§ 30. Übersicht und Kritik der Hobbesschen Moral und Politik

[96] Die Hobbessche Philosophie oder richtiger Empirie weiß nichts von Geist und Seele; in ihr, die einzig auf das Materielle das Gebiet des Denkens beschränkt, einzig den Körper zum Objekt der Philosophie macht, bloß ihn als das Denkbare kennt, kommt ja allein dem Körper Wirklichkeit und Substanzielles Dasein zu; in ihr kann daher auch von keiner Psychologie, d. i. Seelenlehre, die Rede sein, sondern nur von einer empirischen Anthropologie. Nur als sinnliches, einzelnes, empirisches Individuum kann daher auch bei ihr in der Moral der Mensch Objekt sein. Indem aber in ihr das einzelne sinnliche Individuum zugrunde gelegt und als solches fixiert wird als ein Reales, ist die Basis der Moral, der Wille, als Wille des sinnlichen Individuums, als eins mit seiner Sinnlichkeit und Einzelexistenz, notwendig auch ein sinnlicher, d. i. ungeistiger, unmoralischer Wille, d.h. Begierde, Verlangen. Und da der Träger und das Subjekt des Willens, das einzelne Individuum, bedingt, von außen[96] bestimmt, den mechanischen Eindrücken und Einwirkungen der Objekte preisgegeben, kurz, ein schlechtweg und durchaus determiniertes ist, so ist auch der Wille notwendig hier ein Determiniertes, Abhängiges; er ist nichts als eine von den Objekten des Willens selbst hervorgebrachte Bewegung des Bluts und der Lebensgeister. So wie ferner das Individuum nicht nur ein einzelnes, sondern notwendig auch ein besonderes, von andern Individuen unterschiedenes ist, so ist auch das Objekt des Willens, der zu seiner Grundlage das einzelne und besondere, unterschiedene Individuum hat, das Gute nur ein besonderes, verschiedenes, rein individuelles, nur relatives. Nichts ist an und für sich gut oder böse; das Maß dessen, was gut oder böse ist, ist das sinnliche Individuum. Das Gute hat daher nur die Bedeutung des Wohltuenden, Angenehmen, Lusterweckenden, Nützlichen, das Böse die Bedeutung nur eines Übels, des Unangenehmen, Schädlichen. Das größte aller Güter ist auf diesem Standpunkt notwendig die Selbsterhaltung, das größte aller Übel der Tod.55

