§ 23. Bacons Verhältnis zum Christentum

[72] Den Schluß in der Baconschen Enzyklopädie der Künste und Wissenschaften bildet die »heilige« oder »inspirierte Theologie«. B. bezeichnet sie als den Hafen, den Ruhesitz[72] und Kulminationspunkt des menschlichen Geistes, denn hier stütze sich der Geist nicht wie außerdem auf das Zeugnis der Sinne, welche von den materiellen Dingen in Bewegung gesetzt werden, sondern auf das Zeugnis einer geistigen Substanz, die ein weit edleres Wesen sei als eine körperliche Substanz. Aber der Gegenstand dieser Wissenschaft ist keine Sache der Vernunft, sondern des Glaubens. »Wie wir«, sagt B. (»De Augm. Sc.«, IX), »dem göttlichen Gesetz ungeachtet des Widerstrebens unseres Willens gehorchen müssen, so müssen wir dem Worte Gottes ungeachtet des Widerstrebens unserer Vernunft Glauben. Je absurder und unglaublicher ein göttliches Mysterium uns erscheint, desto größere Ehre erweisen wir Gott, wenn wir es Glauben.« Die große Reformation, die B. im Schilde führt, erstreckt sich daher nur auf die Philosophie, nicht Theologie, d.h. nur auf die weltlichen, materiellen, nicht auf die göttlichen, geistigen Dinge. Er beginnt seine Reformation ausdrücklich mit dem Gebete an die Gottheit, sie möge verhindern, daß sein Unternehmen keine üblen Folgen für die Religion habe, daß nicht die Menschen die Grenzen desselben verkennen, nicht das Licht, das er in der Natur anzünde, zur Beleuchtung der Glaubensgeheimnisse anwenden und dadurch sie profanieren und zweifelhaft machen. Wegen dieser seiner frommen Gesinnungen und Gedanken gilt B. für das Muster eines christlichen Naturforschers. Man lese De Lucs schon oben angeführten »Précis de la Philosophie de B.« und die gleichfalls schon erwähnte Schrift »Le Christianisme de F. B. ou Pensées et sentimens de ce grand homme sur la Religion«. Beide Schriften haben den Zweck, im Gegensatz zu den französischen Empiristen und Atheisten, welche B. zu ihrem Anführer machten, sein religiöses oder christliches Wesen hervorzuheben.

Allerdings hatten diese Schriftsteller recht, wenn sie den Unterschied B.s von den französischen Empiristen und Atheisten hervorhoben, aber ebenso recht hatten diese, wenn sie B. mit sich identifizierten. B. ist ein dualistisches, widerspruchvolles Wesen. B. ist unstreitig ein frommer, gläubiger, ja recht- und vollgläubiger Christ, und doch ist er zugleich nicht gläubig, nicht Christ. Seine Gebete, sein Glaubensbekenntnis, seine Bibelzitate, sein letztes Buch »De Augmentis Scientiarum«, seine übrigen in seinen Werken zerstreuten[73] religiösen Gedanken sind wohl schöne Zeugnisse und Produkte seines Christentums; aber sein Hauptwerk, seine Physik, sein »Organum novum« ist das Produkt und Zeugnis eines unchristlichen, ja dem Wesen des Christentums geradezu widersprechenden Geistes.

