§ 74. Gott, das Prinzip aller Erkenntnis

[261] Es bleibt also nur noch die Ansicht übrig, daß wir alle Dinge in Gott schauen. Gott enthält die Ideen aller erschaffnen Wesen in sich, denn ohne Erkenntnis und Idee konnte er die Welt nicht erschaffen; er enthält daher alle Wesen, selbst die materiellsten und irdischsten, auf eine höchst geistige und uns unbegreifliche Weise in sich. Gott sieht daher auch in sich selbst alle Wesen, indem er seine eigene Vollkommenheiten, die sie ihm vorstellen, beschaut. Er sieht aber in sich nicht nur ihr Wesen, sondern auch ihre Existenz, denn nur durch seinen Willen existieren sie. Gott ist ferner auf die allerinnigste Weise durch seine Gegenwart mit unsrer Seele vereint, so daß man ihn den Ort der Geister nennen kann wie den Raum den Ort der Körper. Der menschliche Geist kann darum das in Gott schauen, was in ihm die erschaffnen Wesen vorstellt, weil es höchst geistig, höchst erkennbar (ideal) und dem Geiste selbst unmittelbar nah und gegenwärtig ist. Für diese Ansicht spricht die ganze Ökonomie der Natur. Gott bewirkt nie durch schwierige und verwickelte Mittel, was er durch ganz leichte und einfache bewerkstelligen kann; denn Gott tut nichts umsonst und ohne Grund. So bringt Gott bloß vermittelst der Ausdehnung allein alle bewundernswürdigen Wirkungen in der Natur, selbst das Leben und die Bewegungen der Tiere hervor. Da nun aber Gott bloß dadurch den Geistern alle Dinge sehen lassen kann, daß er sie das sehen läßt, was in ihm Beziehung auf diese Dinge hat und sie darstellt, so ist es nicht wahrscheinlich, daß Gott anders handelt und etwa soviele unzählige Ideen hervorbringt, als es erschaffene Geister gibt. Übrigens sehen die Geister nicht deswegen etwa auch das Wesen Gottes, weil sie alle Dinge in Gott schauen. Denn Gott ist vollkommen, aber was sie in Gott sehen, nämlich teilbare, geformte Materie und dergleichen Dinge sind höchst unvollkommen; denn in Gott selbst ist[261] nichts Geteiltes oder Geformtes; er ist ganz Wesen, weil er unendlich ist und alles enthält, er ist kein besonderes Wesen. Für diese Ansicht spricht ferner, daß sie uns in die größte Abhängigkeit von Gott versetzt, denn wir erkennen dadurch, daß es Gott selbst ist, der die Philosophen in ihren Erkenntnissen erleuchtet, die die undankbaren Menschen natürliche nennen, ob sie gleich vom Himmel kommen, daß er der allgemeine Lehrer der Menschen, das wahre Licht des Geistes ist. (Ebd., ch. 5 u. 6)