Da der Mensch nur als sinnliches, d. i. einzelnes Individuum Gegenstand und Grundlage der Hobbesschen Empirie und in dieser sinnlichen Einzelheit als ein Selbständiges und Reales fixiert ist, so ist es daher auch notwendig, daß der Staat in ihr nichts Ursprüngliches und Ansichseiendes, sondern nur etwas entweder durch Gewalt und Unterwerfung oder durch freiwillige Übereinkunft und Verträge von den Individuen selbst Hervorgebrachtes und Gemachtes56 und[97] ihm daher der Zustand der unbeschränkten Selbständigkeit und Freiheit der einzelnen Individuen als der sogenannte Naturzustand vorausgesetzt ist. Der Staat, die Vereinigung der in ihrer sinnlichen Einzelheit und Individualität als selbständig und real vorausgesetzten, in dieser Selbständigkeit und Realität ihrer sinnlichen Einzelheit nicht nur gegen alle Verbindung und gegeneinander selbst gleichgültigen, sondern auch feindseligen Individuen kann daher nur ein gewaltsamer Zustand sein, die Einheit nicht des Organismus, sondern der erdrückenden, nicht unterordnenden, sondern unterwerfenden, d. i. der blinden, rohen, mechanischen Gewalt. Da der Staat nur eine äußere Verbindung ist, nicht aus innerer Notwendigkeit hervorgeht, so bleiben die Individuen, obwohl sie im Staate das Prädikat und die Bestimmung Bürger bekommen und in bezug auf den tyrannisch unterdrückenden Staat alle Rechte verlieren, in bezug auf ihre Mitbürger statt des Rechts auf alles, welches ein jeder einzelne im Naturzustande hatte, nur das beschränkte Recht auf einiges behalten57, dennoch im Staate außer dem Staate, in der Verbindung außer der Verbindung, im sogenannten Naturzustande, d. i. einzelne für sich selbständige Individuen; denn an sich, ihrer Natur nach, sind sie gegen[98] alle Staatsverbindung und Einheit gleichgültig, nur insofern sind sie es nicht, als sie im Staate den im allgemeinen Krieg des Naturzustandes unerreichbaren Zweck eines amönen Lebens erreichen können. Notwendig kann daher diese Masse, diese aufgelöste Menge der gegeneinander indifferenten Individuen nur durch eine unumschränkte Zwingherrschaft zusammengehalten werden und die Einheit, der Staat, nur in der obersten absoluten Staatsgewalt Existenz haben, so daß sie allein, sei sie nun die Herrschaft mehrerer oder eines Zwingherrn, das Volk, der Staat selbst ist.58 Der status civilis ist nun zwar ein von dem status naturalis unterschiedener Zustand, ja eine gewaltsame Negation, Verneinung desselben, indem er die in der Moral und im status naturalis vorausgesetzte Realität der einzelnen Individuen aufhebt, sie in bezug auf den Staat aller Rechte, Freiheit und Selbständigkeit beraubt; aber zugleich bleibt doch der Staat, obwohl gerade nur die Zwingherrschaft den Staat und folglich den Unterschied des status civilis vom st. naturalis ausmacht, im Naturzustande.59 Denn der Zwingherr hat das[99] Recht auf alles, welches im Naturzustande jeder einzelne, hiermit alle hatten und wodurch der Naturzustand eben ein Naturzustand war; der status civilis unterscheidet sich daher nur darin vom status naturalis, daß in jenem auf einen einzelnen oder auf einige konzentriert und gehäuft ist, was in diesem alle hatten. Die absolute Unbeschränktheit, welche die oberste Staatsgewalt hat, macht diese gerade zu jener natürlichen Freiheit, die jeder einzelne im Naturzustande hat; sie bleibt, weil sie nicht beschränkt und bestimmt ist, unsittlich, ungeistig, unorganisch, den Begriff des Staats aufhebend, eine rohe Naturgewalt.

Dieser Widerspruch, der aus der ganzen Grundlage der H.s Staatsrechtslehre hervorgeht, beruht besonders darauf, daß H. unter Recht nichts versteht als die natürliche Freiheit, den Begriff des Rechts von dem des Staates absondert und außer den Staat hinaus in den fingierten Naturzustand hineinträgt. Der Staat hat dagegen nur die Bedeutung einer Aufhebung oder Einschränkung der unbeschränkten Naturfreiheit oder des Naturrechtes.60 In der obersten Staatsgewalt ist zwar noch die ganze überschwengliche Fülle des unbeschränkten Naturrechts unverkümmert zusammen- und aufeinandergehäuft, aber eben wegen dieser Zusammenhäufung auf einen Punkt das Recht des Volks, der unter der Staatsgewalt Stehenden, nur der dürftige Rest, das magere,[100] armselige Überbleibsel von dem, was von der anfangs unbeschränkten, durch den Staat aber eingeschränkten Sphäre des Rechts übrigbleibt, so daß der Staat zwar einerseits dem Naturzustande entgegengesetzt erscheint, andererseits aber doch wieder nicht qualitativ von ihm unterschieden ist, die Menschen nicht in einen dem Begriff und Inhalt nach, qualitativ und spezifisch vom Naturzustande unterschiedenen Standpunkt, auf eine sittliche und geistige Stufe versetzt, sondern nur als limitierter Naturzustand erscheint.

Dies erhellt auch aus dem, was Hobbes als Zweck des Staates setzt. Der Zweck des Staates ist der Friede und das auf ihm beruhende Wohl des Volkes, d. i. der Bürger oder vielmehr der Menge. Das Wohl aber ist die Selbsterhaltung und der physisch angenehme Lebensgenuß. Das Leben im Staate ist als ein Leben, in dem die an sich gegeneinander gleichgültigen Individuen als beschränkt und gehemmt durch die Staatsgesetze friedlich neben- und außereinander bestehen, ein angenehmes und vorteilhaftes Leben, das Leben im Naturzustande, in welchem die Individuen als unbeschränkt, feindlich gegeneinander dastehen und sich daher in einem allgemeinen Kriege befinden, ein unangenehmes und nachteiliges Leben. Das angenehme Leben unterscheidet sich nun freilich wohl vom unangenehmen, aber beide haben doch gemein den Begriff, die Sphäre der sinnlichen Subjektivität des Menschen als einzelnen, natürlichen Individuums; im angenehmen Leben bin ich ebensogut noch im status naturalis als im unangenehmen Leben. Der Staat daher, indem er zum Zwecke das physische Wohlsein der einzelnen, der dissolutae multitudinis hat, ist nur eine Limitation des Naturstandes, d.h., er hemmt und beschränkt nur die Individuen, so daß sie ebenso ohne alle geistige und sittliche Bestimmung und Qualität, ebenso außereinander, nur auf sich selbst und ihr sinnliches Selbst bezogen, ebenso viehisch und brutal bleiben, wie sie es im statu naturali waren, nur daß sie jetzt ihre Brutalität nicht mehr in der Form eines den Frieden, die Selbsterhaltung und das angenehme Leben aufhebenden Krieges äußern.

Wohl entsteht mit dem Staate und in ihm der Unterschied zwischen allgemeinem Willen, allgemeiner Vernunft und einzelnem Willen, einzelner Vernunft und wird somit die im Naturzustande und in der Moral stattfindende Unbestimmtheit[101] und Relativität dessen, was gut und böse ist, aufgehoben; aber dieser allgemeine Wille und diese allgemeine Vernunft sind nur allgemein durch die Gewalt, als der sich als der alleinige Wille geltend machende, ausschließende und unterdrückende Wille der einen obersten Staatsgewalt, die sich wegen ihres unbeschränkten Rechtes im status naturalis befindet. Er ist nur allgemeiner Wille, weil er die Macht zu gebieten hat, aber nicht seines Inhalts wegen, der ein ganz Gleichgültiges ist und folglich selbst von der Willkür des Machthabers nicht unterschieden.61 Was die oberste Staatsgewalt gebietet, ist (gleichviel, ob seiner Natur, seinem Gehalte nach allgemein, d. i. wahr und recht, oder nicht) recht, was sie verbietet, unrecht und hiermit das Prinzip der Willkür, welches dem Naturzustande zugrunde liegt, auch das oberste Prinzip des Staates.62

55

»Bonorum primum est sua cuique conversatio. Malorum omnium primum Mors.« (»De Hom.«, c. 9, § 4, 6)

56

»Magnus ille Leviathan, quae civitas appellatur, opificium Artis est, et Homo artificialis; quamquam Homine naturali (propter cujus protectionem et salutem excogitatus est) et mole et robore multo major.« (»Leviath.«, P. I, S. 1) »Si homines propriis singulorum imperiis regere se possent, h. e. vivere secundum leges naturales, opus omnino civitate non esset, neque communi imperio coerceri.« (»De Cive«, c. 6, § 13, annot.) »Duo sunt genera civitatum: alterum naturale, quale est Paternum et Despoticum; alterum institutivum, quod et politicum dici potest. In primo Dominus acquirit sibi cives sua voluntate; in altero cives arbitrio suo imponunt sibimet ipsis Dominum.« (»Leviath.«, 1. c.)

