sich der Sorge für das Allgemeine nachsetzen, während der Haufe der Politiker, die nicht eingeweiht sind in die Wissenschaft der Moral und die Betrachtung des allgemeinen Guts, sich als das Zentrum der Welt betrachten, auf das sie alles beziehen, und selbst bei allgemeiner Not nur an sich und die Errettung ihrer Güterdenken. (l. c.)

Die Wissenschaft macht den Menschen frei von kindischer und übertriebener Bewunderung der Dinge; denn wir bewundern die Dinge nur entweder wegen ihrer Neuheit oder ihrer Größe, die Erkenntnis aber bringt eben den Menschen zu der Überzeugung, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt. Wie kann nun aber der noch besonders ein Puppenspiel bewundern, der die Werkzeuge und Fäden kennt, durch die die Puppen bewegt werden? Und was ist irdische Größe für den, den die Wissenschaft zur Anschauung des Universums führt? Selbst der Erdball samt dem Treiben der Menschen auf ihm erscheint ihm nur als ein Ameisenhäuflein. (l. c.)

Die Wissenschaft benimmt oder vermindert doch wenigstens die Furcht vor dem Tode und dem Unglück, die das größte Hindernis eines tugendhaften Charakters ist, und macht das[67] Gemüt des Menschen so bildsam und beweglich, daß er nie in einen Zustand moralischer Erstarrung gerät und gleichsam in seinen Fehlern einfriert, ohne sich selbst mehr anzuregen und dem Bessern nachzustreben. Davon weiß freilich nichts der unwissenschaftliche Mensch, er weiß nicht, was das heißt, in sich selbst hinabsteigen und bei sich selbst zu Rate gehen, und was das für ein süßes Leben ist, welches von dem Bewußtsein seiner von Tag zu Tag zunehmenden Verbesserung und Vervollkommnung begleitet ist. Aus den Wirkungen der Wissenschaft auf den Menschen ergibt sich daher, daß sich das Wahre und das Gute nur unterscheiden wie das Siegel und sein Abdruck, denn die Wahrheit ist das Siegel der moralischen Güte. (l. c., p. 34)

Die erhabenste Macht auf Erden, die höchste, die würdigste Herrschaft ist daher auch die Herrschaft der Wissenschaft; denn die Würde und der Wert der Herrschaft richtet sich nach der Würde und dem Werte des Beherrschten. So bringt es keine Ehre, über Sklaven zu herrschen oder über ein knechtisches Volk; wohl aber ist es ehrenvoll, freie Menschen zu beherrschen, wie es in freien Monarchien und Republiken der Fall ist. Noch weit herrlicher jedoch und erhabener als die Herrschaft des Staates ist die der Wissenschaft, denn der Staat gebietet nur über den Willen, die Wissenschaft aber über den Verstand, die Überzeugung, die Intelligenz, die der höchste Teil der Seele ist und selbst über den Willen gebietet. (l. c.)

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 66-68.
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