§ 73. Die verschiedenen Ansichten über den Ursprung der Ideen

[258] Über den Ursprung der Ideen und die Art und Weise, wie wir die materiellen Dinge wahrnahmen, gibt es verschiedene Ansichten. Die verbreitetste ist die der Peripatetiker, nämlich daß die äußeren Objekte Bilder von sich ausströmen, die ihnen gleichen und durch die äußern Sinne bis zum Gemeinsinn gebracht werden. Allein, diese Bilder können von keiner andern Beschaffenheit sein, als die Körper selbst sind; sie sind also kleine Körperchen; als diese können sie sich aber nicht durchdringen, sie müssen sich daher zerbrechen und zerreiben und können so die Objekte nicht sichtbar machen. Man kann von einem einzigen Punkte aus eine Menge Gegenstände übersehen; es müßten sich also wenn jene Ansicht wahr wäre, die Bilder von allen diesen Objekten auf einen Punkt vereinen, aber das erlaubt nicht ihre Undurchdringlichkeit. Auch läßt sich nicht einsehen, wie die Körper ohne merkliche Verminderung ihrer Masse nach allen Seiten hin Bilder von sich ausströmen könnten. (Liv. III, P. II, ch. 2)

Die zweite Ansicht ist, daß unsre Seelen die Macht haben, die Ideen von den Dingen, an die sie denken wollen, hervorzubringen, daß sie durch die Eindrücke, welche die Objekte auf den Körper machen, obgleich jene keine den sie verursachenden Objekten ähnliche Bilder seien, zur Hervorbringung derselben angeregt werden. Allein die Ideen sind [258] reelle Wesen, weil sie reelle Eigenschaften haben, durch die sie voneinander unterschieden sind, und ganz unterschiedene Dinge vorstellen. Sie sind überdies geistige und von den Körpern, die sie vorstellen, sehr unterschiedene Wesen und daher unstreitig edlerer Natur als die Körper selbst; denn die intelligible Welt ist vollkommner als die materielle. Wenn also die Seele die Kraft hätte, die Ideen hervorzubringen, so hätten die Menschen die Macht, viel edlere und vollkommnere Wesen hervorzubringen, als die von Gott erschaffene Welt ist. Wenn auch die Ideen wirklich so gar miserable und elende Dinge wären, als man es sich gewöhnlich vorstellt, so sind sie doch immer Wesen, und zwar geistige Wesen. Und die Menschen können sie daher nicht hervorbringen, weil ihnen die Schöpfungskraft mangelt. Denn die Hervorbringung der Ideen in dem Sinne, wie man sie gewöhnlich versteht, ist eine wirkliche Erschaffung. Das Anstößige und Verwegene dieser Vorstellung wird nicht dadurch gemildert, daß man sagt, die Produktion der Ideen setzt etwas voraus, die Erschaffung aber nichts; denn es ist ebenso schwer, etwas aus nichts hervorzubringen als aus einem Dinge, das nichts zur Hervorbringung desselben beitragen kann. Ja, die Hervorbringung aus einem vorhandenen Stoff, der zu einer ganz andern Gattung von Wesen gehört als das Hervorzubringende, ist viel schwieriger als die Erschaffung aus nichts; denn bei dieser darf man nicht erst wie bei jener einen untauglichen Stoff vernichten. Da nun aber die Ideen geistig sind, so können sie nicht aus den materiellen Eindrücken oder Bildern, die im Gehirn sind und in keiner Beziehung zu den Ideen stehen, hervorgebracht werden. Selbst wenn die Idee keine Substanz wäre, so wäre es daher doch unmöglich, aus einem Materiellen eine geistige Idee zu produzieren. Gesetzt aber, der Mensch hätte auch die Fähigkeit, die Ideen hervorzubringen, so würde er doch von diesem Vermögen keine Anwendung machen können; denn er kann sich nur eine Vorstellung von einer Sache machen, wenn er sie schon vorher kennt, d.h., wenn er schon die Idee von ihr hat, die nicht von seinem Willen abhängt. Die Menschen geraten übrigens auf diese irrige Meinung vom Ursprung der Ideen durch einen übereilten Schluß. Weil sie nämlich die Ideen von den Objekten ihrem Geiste gegenwärtig haben, sobald sie es wollen, so schlichen sie[259] ohne weiteres daraus, daß der Wille die wahre Ursache davon ist, während sie doch daraus schließen sollten, daß zwar nach der Ordnung der Natur in der Regel ihr Wille dazu gehört, um die Ideen gegenwärtig zu haben, aber nicht, daß der Wille die ursprüngliche und wahre Ursache ist, die sie dem Geiste vergegenwärtigt oder gar aus nichts hervorbringt. (Ebd., ch. 3) Die dritte Ansicht ist die, daß alle Ideen mit uns erschaffen oder uns angeboren sind. Da aber der Geist eine unzählige Menge von Ideen hat und Gott auf eine viel leichtere und einfachere Weise denselben Zweck erreichen konnte, so ist es nicht wahrscheinlich, daß Gott eine solche Menge von Ideen zugleich mit dem Geiste des Menschen erschuf. (Ebd., ch. 4) Die vierte Ansicht ist die, daß der Geist zur Wahrnehmung der Objekte nichts weiter bedarf als sich selbst, daß er in der Beschauung seiner selbst und seiner Vollkommenheiten alle Dinge, die außer ihm sind, erkennen kann. Die diese Ansicht haben, glauben, daß die höhern Wesen die niedern auf eine viel erhabnere und edlere Weise, als sie in sich selbst sind, enthalten und daß daher die Seele gleichsam eine intelligible Welt sei, die in sich den gesamten Inhalt der materiellen oder sinnlichen Welt enthält, ja, noch unendlich mehr. Allein, dieser Gedanke ist zu vermessen. Es ist nur die Eitelkeit unsrer Natur, unsre Begierde nach Unabhängigkeit und das Streben, dem alle Wesen in sich enthaltenden Wesen zu gleichen, welches unsern Geist verwirrt und die verwegne Einbildung in uns erzeugt, daß wir besitzen, was wir nicht haben. Denn erschaffene Geister können in sich weder das Wesen noch die Existenz der Dinge schauen. Das Wesen derselben können sie nicht in sich selbst schauen, weil sie zu beschränkt sind und daher nicht alle Wesen enthalten gleich Gott, der das allgemeine Wesen ist oder schlechtweg der, der ist. Weil aber der menschliche Geist alle Dinge, und zwar unendliche Dinge, erkennen kann und sie nicht enthält so sieht er sicher ihr Wesen nicht in sich. Denn der Geist sieht nicht nur nacheinander jetzt diese, dann eine andere Sache, et nimmt auch wirklich das Unendliche wahr, wenn er es gleich nicht begreift. Da aber der Geist selbst nicht unendlich ist und nicht unendliche Modifikationen in derselben Zeit in sich haben kann, so kann er das nicht in sich schauen, was er selbst nicht ist. Ebensowenig als das Wesen[260] kann der unendliche Geist aber die Existenz der Dinge in sich selbst schauen; denn sie hängt nicht von seinem Willen ab, und es können dem Geiste die Ideen der Dinge gegenwärtig sein, ohne daß sie doch selbst existieren. (Ebd., ch. 5)

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 258-261.
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