57

»Civitate constituta unusquisque civium tantum libertatis sibi retinet, quantum sufficit ad bene et tranquille vivendum, tantum item aliis adimitur, ut non sint metuendi. Extra civitatem unicuique ita jus est ad omnia, ut tamen nulla re frui possit. In civitate vero unusquisque finito jure secure fruitur.« (»De Civ.«, c. 10, § 1)

58

»Quod de civitate verum est, id verum esse intelligitur de eo homine vel coetu hominum, qui summam habet potestatem; illi enim civitas sunt, quae nisi per summam eorum potestatem non exsistit.« (»De Civ.«, c. 12, § 4) »Civitatem in persona Regis contineri.« (l. c., 6, § 13, annot.)

59

Dies ist schon im Ursprung der obersten Staatsgewalt enthalten, wie sie Hobbes ableitet. Die andern übertragen nämlich auf die einigen oder den einen, der herrschen soll, alle ihre Macht und Gewalt, d. i. alle ihre Rechte. Die Gewalt, das Recht des Herrschers, ist nun zwar der Form nach, insofern es nämlich ein übertragenes ist, vom Recht der andern, das ein angeborenes, natürliches ist, unterschieden; aber dem Inhalt nach ist es dasselbe Recht, das die andern hatten, nämlich das unbeschränkte, unbedingte Naturrecht. Wir, so könnte man etwa jene Überträger sprechen lassen, geben das Recht, das uns die Natur gab, dir Einem, damit du mit diesem übervollen Schatz, mit dieser zusammengedrängten, kompakten Masse von Recht die Gewalt habest, die erfordert wird, Friede und Ordnung zu bringen; damit wir in einen Stand des Friedens und der Ordnung kommen, treten wir aus dem Naturstande heraus, nur dich allein lassen wir in demselben zurück, damit du aus der reichen Schatzkammer deiner Rechtsfülle deine ehemaligen, jetzt aber ausgeleerten, bettelarmen Duzbrüder mit Pfennigs und Groschenrechten versorgest und so mit der unbeschränkten Macht des Naturrechtes einen die andern ihrer Rechte beraubenden, sie kümmerlich einschränkenden Zustand, den status civilis, möglich machest.

60

»Est jus libertas naturalis, a legibus non constituta sed relicta. Remotis enim legibus libertas integra est; hanc primo restringit naturalis lex et divina; residuam restringunt leges civiles... Multum ergo interest inter legem et jus; lex enim vinculum, jus libertas est, differuntque ut contraria.« ([»De Cive«, sect.:] »Imper.«, c. 14, § 3; »De Cive«, c. 13, § 15)

61

»In Monarchia« (und die Monarchie ist die beste Staatsform, »De Cive«, »Imp.«, c. 10) »voluntas civilis eadem est cum naturali.« (c. 7, § 14)

62

»Reges legitimi, quae imperant, justa faciunt imperando, quae vetant, vetando injusta.« (»De Civ.«, c. 12, § 1) »Neque igitur tenetur is, cui summum imperium commissum est, legibus civilibus.« (»Imp.«, c. 6, § 14) Wie daher die Rechtlichkeit und Gerechtigkeit, die Tugend der Bürger lediglich im unbedingten Gehorsam (obedientia simplex, »De Civ.«, c. 6, § 13, c. 12, § 2), d. i. im blinden, nicht unterscheidenden, durch keinen Inhalt bestimmten Gehorsam besteht, so ist das Prinzip der Gesetze, dessen, was Recht und Unrecht ist, hiermit das Prinzip des Staates selbst, der bloße, nackte, inhaltslose, bloß formelle Wille des Gebietenden, der bloß unter den subjektiven und unbestimmten Gesetzen der Moral steht, d. i. eben die bloße Willkür, deren Gebote allgemeine objektive Gültigkeit haben nicht wegen ihres Inhaltes oder Grundes, sondern nur deswegen, weil sie gewollt und geboten sind.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 96-102.
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