§ 1. Vorläufige Beschreibung des Wissens vermittelst einer Construction desselben

[3] Vorläufig nennen wir diese Beschreibung, weil durch sie nicht etwa der Begriff des Wissens erschöpft, sondern nur diejenigen Merkmale in demselben nachgewiesen werden sollen, deren wir für unseren gegenwärtigen Zweck bedürfen. Die Frage sonach, mit welcher man gleich den Anfang unserer Rede unterbrechen könnte, von welchem Wissen redet ihr denn, und in welchem Sinne bedient ihr euch dieses vieldeutigen Wortes, käme hier zur Unzeit. Wir verstehen an diesem Orte unter demselben dasjenige, was wir sogleich angeben werden, und durchaus nichts Anderes, und bedienen uns dieses Wortes in dem Sinne, der aus dem Folgenden hervorgehen wird.


Beschreibe einen beliebigen Winkel; – würden wir dem Leser zurufen, wenn wir uns mit demselben im Gespräche befinden. – Schliesse nun diesen also beschriebenen Winkel mit einer dritten geraden Linie. Nimmst du wohl an, dass[3] derselbe Winkel noch mit einer oder mehreren anderen (d. i. mit irgend einer längeren oder kürzeren) Linien habe geschlossen werden können ausser der, mit der du ihn wirklich geschlossen hast? – Wenn er, wie wir erwarten, darauf antwortet, dass er dies keinesweges annehme, so werden wir ihn weiter fragen, ob er dies nur für seine Meinung, sein unvorgreifliches, einer weiteren Berichtigung sich allerdings bescheidendes Gutachten halte, oder ob er es zu wissen, ganz gewiss und sicher zu wissen glaube. Bejahet er diese Frage, wie wir gleichfalls erwarten, so werden wir ihn weiter fragen, ob er dafür halte, dass der ausgesprochene Fall nur bei diesem bestimmten Winkel, der ihm im Construiren nun eben so ausfiel, wie er ihm ausfiel, und bei diesen bestimmten einschliessenden Seiten, die ihm ebenfalls nun gerade so ausfielen, stattfinde, und ob etwa andere mögliche Winkel zwischen anderen möglichen Seiten durch mehrere dritte Seiten, ausser Einer, möchten geschlossen werden können; ferner, nachdem er hierüber sein Urtheil abgegeben, ob er glaube, dass nur ihm für seine Person die Sache also erscheine oder dass schlechthin alle vernünftigen Wesen, die nur seine Worte verstehen, hierin nothwendig seiner Ueberzeugung seyen; endlich, ob er über diese beiden in Frage gestellten Puncte eben nur zu meinen, oder entschieden etwas zu wissen glaube. Antwortet er, wie wir erwarten – denn sollte eine einzige der hier zu ertheilenden Antworten anders ausfallen, als wir sie voraussetzen, so müssten wir freilich, so lange sein Zustand derselbe bleibt, alle weitere Unterhaltung mit dem Leser aufgeben; mit welchem Rechte, kann nur derjenige beurtheilen, der die Fragen richtig beantwortet hat – antwortet er, dass schlechthin keiner unter den unendlichen möglichen Winkeln, eingeschlossen in die unendlichen möglichen Seiten, mit anderen, ausser einer Einigen möglichen dritten Seite geschlossen werden könne, dass schlechthin jedes vernünftige Wesen derselben Ueberzeugung seyn müsse, und dass er der absoluten Gültigkeit des ausgesprochenen Satzes, beides sowohl von den unendlich möglichen Winkeln, als für die unendlich mögliche[4] Vernunftwesen, schlechthin sicher sey; so werden wir mit ihm weiter folgende Betrachtungen anstellen.

Er versichert sonach an dem ausgesprochenen Vorstellen ein Wissen zu haben, eine Stetigkeit, Festigkeit und Unerschütterlichkeit des Vorstellens, auf der er unwandelbar ruhe, und unwandelbar zu ruhen sich verspreche. Worauf ruhet denn nun eigentlich dieses Wissen; welches ist dieser feste Standpunct, dieses unwandelbare Object desselben?