Was ist B.s Haupttendenz? Die Natur aus der Natur zu erkennen, die Natur durch sich selbst zu fassen, die Natur unentstellt durch Einmischungen des menschlichen Geistes oder Wesens überhaupt ans Licht zu ziehen. Das Experiment oder Instrument, dessen Notwendigkeit B. so hervorhebt, hat eben keinen andern Zweck, als die Natur nicht aus ihren unmittelbaren Beziehungen und Wirkungen auf den Menschen und seine Sinne43, sondern aus ihren Beziehungen und Wirkungen auf sich selbst kennenzulernen, so daß, wie er sagt, der Sinn nur über das Experiment, das Experiment aber über den Gegenstand urteilt. Wenn ich z.B. die warme Hand in laues Wasser stecke, so behauptet mein Gefühlssinn kategorisch: Das Wasser ist kalt; aber mein Auge belehrt mich vermittelst des Thermometers von dem Gegenteil. Mein Urteil über die Temperatur des Wassers stützt sich daher jetzt auf die Wirkung, welche dasselbe auf das Quecksilber äußert; ich bin nur Zuschauer, habe aber eben deswegen ein objektives Urteil.[74] Die Natur ist aber ein physisches, sinnliches, materielles Wesen. Die Natur folglich auf eine ihrem Wesen adäquate Weise, also durch sinnliche, physische, materielle Mittel, zu erkennen, ist B.s Haupttendenz. Aber eben diese sinnliche, physische Tendenz B.s steht im direkten Widerspruch mit dem Wesen oder Geiste des Christentums. Das Christentum lehrt, daß Gott ein Geist ist, daß dieser Geist durch das Wort oder den Gedanken die Welt erschallen und daß unter allen erschaffenen Wesen der Mensch allein wegen seines Geistes das Ebenbild Gottes sei. Wenn aber der Geist, der Gedanke, das Wort der Schöpfer der Natur ist, wie kann B. als Christ dem Aristoteles und Plato darüber einen Vorwurf machen, daß sie aus Worten, Kategorien, Ideen die Welt konstruierten? Waren sie nicht gerade hierin Vorläufer des Christentums? Warum soll das Ebenbild nicht in Gedanken tun, was das Urbild in Wirklichkeit tut? Warum nicht das Prinzip des Seins das Prinzip des Erkennens sein? Warum nicht der Geist das Prius der Natur subjektiv, in der Erkenntnis, sein, wenn er es in Wirklichkeit ist? Ist nicht dieser Gang der göttlichen Ordnung der Dinge gemäß? Wie kann also B. als Christ den entgegengesetzten Weg, den Weg der Induktion, der das Geistige aus dem Sinnlichen entspringen läßt, einschlagen und als den wahren Weg anpreisen? Führt dieser Weg nicht notwendig zum Sensualismus, Materialismus, Atheismus? Komme ich nicht auf diesem Wege unvermeidlich dahin, das Materielle, Sinnliche als das Erste, Unmittelbare, Unableitbare zu fassen und aus zusprechen? Hat nicht schon B. selbst behauptet, daß es in der Natur Unverursachtes, incausabilia, eine Grenze der Ursachen gebe, daß es töricht sei, wenn man an die letzte, positive Ursache oder Materie, sie sei nun, wie und welche sie wolle, gekommen sei, noch weiter nach einer Ursache zu fragen? Wie nahe liegt der Schritt, die Schöpfung dieser natürlichen Ursache oder Materie aus nichts, d.h. aus dem Gedanken oder Willen, die B. selbst als eine übernatürliche, unbegreifliche, geoffenbarte Lehre bezeichnet, zu verwerfen und bei der Natur allein stehenzubleiben? Und was heißt denn der Satz: Gott, der Geist hat die Natur oder Welt aus nichts erschaffen, anders als: Die Welt oder Natur ist nichts für den Geist? Wie kann also B. das, was für das Urbild des menschlichen Geistes, folglich für diesen[75] selbst nichts ist, zum wesentlichen Gegenstand desselben machen, zu dem Gegenstand, von dessen Erkenntnis allein das Wohl des Menschengeschlechts abhänge? B. sagt: »Wer den materiellen Himmel und die Erde in dem Worte Gottes sucht, in dem Worte, von dem es heißt: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen, der sucht unbesonnenerweise die vergänglichen Dinge unter den ewigen, und wenn es wahr ist, daß der, welcher die Theologie, d.h. die Wissenschaft der geoffenbarten Dinge, in der Philosophie suchte, gerade so verfahren würde wie ein Mensch, welcher die Lebenden unter den Toten suchte, so ist es nicht weniger wahr, daß der, welcher im Gegenteil die Philosophie in der Theologie suchte, dem gleicht, der die Toten unter den Lebenden suchte.« Wie kann aber der Geist, wenn er die Wahl zwischen Lebenden und Toten, zwischen Ewigem und Vergänglichem hat, sich auf dieses konzentrieren? Wird er nicht notwendig das Vergängliche mit Verachtung wegwerfen, um sich nur dem Ewigen zu widmen? Wie kann also B. als ein Christ die Meinung, daß der Geist sich von seiner Würde etwas vergebe wenn er sich mit den besondern, sinnlichen, in die Materie versenkten Dingen beschäftige, als ein verwerfliches Vorurteil bezeichnen? Ist nicht der Geist wie er selbst sagt ewig, unsterblich? Wie kann er also mit vergänglichen Dingen, mit Dingen, die unter seiner Würde sind, sich abgeben? Ist nicht der einzige seiner würdige Gegenstand Gott oder, was ziemlich eins ist, er selbst? Und wie kann B. die Meinung, daß dem menschlichen Geiste die Wahrheit eingeboren sei, daß die Sinne nur die Funktion hätten den Geist zu erregen, aber nicht zu unterrichten, als eine törichte, dünkelhafte Einbildung bezeichnen?44 Findet sie nicht ihren Grund oder wenigstens ihre Bestätigung und Rechtfertigung in der Lehre, daß der menschliche Geist das Ab- oder Ebenbild[76] Gottes, also das Ebenbild des höchsten, wahren Wesens sei? Hat denn nicht der Mensch in der Gottähnlichkeit seines Geistes einzig die Quelle der Wahrheit? Wie soll er sie also außer sich suchen? B. sagt, daß die Natur nicht den Willen, sondern nur die Macht Gottes offenbare, daß sie wohl zur Widerlegung des Atheismus, aber nicht zur Begründung der Religion hinreiche, daß sie also nichts Positives von Gott aussage, ja, daß man eigentlich, strenggenommen, von der Natur auf Gott nicht schließen könne, denn zwischen dem materiellen Wesen der Natur und dem geistigen Wesen Gottes sei keine Analogie, keine Ähnlichkeit, Gott sei nur sich selbst gleich, daß die Natur oder Welt nicht, wie die Alten sagten, das Bild, sondern das Werk Gottes, der Mensch aber nicht, wie gleichfalls die Alten sagten, das Bild der Welt, sondern Gottes sei.45 Wie kann also B. als Christ dem Gottesbild zumuten, daß es die Schleusen der profanen Sinne öffnen, sich in den Kot der gottlosen Materie versenken solle? Heißt das nicht, das Licht unter den Scheffel stellen? Stimmt aber das mit den Lehren und Geboten des Christentums überein? Nein, es widerspricht dem Christentum. B. hebt auf dem Gebiete der Physik, der Naturwissenschaft die Wahrheit und Gültigkeit des Christentums auf. Nichts hat die Menschheit mehr von der Natur abgezogen als das Christentum, nichts mehr die Gesinnungen und Vorurteile erzeugt oder doch genährt, die B. für die größten Hindernisse des Naturstudiums erklärt. Indem er daher diese Hindernisse beseitigt, beseitigt er indirekt das Christentum selbst; aber natürlich nur als Physiker, als naturwissenschaftlicher Reformator, denn außerdem und nebenbei ist er Christ comme il faut.[77]

