§ 36. Die Logik Gassendis

[114] Die Philosophie ist die Liebe, das Studium und die Ausübung der Weisheit, welche die Disposition der Seele ist, richtig über die Dinge zu denken und im Leben richtig zu handeln, sie hat daher zu ihren Hauptgegenständen Wahrheit und Tugend und damit zu ihren Hauptteilen Physik und Ethik. Die Propädeutik beider ist die Logik. Sie ist die allgemeine Wissenschaft, die sich auf keinen besonderen Gegenstand bezieht. Die Physik und die übrigen Wissenschaften erforschen das Wahre an den bestimmten Gegenständen, mit denen sie sich beschäftigen, die Logik aber leuchtet ihnen allen voran, insofern sie allgemeine Vorschriften und Regeln gibt, durch deren Anwendung sie sich auf dem Weg der Wahrheit erhalten oder im Falle einer Verirrung diese erkennen und den richtigen Weg wieder einschlagen können. Die Logik kann daher bestimmt werden als die Kunst, richtig zu denken, d. i. richtig vorzustellen (bene imaginari), richtig zu urteilen (bene proponere), richtig zu schließen (bene colligere), richtig zu ordnen (bene ordinare). (»Logica«, II, c. 6)[114] Was die Erkenntnis und das Kriterium der Wahrheit betrifft, so muß man die Mittelstraße zwischen den Skeptikern und Dogmatikern einschlagen. Es gibt nämlich ein doppeltes Kriterium der Wahrheit in uns, eins, wodurch wir das Zeichen des Objekts wahrnehmen, der Sinn, das andere, durch das wir vermittelst Schlüsse die verborgene Sache erkennen, der Geist oder die Vernunft. Denn da wir etwas mit dem Sinn, etwas mit der Vernunft wahrnehmen und alle Vernunfterkenntnisse aus den Sinnen entspringen, so muß der Vernunft notwendig ein sinnliches Zeichen vorangehen, welches sie zur Erkenntnis der verborgenen Sache hinleitet. So schließen wir z.B. aus dem Schweiße, welcher durch die Haut ausschwitzt, als aus einem sinnlichen Zeichen, daß sie Poren habe, obgleich die Sinne keine an ihnen unterscheiden und uns zeigen. Zu diesem Schlusse nehmen wir aber noch andere unbezweifelte Sätze und Prinzipien zu Hülfe, die wir durch Induktion aus den sinnlichen Dingen erschlossen haben und in unserm Gedächtnis aufbewahren, und verfahren dabei ungefähr so: Diese Feuchtigkeit ist ein Körper, jeder Körper geht aber nur durch ein Medium von einem Orte zum andern, diese Feuchtigkeit muß also durch das Medium der Haut hindurchgehen. Aber die Haut ist selbst ein Körper, und da kein Körper durch einen Ort durchgehen kann, wo schon ein anderer ist, weil nicht zwei Körper zugleich an einem und demselben Orte sein können, so könnte die Feuchtigkeit nicht durch die Haut dringen, wenn die ganze Haut Körper wäre, sie muß also Poren haben. So schließen wir auch von den Äußerungen und Handlungen der Seele nicht nur auf ihr Dasein, sondern auch auf ihr Wesen, und wir erkennen sie um so vollkommener, je mehr Gattungen von Wirkungen uns bekannt werden, indem wir dadurch einsehen, daß sie mehrere Eigenschaften hat. Denn die Natur eines jeden Dinges ist nicht so unteilbar, daß es nicht eine Breite von Eigenschaften und Qualitäten hätte. Obgleich aber der Sinn bisweilen täuscht und kein sicheres Zeichen daher ist, so kann doch die Vernunft, die über dem Sinne steht, die Wahrnehmung des Sinnes berichtigen, so daß sie kein Zeichen annimmt, wenn sie es vorher nicht berichtigt hat, und erst dann über die Sache ein Urteil fällt. (l. c., c. 5)

Jede Idee oder Vorstellung (d. i. das Bild der Sache) in[115] dem Geiste entspringt nur aus dem Sinne. Denn ein Blindgeborener hat keine Vorstellung von der Farbe, ein Taubgeborener keine vom Tone, weil sie der Sinne entbehren, vermittelst deren sie sie nur bekommen; und wenn einer ohne alle Sinne leben könnte, was aber unmöglich ist, so hätte er gar keine Vorstellung von etwas und würde daher nichts vorstellen. Daher haben die berühmten Sätze: Es ist nichts im Verstande, was nicht vorher im Sinne war, und: Der Geist ist eine tabula rasa, ihre Richtigkeit. Denn die, welche eingeborene Ideen behaupten, beweisen nicht ihre Behauptung. (»Inst. Log.«, P. I: »De simpl. rerum imagin.«, can. II)

Jede Vorstellung wird entweder durch die Sinne dem Geiste eingedrückt oder aus solchen Vorstellungen gebildet, die in die Sinne kommen, und zwar entweder durch Zusammensetzung und Vereinigung mehrerer oder durch Erweiterung oder Verminderung, wie wenn ich aus der Vorstellung des Menschen die eines Riesen oder Zwerges bilde, durch Übertragung oder Vergleichung, wie wenn man die Vorstellung einer schon gesehenen Stadt auf eine noch nicht gesehene überträgt oder Gott, der nicht in die Sinne fällt, mit einem ehrwürdigen Greise vergleicht. (l. c., can. III)

Alle durch die Sinne eingedrückten Vorstellungen sind einzeln, der Geist aber bildet allgemeine aus den einzelnen, einander ähnlichen Vorstellungen, und zwar entweder so, daß er die ähnlichen auf einen Haufen zusammenbringt, oder so, daß er, wenn einzelne Vorstellungen zwar in etwas übereinstimmen, aber doch viele Unterschiede an sich haben von diesen Unterschieden absieht und das nur herauszieht, was sie miteinander gemein haben. Die allgemeineren Vorstellungen werden nun ebenso wieder aus den weniger allgemeinen gebildet. Die einzelne Vorstellung ist um so vollkommener, je mehr Teile und Eigenschaften einer Sache sie vorstellt, die allgemeine aber um so vollkommener, je vollständiger sie ist und je reiner sie das Gemeinsame der einzelnen darstellt. (l. c., can. IV, V, VIII)[116]

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 114-117.
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