§ 53. J. Böhms Anthropologie

[170] Mit dem Ursprung des Bösen, der Sünde – der Sünde allein verdankt ja der nicht phantastische, nicht theologische, der existierende Mensch seine Entstehung – sind wir zum Menschen und mit ihm zum eigentlichen Schlüssel und Hebel der J. Böhmschen Theosophie gekommen. »Das Buch«, sagt J. B., »da alle Heimlichkeit innenlieget, ist der Mensch selber: Er ist selber das Buch des Wesens aller Wesen, dieweilen er die Gleichheit der Gottheit ist, das große Arkanum lieget in ihme.« (»Theos. Sendbr.«, Nr. 20, § 3) »Wo willstu Gott suchen in der Tiefe über den Sternen? Da wirstu ihn nicht finden; suche ihn in deinem Herzen im Centro deines Lebens Geburt; da wirstu ihn finden. – Der verborgene Mensch, welcher ist die Seele (soferne die Liebe im Licht Gottes in deinem Centro aufgehet) ist Gottes eigen Wesen... wie wolltestu denn nicht Macht haben zu reden von Gott, der dein Vater ist, des Wesens du selber bist?« (»Drei Prinz.«, c. 4, § 7, 8) Und in Beziehung auf sich selbst sagt er: »Ich habe geschrieben nicht von Menschenlehre oder Wissenschaft aus Bücherlernen, sondern aus meinem eigenen Buche, das in mir eröffnet ward: als (nämlich) die edle Gleichnüs Gottes, das Buch der edlen Bildnus (zu verstehen das Ebenbild Gottes), ward mir vergönnt zu lesen, und darin habe ich mein Studieren gefunden... ich darf kein ander Buch darzu. Mein Buch hat nur drei Blätter, das sind die drei Principia von Ewigkeit... Ich kann der Welt Grund und alle Heimlichkeit darinnen finden.« (»Theos. Sendbr.«, Nr. 12, § 14, 15) »In dir sind alle drei Principia... wo willstu doch Gott suchen? Suche ihn nur in deiner Seelen, die ist aus der ewigen Natur, darinnen die göttliche Geburt stehet.« »Die Finsternis in Dir, welche sich sehnet nach dem Licht, ist das erste Principium. Des Lichtes Kraft in dir, dadurch du ohne Augen siehest im Gemüte, ist das andere Principium (die eigentliche Gottheit). Und die sehnende Kraft (die Willenskraft), so im Gemüte ausgeht[170] und an sich zeucht und sich füllet, davon der materialische Leib wächst, ist das dritte Principium.« (»Drei Prinz.«, c. 7, § 16, 26) Der Mensch ist also dem J. B. das Vorbild des Wesens der Wesen – das Wesen, woraus er alles erklärt und erzeugt. »So man redet vom Himmel und von der Geburt der Elementen, so redt man nicht von fernen Dingen, so weit von uns sind, sondern wir reden von Dingen, so in unserm Leib und Seele geschehen, und ist uns nichts näher als diese Geburt, denn wir leben und schweben darinnen als in unserer Mutter.« (Ebd., § 7) Aber J. B. macht nicht die Seele, den Willen, den Geist des Menschen als ein abgezogenes, metaphysisches Wesen, er macht den ganzen Menschen, den an den Leib gebundnen Geist zum Gott und Welt erzeugenden Prinzip. »Gleichwie der Leib die Seele gebäret, also gebären auch die sieben Geister (Qualitäten) Gottes den Sohn, und gleichwie die Seele ein sonderliches ist, wann sie geboren ist und ist doch mit dem Leibe verbunden und kann ohne den Leib nicht bestehen, also ist auch der Sohn Gottes, wann er geboren, ein sonderliches und kann doch ohne den Vater nicht bestehen.« »Der Leib bedeutet die sieben Quellgeister des Vaters (die ewige Natur), und die Seele89 bedeutet den eingebornen Sohn (den eigentlichen Gott).« (»Aurora«, c. 15, § 4, 5) »Was begreiflich ist, ist freilich überall der Zorn Gottes (das erste Prinzip), sonst wäre es nicht also hart begreiflich.« (Ebd., c. 14, § 99) »Die herbe Qualität (der ›erste Geist‹, die erste Eigenschaft der ewigen Natur) ist scharf. Daß sie aber also scharf in sich ist, das ist zu dem Ende, daß kann ein Corpus durch ihre Zusammenziehung gebildet werden, sonst bestünde die Gottheit nicht, viel weniger eine Kreatur.«(Ebd., c. 13, § 69, 70) Das harte, zusammengezogene, greifliche, d. i. körperliche Wesen des Menschen ist ihm also das erste Prinzip, das Prinzip der Finsternis oder des Feuers, im Gegensatz gegen welches sich erst das Prinzip des Lichts, der Seele entzündet, denn die Finsternis begehrt das Licht. Wenn es daher bei Spinoza heißt: Gott ist ein ausgedehntes Wesen, so heißt es dagegen[171] bei J. B.: Gott ist ein körperliches Wesen. Dies ist der wahre, einfache Sinn der oben in der Einleitung zu J. B. gegebnen abstrusen, spekulativen Entwickelung, daß die Natur notwendig zu Gott gehöre, die Natur ein Bestandteil Gottes sei, denn die Natur ist ja der Inbegriff der sinnlichen, körperlichen Wesen oder das körperliche Wesen schlechtweg. »Daraus folgt«, sagt der Böhmist Oettinger (in der zitierten Schrift, T. V, 381), »daß Leibhaftigsein eine Realität oder Vollkommenheit sei, wann sie nämlich von denen der irdischen Leiblichkeit anhangenden Mängeln gereinigt ist. Diese Mängel sind die Undurchdringlichkeit, der Widerstand und die grobe Vermischung«, d.h., Gott ist ein materielles, körperliches Wesen, aber der göttliche Leib ist der Leib, der abgezogen ist von den Bestimmungen, die den Leib zu einem wirklichen machen, ist der Leib wie er nur Gegenstand der Phantasie und des ihr zunächst liegenden Sinnes, des Auges, also ein nur optisches und phantastisches Wesen ist.