43

»Docebimus... quomodo Testatio Sensus, quae semper est ex Analogia hominis, ad Analogiam Mundi reducatur et rectificetur; neque enim multum Sensui tribuimus in perceptione immediata, sed quatenus motum sive alterationem rei manifestat.« (»Imp. Phil. Indic. Vera de Int. Nat.«) Ich war gerade an diesem Paragraphen, als ich die Kritik Hayms über mich erhielt. Ich bemerke dem Verfasser, daß die Natur, die ich in dem von ihm so sehr beanstandeten § 48 (»Wesen der Religion«) im Auge und Sinne hatte, bereits seit Bacon kein »Abstraktum« mehr ist, sondern Existenz hat, und verweise zugleich auf § 7, »Grundsätze der Philos.« (S. 275, II. Bd.). Doch das Nähere hierüber vielleicht bei einer andern Gelegenheit. Hier sei B., dessen hohe und originale Bedeutung übrigens noch heute den spekulativen Philosophen ein Rätsel ist, mein Fürsprecher.

44

»Opinione elata et commentitia, qua veritas humanae mentis veluti indigena, nec aliunde commigrans, et sensus intellectum magis excitare, quam informare asserebatur.« (»Cog. et Vis.«)

45

Diese Stellen stehen »De Augm. Sc.«, III, 2, et I; »Imp. Phil. de Interp. Nat.«, S. XII; »Cog. et Vis.«.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 72-78.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geschichte der neuern Philosophie
Sämtliche Werke: Band IV. Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedict Spinoza
Geschichte Der Neuern Philosophie Von Bacon Von Verulam Bis Benedict Spinoza (2); Darstellung, Entwichlung Und Kritik Der Leibnitz'schen Philosophie.
Geschichte Der Neuern Philosophie Von Bacon Von Verulam Bis Benedict Spinoza (1); Darstellung, Entwichlung Und Kritik Der Leibnitz'schen Philosophie.
Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza (Gesammelte Werke)
Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie (Gesammelte Werke)

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon