§ 64. Übergang zur Naturphilosophie Descartes'

[215] Für den Geist, der den Körper als ein nicht zu sich Gehöriges von sich ausscheidet und in dieser Absonderung und Unterscheidung sich als Geist erfaßt, ist gerade die Natur das interessanteste Objekt seiner Erkenntnis; denn eben in[215] dieser Unterscheidung fixiert er sie als ein wesentliches Objekt, zieht sie alle seine Aufmerksamkeit auf sich, erweckt sie in ihm die brennende Begierde, sie kennenzulernen. Gerade dadurch ja, daß er die Natur im Gegensatze nur gegen sich erfaßt und sich wieder nur im Gegensatze gegen sie, ist die Betrachtung und Erforschung der Natur ein Interesse seines Wesens selber.112 C. kann daher auch nicht geschwind genug an die Naturphilosophie kommen, nur in ihr ist es erst ihm wohl, sie sein angelegentlichstes Interesse. Die Natur ist aber für den Geist auf diesem Standpunkte, wo sie nur als das Andere, als der Gegensatz des Geistes bestimmt ist, nur als Materie Objekt. Substantialität, Wirklichkeit oder Realität hat für diesen Geist nur das Gewisse, das Gewisse ist ihm das Wahre, d. i., wahr, was er klar und deutlich einsieht oder vorstellt. Nicht die riech-, schmeck-, tast- und sichtbare, kurz, nicht die sinnlich bestimmte, die fühlbare Natur ist ihm die Substantielle Natur – denn das Gefühl ist dunkel, undeutlich, un gewiß –, sondern allein die klar und deutlich vorgestellte, die gewisse, die evidente Natur ist für ihn die wirkliche Natur. Diese abstrakte, von den sinnlichen Qualitäten abgesonderte, nur dem Geiste gegenständliche, evidente Natur ist aber eben die Materie oder die Natur als Materie, und zwar als eine Materie, deren wesentliche Bestimmung die Ausdehnung ist. Die Materie ist zwar das direkt dem Geiste Entgegengesetzte, denn sie macht das Nichtgeistige zum Nichtgeistigen, den Körper[216] zu dem, was er ist, seine wesentliche Bestimmung ist allein die Ausdehnung; aber doch ist gerade diese Betrachtungsweise der Natur als einer bloßen Materie und der Materie als bloßer Ausdehnung die Anschauung, welche mit dem selbstgewissen Geiste identisch oder doch am wenigsten ihm entfremdet ist, am nächsten ihm liegt, ihn nicht von sich entfernt, die Anschauung, in der der Geist bei und in sich selbst bleibt, in dem Bewußtsein und der Gewißheit seiner selbst, in der Absonderung und Abgezogenheit vom Sinnlichen.113 Denn die Materie als bloße Ausdehnung ist selbst abgesondert von den sinnlichen Bestimmungen, sie ist nur Gegenstand des Geistes, sie ist ein klarer und deutlicher Begriff und als dieser eine Bejahung des Geistes, Ausdruck seiner Selbstgewißheit. Die Anschauung der Materie ist zwar eine Entäußerung des Geistes, aber sie ist keine Entfremdung, sie sondert den Geist nicht von sich selbst ab, sie stürzt ihn nicht aus dem klaren Himmel seiner Selbstgewißheit in die Nacht der Sinnenvorstellungen. Diese gewisse und evidente, den Geist nicht sich entfremdende, nicht aus dem Heiligtume seiner Selbstgewißheit reißende, nicht von seiner Absonderung vom Sinnlichen abziehende Anschauung der Natur ist aber eben die lediglich mathematische oder quantitative Anschauung derselben114; denn in dieser ist die Natur nur als Materie, als Ausdehnung Objekt und nur als diese reell.

C. sagt selbst, daß er bei seiner Naturphilosophie keine andere Materie zugrunde lege als die, welche Gegenstand der Geometrie ist, keine anderen als mathematische Prinzipien bei der Physik anwende. »Plane profiteor, me nullam aliam rerum corporearum materiam agnoscere, quam illam omnimode divisibilem, figurabilem et mobilem, quam Geometrae quantitatem vocant, et pro objecto suarum demonstrationum assumunt, ac nihil plane in ipsa considerare praeter istas divisiones, figuras et motus.«[217] (»Princ. Phil.«, P. II, § 64) Darüber, daß diese Materie, obwohl sie Abstraktion ist, Realität hat, keine Einbildung des Geistes ist, erklärt sich C. (»R. de C. ad C. L. R. Ep.«, p. 147) Die Körper werden daher eigentlich nicht durch die Sinne oder die Imagination, sondern allein durch die Intelligenz, den Verstand wahrgenommen; d. i., das wahrhaft Existierende, das wahrhaft Objektive in ihnen ist nur das, was vom Verstande ergriffen wird, was und wiefern es Objekt desselben ist. »Mihi nunc notum, ipsamet corpora non proprie a sensibus vel ab imaginandi facultate, sod a solo intellectu percipi, nec ex eo percipi, quod tangantur aut videantur, sed tantum ex co, quod intelligantur.« (Medit. II)

112

Wie Bacon und Hobbes hat aber auch C. zugleich ein praktisches Interesse, nämlich das Heil der Menschheit durch die Erkenntnis der Natur zu fördern, die Leiden der Menschheit nicht durch supranaturalistische Gnadenmittel, sondern durch natürliche Heilmittel zu heben. Er sagt – »Höret es, ihr Seelsorger!« – »Animus enim adeo a temperamento et organorum corporis dispositione pendet, ut si ratio aliqua possit inveniri, quae homines sapientiores et ingeniosiores reddat quam hactenus fuerunt, credam illam in Medicina quaeri debere«, und setzt dann noch hinzu, daß die Befreiung von unzähligen sowohl leiblichen als geistigen Übeln nur von der Erkenntnis der Natur abhängt. (»Diss. de Meth.«, VI, p. 53)

113

Vergl. hiermit die oben angeführte Stelle von Bacon von Verulam über die Quantität.

114

»Quorum (nämlich der Zahlen, Figuren, kurz, der mathematischen Gegenstände) veritas adeo aperta est et naturae meae consentanea.« (Medit. V)

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 215-218.
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