Zuvörderst: – Der Leser hatte eben einen bestimmten Winkel von einer bestimmten Summe von Graden durch bestimmte Seiten von bestimmter Länge errichtet, zog darauf ein für allemal die dritte Seite, und sagte in diesem Ziehen ein für allemal aus, dass nach ins unendliche fortgesetzten Proben, eine andere zu ziehen, doch immer nur dieselbe werde wiederholt werden können. Mithin musste er in dem diesmaligen Ziehen gar nicht bloss das diesmalige, sondern das Ziehen einer Linie unter diesen Bedingungen, d. i. um diesen bestimmten Winkel zu schliessen, überhaupt und schlechthin in seiner unendlichen Wiederholbarkeit, mit Einem Blicke zu übersehen meinen und wirklich übersehen, wenn es mit seiner Behauptung eines Wissens Grund haben soll. Er musste auf das diesmalige Ziehen, als diesmaliges, überhaupt gar nicht sehen. Ferner: der ausgesagte Satz sollte nicht nur für diesen bestimmten, ihm vorliegenden Winkel, sondern schlechthin für die unendlich möglichen Winkel gelten, behauptete er zu wissen; er musste demnach auf das Ziehen einer Linie, um diesen Winkel zu schliessen, durchaus nicht, sondern überhaupt und schlechthin auf das Ziehen einer Linie, um überhaupt einen Winkel zu schliessen, sehen, und dasselbe in seiner möglichen unendlichen Verschiedenheit mit Einem Blicke übersehen, wenn es mit seiner Behauptung des ausgesprochenen Wissens Grund haben soll. Ferner sollte der ausgesagte Satz nicht nur für ihn, sondern schlechthin für jedes vernünftige Wesen gelten, welches nur die Worte, mit denen er ausgedrückt ist, verstände; sonach musste der Leser durchaus nicht auf sich, als diese Person, noch auf sein eigenes persönliches Urtheil, sondern auf das Urtheil aller Vernünftigen sehen, und dasselbe[5] mit Einem Blicke übersehen, aus seiner Seele heraus in die Seele aller vernünftigen Wesen hineinsehen, wenn es mit seiner Behauptung des ausgesprochenen Wissens Grund haben soll. Endlich, indem er, dieses Alles zusammengefasst, zu wissen behauptet, sonach in alle Ewigkeit nicht anders zu urtheilen sich verspricht, setzt er sein in diesem Augenblicke gefälltes Urtheil, als Urtheil für alle Zukunft sowohl, als für alle Vergangenheit, wenn in ihr über diesen Gegenstand hätte geurtheilt werden sollen, fest; er betrachtet sonach sein Urtheil gar nicht als ein in diesem Augenblicke gefälltes, sondern übersieht sein und aller vernünftigen Wesen Urtheil über diesen Gegenstand schlechthin in aller Zeit, d. i. absolut zeitlos, wenn es mit der Behauptung des ausgesprochenen Wissens Grund haben soll. Mit einem Worte: der Leser schreibt sich zu eine Uebersicht und ein Auflassen alles Vorstellens – versteht sich in Beziehung auf den Gegenstand, an welchem wir es erwiesen haben – schlechthin mit Einem Blicke.

Nun verhindert uns nichts, davon zu abstrahiren, dass in dem gewählten Beispiele es gerade das Vorstellen über die Linie zwischen zwei Puncten war, welches mit dem Einen Blicke umfasst wurde; und demzufolge als Resultat unserer Untersuchung den bloss formalen Satz aufzustellen: es giebt, falls der Leser unsere obigen Fragen beantwortet hat, wie wir es voraussetzten, für denselben ein Wissen, und dieses Wissen ist das Auffassen eines gewissen Vorstellens (oder, wie wir lieber sagen, der Vernunft; welches Wort indessen hier nicht mehr bedeuten soll, als es dem Zusammenhange zufolge bedeuten kann) in seiner Gesammtheit schlechthin mit Einem Blicke. Nichts verhindert uns, sage ich, diese Abstraction zu machen, wenn wir nur nicht etwa vermittelst derselben unser Resultat willkürlich erweitern, sondern gänzlich unentschieden lassen, ob es bloss den zum Beispiel untergelegten Gegenstand eines Wissens, oder ausser ihm auch noch mehrere gebe.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 2, Berlin 1845/1846, S. 3-6.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus dem Jahre 1801
Darstellung Der Wissenschaftslehre Aus Dem Jahre 1801 (Paperback)(German) - Common