J. B. macht also nicht den Tod des Menschen, die Abstraktion, die Scheidung der Seele vom Leibe, er macht die Einheit der Seele mit dem Leibe, das Leben oder lebendige Wesen des Menschen zum Ur- und Grundwesen. Das lebendige Wesen ist aber kein ruhiges, abgeschloßnes, sondern bewegliches, sich entwickelndes, kein einfaches, sondern zweispältiges, gegensätzliches Wesen. »Wer weiß von Freuden zu sagen, der kein Leid empfunden, oder von Frieden, der keinen Streit gesehen oder erfahren?« (»Drei Prinz.«, Andeut. der Titelfigur) »Wir befinden Böses und Gutes, Leben und Tod, Freude und Leid, Liebe und Feindung Traurigkeit und Lachen... an allen Kreaturen, fürnehmlich am Menschen, welcher Gottes Gleichnüs.« (Appendix zu den »Drei Prinz.«, § 3, 4) Also ist der Gegensatz die Quelle alles, auch des göttlichen Lebens. Aber woher entspringt der Streit und Zwiespalt im Menschen? Aus der Begierde, aus der Leidenschaft. Die Begierde ist der Verlust der Freiheit und Einheit. Sie ist die Sucht nach etwas was zunächst nicht ist, wenigstens für mich, außer nur als Gegenstand der Vorstellung, als ein geistliches Wesen, als ein bloßer Schemen oder Gedanke, der aber gleich nichts ist. Aber die Begierde will eben, daß es sei; sie ist ungeistlich, materialistisch; sie will haben, besitzen, genießen. Solange ich nichts begehre, bin ich im Frieden, in der Freiheit und Gleichheit,[172] aber ich habe auch keine Qualitäten; ich bin nichts. Erst in der Begierde bekomme ich Eigenschaften, werde ich ein bestimmtes Wesen – ein hungriges, durstiges, weib-, ehr-, habsüchtiges – ein Selbst, ein Etwas; denn in der Begierde drücke ich, erst durch die Imagination, dann durch die Tat, die Eigenschaften des Begehrten mir ein. Aber eben deswegen, weil die Begierde mich versessen macht auf etwas, ist sie der Tod der Freiheit und der mit ihr identischen Seligkeit und Einigkeit – die Quelle aller Qual und Pein, aller Angst und Unruhe. Die Begierde ist »heftig, feurig, herbe, bitter, strenge«; sie hat also die primitiven Eigenschaften, die Eigenschaften der ewigen Natur; sie ist der Grund alles Wesens und Lebens. »Die Begierde macht Wesen und nicht der Wille (d. i. der Geist).« (»Sign. Rer.«, c. 2, § 7)

»Die Unruhe (der Begierde) ist aber der Sucher der Ruhe. Sie macht sich selbst zu ihrem eignen Feinde. Ihre Begierde ist nach der Lust der Freiheit und nach der Stille und Sänfte« (d. i. nach dem »Nichts als ihrer Arznei«). (Ebd., § 18) Der Mensch sehnt sich daher aus der Gefangenschaft der Begierde wieder nach Freiheit, aus dem Streit der Leidenschaft nach Ruhe und Frieden. »Sobald du das Etwas in deine Begierde einlässest und nimmst, so ist das Etwas ein Ding mit dir, so bist du schuldig, dich dessen anzunehmen als deines eignen Wesen. So du aber nichts in deine Begierde einnimmst, so bist du von allen Dingen frei und herrschst zugleich auf einmal über alle Dinge; denn du hast nichts in deiner Annehmlichkeit und bist allen Dingen ein Nichts und sind dir auch alle Dinge ein Nichts.« (»Vom übersinnlichen Leben«, § 9) Jawohl! Wer nichts mehr begehrt, der hat alles, dessen stilles, leidenschaftloses, indifferentes, unbestimmtes Gemüt ist das Vorbild des göttlichen Nichts und Alls. So hat der Mensch alle Heimlichkeiten der Gottheit und die Prinzipien aller Dinge in sich. »Der Begierde Eigenschaft gibt und macht finster Wesen, und der freien Lust Eigenschaft macht lichte Wesen, als Metalle und alles, was sich deme gleichen.« (»Sign. Rer.«, c. 3, § 16) Aber auf Licht und Finsternis laufen ja alle Dinge hinaus.

Der in diesem Paragraphen abgehandelte Gegenstand bildet den Glanzpunkt der J. B.schen Theo- oder Psychosophie. J. B. ist der tiefste unbewußte und ungebildete Psycholog. Was er namentlich über das Wesen der Begierde, über die[173] Pein der Leidenschaft, über die Lust der Freiheit und Gemütsidentität, den Affekt der Affektlosigkeit sagt, ist ebenso tief als wahr, ebenso poetisch als ergreifend – ergreifend, weil er empfindet, was er denkt und sagt, weil er den Stoff seiner Darstellungen und Schilderungen aus der Quelle aller Leiden und Freuden, aus der Empfindung, schöpft. J. B. ist der lehrreichste und zugleich interessanteste Beweis, daß die Mysterien der Theologie und Metaphysik in der Psychologie ihre Erklärung finden, daß die Metaphysik nichts andres ist »als die esoterische Psychologie«, denn alle seine metaphysischen und theosophischen Bestimmungen und Ausdrücke haben patho- und psychologischen Sinn und Ursprung. »Liebe, Sanftmut, Barmherzigkeit und Geduld in Hoffnung« – diese vier menschlichen Tugenden oder Affekte sind »Gottes vier Elemente« (»Von sechs [theosophischen] Punkten«, c. 10), die psychologischen Grundbestandteile sozusagen der Gottheit, denn in ihnen ist kein Streit, keine Qual, keine Begierde, sie sind die Affekte der göttlichen Gleichheit, Einheit und Freiheit. »Hoffart, Geiz, Neid und Zorn oder Bosheit« dagegen sind »die vier Elemente des Teufels, die urständen von der finstern Natur, als von Herbe, Bitter, Angst und Feuer« (ebd.), also die psychologischen Grundwesen, auf die sich das Dasein und Wesen dieser groben, bösen, materiellen Welt zurückführt; denn die Welt, wie sie ist, jetzt wenigstens ist, verdankt ja, wie wir sahen, dem Bösen, dem Teufel ihren Ursprung. »Das Wasser z.B. war sonst dünne gleich der Luft«, nicht »so kalt und dick« wie jetziges Wasser, »welches also tödlich ist und also wälzet und läuft.« (»Aurora«, c. 16) Nur durch des Teufels lieblose Kälte, nur durch diese psychologische »Negativität« ist es so ein kaltes, plumpes Wesen, wie es jetzt ist, geworden.

Die Anthropologie J. B.s ist zugleich auch der einzige Punkt, von dem aus wir einen Übergang zu Cartesius finden.90 Wie nämlich C. von sich ausgeht, in sich das Prinzip der Philosophie[174] findet, so geht auch J. B. von sich aus, macht sich »mein eigen Buch, das ich selber bin« (»Theos. Sendbr.«, Nr. 34, § 9), d.h. den Menschen zum Grund seines Dichtens und Denkens. Aber unabsonderlich vom Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein der Natur. Wie daher C. von sich den Blick auf die Welt wirft, in sich und in dem großen Buche der Natur die Wissenschaft sucht, so auch J. B. »Ich habe«, sagt er von sich, »einen Lehrmeister, welcher ist die ganze Natur« (»Aurora«, c. 22, § 11) – ein Ausspruch, der wie so vieles andre in B. an Paracelsus erinnert, welcher gleichfalls sagte: »Die Natur allein sei unsre Lehrmeisterin.«[175]

89

Die Bedeutung, die hier B. der Seele gibt, vindiziert er in seinen spätern Schriften gewöhnlich dem Gemüte, dem Herzen oder »Geiste der Seele«, und schreibt der Seele das erste Prinzip, das Wesen des Vaters, des Grundes des natürlichen Lebens zu.

90

Übrigens ist die Stellung, die J. B. hier hat, nicht die richtige. Am richtigsten stünde er am Schlusse dieses Bandes, denn er ist der einzige Deutsche, und seine Schule bildet die Opposition gegen Hobbes, Cartesius, Spinoza und Leibniz. Sie machte gegen das abgezogne, metaphysische und idealistische Wesen dieser Philosophen das Wesen der Sinnlichkeit, freilich nur auf mystische, phantastische Weise, geltend. So bekämpfte sie hauptsächlich »die Einfachheit« der Seele, folglich auch Gottes, denn dieser ist ja nur ein von der Seele abgeleiteter und abgezogener Begriff. »Psychologia empirica«, sagt Wolff (»Psych. Emp.«, § 7) »Theologiae naturali principia tradit.«

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 170-176.
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