§ 61. Die Idee der unendlichen Substanz

[205] »Die Ideen, die ich in mir finde, sind der Form nach, d. i. insofern, als sie nur gewisse Arten, Bestimmungen meines Denkens sind, nicht viel voneinander unterschieden; aber wenn ich auf ihren Inhalt sehe, auf das Objekt, das sie vorstellen, so zeigt sich ein gewaltiger Unterschied unter ihnen. Denn offenbar sind solche Ideen, die mir Substanzen vorstellen, viel erhabener und ihrem Inhalt oder Gegenstand nach viel reeller und vollkommener, d. i., sie enthalten mehr objektive Realität als die Ideen, die mir nur Akzidenzen vorstellen, und wieder die Idee einer unendlichen Substanz enthält mehr objektive Realität als die Ideen endlicher Substanzen. Nun ist aber doch klar, daß die wirkende und vollständige Ursache zum wenigsten ebensoviel Realität enthalten muß als ihre Wirkung? Denn wenn die Wirkung nicht ihre Realität von der Ursache empfinge woher könnte sie dieselbe bekommen? Und wie könnte die Ursache der Wirkung eine Realität geben, die sie nicht selbst in sich enthält? Es kann daher weder etwas aus nichts werden noch[205] das Vollkommnere von dem Unvollkommnen, das, was mehr Realität enthält, von dem herkommen, was weniger Realität in sich hat. Und dies gilt nicht nur von den Wirkungen, die eine eigentliche Realität haben, sondern auch von den Ideen, bei denen nur die objektive (vorgestellte) Realität berücksichtigt wird.« (Medit. III) »Je mehr objektive Realität die Ideen enthalten, desto vollkommner muß ihre Ursache sein. Und es kann sich in uns nicht die Idee oder das Bild einer Sache vorfinden, von der nicht das Original, welches alle Vollkommenheit der Idee wirklich in sich hat, in oder außer uns existiert. Die Ursache der Idee muß die Realität, die in der Idee nur eine objektive ist, wirklich in sich enthalten.« (»Princ. Phil.«, P. I, § 17, 18) »Unter allen Ideen aber, die ich habe, ist nur eine, die so erhaben ist, eine solche Unermeßlichkeit von Vollkommenheiten in sich enthält, daß ich gewiß bin, daß ich nicht ihre Ursache sein kann, da ich durchaus nicht die objektive Realität jener Idee wirklich oder in einem höhern Grade (eminenter) in mir enthalte. Diese eine Idee ist die Idee der unendlichen Substanz, Gottes. Gott ist daher die Ursache dieser Idee, nur von ihm kam sie in mich, Gott also existiert notwendig. Denn obgleich deswegen die Idee der Substanz in mir ist, weil ich selbst Substanz bin, so kann doch die Idee der unendlichen Substanz nicht aus mir kommen, da ich endlich bin sie kann nur von der wirklich unendlichen Substanz in mir hervorgebracht werden.109 Denn ich fasse[206] das Unendliche nicht etwa bloß durch die Negation des Endlichen, wie ich die Ruhe z.B. durch die Negation der Bewegung fasse, sondern durch eine positive, wahre Idee. Denn ich sehe klar ein, daß in der unendlichen Substanz mehr Realität enthalten ist als in der endlichen und daß daher gewissermaßen der Begriff des Unendlichen früher in mir ist als der Begriff des Endlichen, d.h., die Idee Gottes eher in mir ist als die meiner selbst. Denn wie könnte ich einsehen, daß ich zweifle, daß ich wünsche, d.h., daß mir etwas fehlt, daß ich nicht ganz vollkommen bin, wenn nicht die Idee eines vollkommneren Wesens in mir wäre, aus dessen Vergleichung mit mir ich meine Mängel erkennte? Die Idee Gottes, des unendlichen Wesens, da sie mehr objektive Realität als irgendeine andre enthält und höchst klar und deutlich ist, ist daher auch die allerwahrste Idee. Wenn man sich auch einbilden könnte, daß ein solches Wesen nicht existiert, als diese Idee vorstellt, so könnte man doch wenigstens sich nicht einbilden, daß die Idee davon nichts Reales darstellt. Höchst klar und deutlich ist aber auch diese Idee; denn alles, wovon ich klar und deutlich einsehe, daß es real und wahr ist, daß es Vollkommenheit in sich hat, ist ganz in ihr enthalten.« (Medit. III) »Diese Idee von Gott kann nun aber, wie gesagt, nur von Gott selbst in mich kommen, und Gott ist also. Denn ich habe sie weder aus den Sinnen geschöpft, weil keine Bestimmung Gottes den Bestimmungen der äußern oder körperlichen Objekte ähnlich ist und diese daher zu den Attributen Gottes nicht das Muster hergeben können, noch habe ich sie durch die Erweiterung anderer Ideen gewonnen – denn woher könnte in mich die Fähigkeit kommen, alle endlichen Perfektionen zu erweitern, d.h., größere und erhabnere Vollkommenheit[207] zu denken, wenn nicht die Idee eines vollkommneren Wesens, nämlich Gottes, in mir wäre? – noch habe ich sie erdichtet; denn ich kann durchaus nichts von ihr hinwegnehmen noch etwas hinzusetzen. Sie ist mir daher eingeboren, wie mir die Idee meiner selbst eingeboren ist. Sie ist das Siegel Gottes, das er mir bei der Erschaffung eingedrückt hat.« (Resp. III, p. 10, V, p. 65; Medit. III)

»Daß die Idee von Gott nicht von uns gemacht oder erdichtet ist und kein chimärisches, sondern ein ewiges und wirkliches Wesen vorstellt und daher Gott notwendig existiert, geht daraus besonders deutlich hervor, daß unter allen Ideen es allein die Idee von Gott ist, die nicht bloß mögliche und zufällige, sondern schlechthin notwendige und ewige Existenz enthält. Daß die ewige Existenz zu dem Wesen der unendlichen Substanz gehört, sehe ich so klar und deutlich ein, als daß das, was ich von irgendeiner Zahl oder Figur beweise, zum Wesen dieser Zahl oder Figur gehört. Was die Klarheit und Gewißheit dieses Begriffs von der Einheit des Wesens und der Existenz in Gott trübt, liegt allein darin, daß wir bei allen Dingen gewohnt sind, die Existenz vom Wesen zu unterscheiden und daher auch Glauben, daß sie auch vom Wesen Gottes abgetrennt und Gott darum als nicht existierend gedacht werden könne. Bei genauerer Erwägung wird es jedoch offenbar, daß sich die Existenz ebensowenig vom Wesen Gottes absondern läßt als von dem Wesen des Dreiecks die Größe seiner drei zweien Rechten gleichen Winkel oder von der Idee des Berges die des Tales, so daß Gott, das höchst vollkommne Wesen, ohne Existenz, d. i. ohne eine Vollkommenheit, zu denken, kein geringerer Widerspruch ist, als sich einen Berg ohne Tal zu denken. Daraus, daß ich Gott nur als existierend denken kann, folgt daher, daß die Existenz von Gott unabsonderlich ist und er also wirklich existiert, aber nicht etwa deswegen, weil mein Denken dies bewirkt und macht, daß etwas so und nicht anders ist, sondern im Gegenteil, weil die Notwendigkeit der Existenz Gottes selbst mich zwingt und bestimmt, so und nicht anders zu denken; denn es steht nicht in meinem Belieben, Gott ohne Existenz, das absolut vollkommene Wesen ohne eine Vollkommenheit zu denken, wie es in meinem Belieben steht, ob ich mir irgendein eingebildetes Ding, z.B. ein Pferd, ohne oder[208] mit Flügeln vorstellen will.« (Medit. V; »Princ. Phil.«, P. I, § 14)

109

Sosehr C. sich zu beweisen bemüht, daß die Idee Gottes nicht vom Menschen abstammen könne, so verrät er selbst doch sehr deutlich den menschlichen Ursprung und Sinn derselben. So sagt er z B. »Diss. de Meth.« IV: »Ich sah ein, daß weder Zweifeln noch Unbeständigkeit noch Traurigkeit und dergleichen Gott zukommt, denn ich selbst wäre gern davon frei gewesen, egomet ipse illis libenter caruissem.« Aber gilt das nicht ebenso von den übrigen Prädikaten? Bin ich nicht ebenso gern frei von Abhängigkeit, Sterblichkeit, Endlichkeit? Was ist also das unendliche Wesen anders als das »egomet ipse« ohne alle die Beschaffenheiten oder Schranken, deren ich selbst gern entledigt bin? Sehr schwach ist es, wenn C. dem Gassendi zugibt, daß in dem Menschen ein Vermögen sei, alle menschlichen Vollkommenheiten so hoch zu steigern, daß sie als übermenschliche erscheinen, »ut plus quam humanae esse cognoscantur«, und dann doch dieses Vermögen als einen Beweis für die Existenz eines solchen übermenschlichen Wesens angesehen wissen will. Freilich ist dieser Beweis für den C. auf seinem Standpunkt eine Notwendigkeit, denn wenn die Idee Gottes, d.h. des von allen Schranken der Wirklichkeit und Sinnlichkeit abgezogenen Wesens, nur ein Gedanke, so ist auch der Geist ohne Körper nur ein Gedanke, so ist überhaupt das ganze c Gebäude ohne Fundament und Realität. wenn Gott nicht ist, so ist notwendig, auf dem Standpunkt nämlich der Gottesidee oder des Gottesglaubens, alles nichts, denn Gott ist ja alle Realität, alles Wesen zusammengefaßt in ein Wesen – das Wesen der Einbildungskraft.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 205-209.
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