§ 22. Die Philosophie

[69] Die Philosophie42 hat drei Teile, da sie Gott, die Natur und den Menschen zu ihrem Objekte hat, und ist daher Theologie (nämlich naturalis, im Unterschiede von[69] der inspirata, die auf der Bibel beruht), Naturphilosophie und Philosophie vom Menschen.

Die Erkenntnis der Natur gleicht einem geraden Strahle, die Erkenntnis Gottes wegen des ungleichen Mediums, nämlich der Kreaturen, vermittelst welcher Gott erkannt wird, einem gebrochenen Strahle, die Erkenntnis des Menschen aber, der sich selbst vorstellt, sich in sich selbst zurückstrahlt, einem reflektierten Strahle. (l. c., III, c. 1)

Diesen drei Disziplinen muß nun aber eine allgemeine Wissenschaft vorangehen, welche die Mutter aller übrigen Wissenschaften ist und mit dem Namen der ersten Philosophie, philosophiae primae, bezeichnet werden kann. Diese muß solche Grundsätze enthalten, welche nicht das Privateigentum irgendeiner besondern Wissenschaft, sondern das Gemeingut mehrerer Wissenschaften zugleich sind. Ein solcher allgemeiner Grundsatz ist z.B.: Dinge, die mit einem Dritten übereinstimmen, stimmen mit sich selbst überein; denn er gilt ebensowohl in der Mathematik als in der Logik, wo er die Grundlage des Syllogismus bildet. (l. c.)

Die erste Philosophie hat aber auch noch in einem besondern Teile von den relativen oder hinzukommenden Beschaffenheiten[70] der Dinge, z.B. der Wenigkeit und Vielheit, der Gleichheit und Ungleichheit, der Möglichkeit und Unmöglichkeit, zu handeln. Diese Gegenstände müssen aber ganz anders als bisher behandelt und untersucht werden. Bisher hat man z.B. noch nie, so viele Worte man auch über das Viele und Wenige gemacht hat, den Grund zu ermitteln gesucht, warum in der Natur die einen Wesen in so zahlreicher, die andern in so geringer Menge vorhanden sind. Ebensowenig wurde je bei der Materie von der Ähnlichkeit und Verschiedenheit ein genügender Grund angeführt, warum die Natur beständig zwischen verschiedene Arten gewisse Mittelwesen einschiebt, die von beiden etwas an sich haben. Diese Gegenstände dürfen also nicht logisch, sondern müssen physisch betrachtet und untersucht werden. (l. c. u. V, 4)

Die Naturphilosophie und ihre Teile sind bereits schon dargestellt worden; die natürliche Theologie oder die Philosophie von Gott bestimmt Bacon im gewöhnlichen Sinne, nämlich als die Erkenntnis Gottes aus der natürlichen Vernunft und Betrachtung der Welt, als welche uns seine Attribute, wie Allmacht, Weisheit, Güte, Gerechtigkeit, Anbetungswürdigkeit, hinlänglich offenbaren. Es ist also nur noch übrig die Philosophie vom Menschen und die Angabe ihrer besondern Zweige. (l. c., IV)

Die Philosophie vom Menschen betrachtet diesen entweder im isolierten Zustande oder in der Verbindung (segregatum aut conjugatum) und ist darnach entweder Philosophie des Menschen, phil. humanitatis, oder Philosophie des Staates philos. civilis. Beiden voran geht aber eine allgemeine Wissenschaft, nämlich die von der Natur und dem Stande des Menschen (de natura et statu hominis), welche aber wieder in zwei besondere Wissenschaften als ihre Teile zerfällt, in die Wissenschaft von der ungeteilten Natur (natura hominis indivisa) oder der Person des Menschen, welche hauptsächlich ebensowohl von dem Elend als den ausgezeichneten Eigenschaften oder Vorzügen des Menschen handelt (de miseriis humani generis et praerogativis sive excellentiis), und in die Wissenschaft von dem Bündnisse oder der Gemeinschaft der Seele mit dem Leibe (de foedere sive de communi vinculo animae et corporis), welche teils betrachtet, wie sich Leib und Seele gegenseitig offenbaren, d.h. wie die Seele aus der Beschaffenheit und Gestalt des Leibes und[71] umgekehrt der Leib aus den Eigenschaften der Seele beurteilt und erkannt wird, und so die Lehre von der Anzeigung oder den Zeichen ist (de indicatione), teils aber davon handelt, wie Leib und Seele gegenseitig aufeinander einwirken, und daher die besondere Lehre von den Eindrücken (de impressione) bildet.

Die Philosophie vom Menschen im isolierten Zustande aber besteht aus ebensoviel Teilen als der Mensch, also aus Wissenschaften, die sich mit der Seele und dem Körper beschäftigen. (»De Augm. Sc.«, IV, 1) Die Wissenschaft vom Körper besteht aus ebenso vielen Teilen, als es Güter des Menschen gibt, folglich aus der Medizin, die die Gesundheit, aus der Kosmetik, welche die Schönheit, aus der Athletik, welche die Stärke, und der Vergnügungskunst (voluptaria), welche das Vergnügen zum Gegenstande hat. (l. c., c. 2)

Die Wissenschaft von der Seele handelt teils von der Substanz und den Fähigkeiten der Seele, teils von dem Gebrauch und den Gegenständen ihrer Fähigkeiten (c. 3). Der letztere Teil enthält die Logik und Ethik. Die Logik selbst aber besteht aus vier Teilen, aus der Kunst der Untersuchung oder Erfindung (ars inquisitionis seu inventionis), der Kunst der Prüfung oder Beurteilung (ars examinis seu judicii), der Aufbewahrung im Gedächtnis (ars custodiae seu memoriae), endlich aus der Kunst des Vortrags oder Unterrichts (ars elocutionis seu traditionis). (l. c., V, c. 1) Die Ethik aber zerfällt in die Lehre vom Ideale oder der Idee des Guten oder der moralischen Glückseligkeit (de exemplari sive imagine boni) und die Lehre von der Leitung und Kultur des Gemüts (de regimine et cultura animi, georgica animi). (l. c., VII, c. 1-8)

Die Philosophie, die den Menschen in der Verbindung oder Gesellschaft betrachtet, die philosophia civilis, begreift in sich die Lehre vom Umgang, von den Geschäften, vom Staate und dessen Verwaltung. (l. c., VIII)

42

Über die Bedeutung der Philosophie und ihre Notwendigkeit zur Erkenntnis des Besondern spricht sich B. also aus: »Qui in Philosophia et Contemplationibus universalibus positum omne studium inane atque ignavum arbitratur, non animadvertit, singulis Professionibus et Artibus exinde succum et robur suppeditari.« (»De Augm. Sc.«, II, p. 39) – »Alius error est, quod post singulas scientias et artes suas in classes distributas, mox a plerisque universali rerum cognitioni et Philosophiae primae renuntiatur, quod quidem profectui doctrinarum inimicissimum est. Prospectationes fiunt e turribus aut locis praealtis et impossible est, ut quis exploret remotiores interloresque scientiae alicujus partes, si stat super plano ejusdem scientiae, neque altioris scientiae, veluti speculum adscendat.« (l. c., I, p. 21)

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 69-72.
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