Am meisten aber begründet diese Ansicht die Art und Weise, wie der menschliche Geist alle Dinge wahrnimmt. Es ist ausgemacht, daß, wenn wir an irgendeine besondere Sache denken wollen, wir zuerst den Blick auf alle Dinge werfen und dann erst das Objekt uns vergegenständlichen, über welches wir denken wollen. Wir könnten nun aber nicht ein besonderes Wesen zu sehen oder zu betrachten verlangen, wenn es uns nicht schon Gegenstand wäre, wenngleich nur im allgemeinen und dunkel. Dieses Verlangen daher, alle Dinge nacheinander zu betrachten, ist ein sicherer Beweis, daß alle Wesen unserm Geiste gegenwärtig sind. Wie könnten nun aber dem Geiste alle Dinge gegenwärtig sein, wenn ihm nicht Gott gegenwärtig wäre, d.h. das Wesen, das alle Wesen in seinem einfachen Wesen enthält? Selbst allgemeine Ideen wie z.B. die Gattung, die Art könnte sich der Geist nicht vorstellen, wenn er nicht alle Wesen in einem Wesen schaute. Denn da jedes erschaffne Wesen nur ein besondres Wesen ist, so kann man nicht sagen, daß man etwas Erschaffnes zu seinem Objekte hat, wenn man z.B. ein Dreieck im allgemeinen, wie es nämlich nicht ein einzelnes oder besonderes ist, sondern in seinem Begriffe alle Dreiecke enthält, betrachtet. (Ebd., ch. 6) Endlich der erhabenste, der schönste, der stärkste, der erste oder unabhängigste Beweis von der Existenz Gottes ist die Idee des Unendlichen. Denn ob wir gleich keinen Begriff vom Unendlichen haben, so haben wir doch unbestreitbar eine, und zwar sehr deutliche, Idee von Gott, eine Idee, die wir nur durch unsre Verbindung mit ihm haben; denn die Idee des unendlich vollkommnen Wesens ist unmöglich etwas Erschaffnes. Der Geist hat aber nicht nur die Idee des Unendlichen, er hat sie sogar vor der des Endlichen. Denn die Idee des unendlichen Wesens erhalten wir allein dadurch,[262] daß wir bloß das Wesen denken, abgesehen davon, ob es endlich oder unendlich ist. Um aber die Idee des Endlichen zu bekommen, müssen wir notwendig etwas von diesem allgemeinen Begriffe des Wesens hinwegnehmen, er ist folglich früher als der Begriff des endlichen Wesens. Der Geist nimmt daher jedes Ding nur in der Idee des Unendlichen wahr, und weit gefehlt, daß er diese Idee aus der dunklen Zusammenfassung aller seiner Ideen von den besondern Wesen bildete, so sind vielmehr alle diese besonderen Ideen nur eingeschränkte Vorstellungen vom Unendlichen, die an der allgemeinen Idee des Unendlichen teilhaben, gleichwie Gott selbst sein Wesen nicht von den Kreaturen hat, sondern alle besondere Wesen an dem göttlichen Sein nur auf beschränkte Weise teilhaben. (Ebd., ch. 6)

Die Ideen haben Wirksamkeit. Sie wirken auf den Geist, sie erleuchten ihn, sie machen ihn glücklich oder unglücklich durch die angenehmen oder unangenehmen Vorstellungen, mit welchen sie ihn affizieren. Nun kann aber nichts unmittelbar im Geiste wirken, wenn es nicht über ihm steht; Gott allein also kann auf ihn wirken, und alle unsre Ideen befinden sich daher notwendig in der wirksamen Substanz der Gottheit, die allein auf Intelligenzen wirken und sie bestimmen kann. (Ebd., ch. 6) Es ist nicht möglich, daß etwas andres als Gott selbst der Hauptzweck seiner Handlungen ist Nicht nur unsere natürliche Liebe, d. i. der Glückseligkeitstrieb, den er unserm Geiste eingepflanzt, sondern auch unsre Erkenntnis hat daher Gott zu ihrem Ziele; denn alles, was von Gott kommt, kann nur für ihn sein. Wenn Gott einen Geist erschüfe und ihm zur Idee oder zum unmittelbaren Objekte seiner Erkenntnisse die Sonne gäbe, so würde ihn Gott für die Sonne, nicht für sich machen. Nur insofern kann daher Gott die Erkenntnis seiner Werke zum Ziele eines Geistes machen, als diese Erkenntnis zugleich eine Erkenntnis Gottes in irgendeiner Weise ist. Wir könnten darum gar nichts schauen, wenn wir nicht Gott in irgendeiner Weise schauten, wie wir gar kein besonderes Gut lieben könnten, wenn wir nicht das allgemeine Gut liebten. Wir sehen alle Dinge nur durch unsre natürliche Erkenntnis von Gott. Alle Unsre besondern Ideen, die Ideen der erschaffnen Wesen sind nur Einschränkungen von der Idee des Schöpfers, gleichwie alle unsere Willensneigungen zu den[263] Kreaturen nur Bestimmungen und Einschränkungen von unserer Neigung zu Gott sind. (Ebd.)

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 261-264.
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