Als Buch bei Amazon
Fünfte Vorlesung.
Prüfung der Rousseauschen Behauptungen über den Einfluss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit.

[335] Für Entdeckung der Wahrheit ist die Bestreitung der entgegengesetzten Irrthümer von keinem beträchtlichen Gewinn. Ist nur einmal die Wahrheit von ihrem eigenthümlichen Grundsatze durch richtige Folgerungen abgeleitet; so muss alles, was derselben widerstreitet, nothwendig, auch ohne ausdrückliche Widerlegung, falsch seyn; und so wie man den ganzen Weg übersieht, den man gehen musste, um zu einer gewissen Kenntniss zu kommen: so erblickt man auch leicht die Nebenwege, die von ihm ab auf irrige Meinungen führen, und wird gar leicht im Stande seyn, jedem Irrenden ganz bestimmt den Punct anzugeben, von welchem aus er sich verirrte. Denn jede Wahrheit kann nur aus Einem Grundsatze abgeleitet werden. Welches dieser Grundsatz für jede bestimmte Aufgabe sey, hat eine gründliche Wissenschaftslehre darzulegen. Wie aus jenem Grundsatze nun weiter gefolgert werden solle, wird durch die allgemeine Logik vorgeschrieben, und so lässt denn der wahre Weg sowohl, als der Irrweg sich leicht entdecken.

Aber die Anführung entgegengesetzter Meinungen ist von grossem Gewinn für die deutliche und klare Darstellung der gefundenen Wahrheit. Durch Vergleichung der Wahrheit mit den Irrthümern wird man genöthigt, besser auf die unterscheidenden Merkmale beider aufzumerken und sie sich mit schärferer Bestimmtheit und in grösserer Klarheit zu denken. – Ich bediene mich dieser Methode, um Ihnen heute eine kurze und klare Uebersicht dessen zu geben, was ich Ihnen bisher in diesen Vorlesungen vorgetragen habe.

Ich habe die Bestimmung der Menschheit gesetzt in den[335] beständigen Fortgang der Cultur und die gleichförmig fortgesetzte Entwickelung aller ihrer Anlagen und Bedürfnisse; und ich habe dem Stande, der über den Fortgang und die Gleichförmigkeit dieser Entwickelung zu wachen hat, einen sehr ehrenvollen Platz in der menschlichen Gesellschaft angewiesen.

Dieser Wahrheit hat niemand bestimmter und mit scheinbareren Gründen und kräftigerer Beredsamkeit widersprochen, als Rousseau. Ihm ist das Fortrücken der Cultur die einzige Ursache alles menschlichen Verderbens. Nach ihm ist kein Heil für den Menschen als in dem Naturstande: und – was denn in seinen Grundsätzen ganz richtig folgt – derjenige Stand, der den Fortgang der Cultur am meisten befördert; der Gelehrtenstand, ist nach ihm die Quelle sowohl, als auch der Mittelpunct alles menschlichen Elends und Verderbens. –

Einen solchen Lehrsatz trägt ein Mann vor, der seine geistigen Anlagen selbst bis zu einem sehr hohen Grade ausgebildet hatte. Mit aller Uebermacht, die diese seine vorzügliche Bildung ihm gab, arbeitet er, um wo möglich die gesammte Menschheit von der Richtigkeit seiner Behauptung zu überzeugen, um sie zu überreden, in jenen von ihm angepriesenen Naturstand zurückzukehren. – Ihm ist Rückkehr Fortgang; ihm ist jener verlassene Naturstand das letzte Ziel, zu welchem die jetzt verdorbene und verbildete Menschheit endlich gelangen muss. Er thut demnach gerade das, was wir thun; er arbeitet, um die Menschheit nach seiner Art weiter zu bringen, und ihr Fortschreiten gegen ihr letztes höchstes Ziel zu befördern. Er thut demnach gerade das, was er selbst so bitter tadelt; seine Handlungen stehen mit seinen Grundsätzen in Widerspruch.

Dieser Widerspruch ist ebenderselbe, der auch in seinen Grundsätzen an sich herrscht Was bewegte ihn doch zum Handeln, als irgend ein Trieb in seinem Herzen, Hätte er diesem Triebe nachgeforscht, und ihn neben den, der ihn zu seinem Irrthume führte, gestellt; so wäre Einheit und Uebereinstimmung in seiner Handlungsart und in seiner Folgerungsart zugleich. – Lösen wir den ersten Widerspruch, so haben wir zugleich den zweiten gelöset; der Vereinigungspunct des[336] einen ist zugleich der Vereinigungspunct des zweiten. – Wir werden diesen Punct finden; wir werden den Widerspruch lösen; wir werden Rousseau besser verstehen, als er selbst sich verstand, und wir werden ihn in vollkommener Uebereinstimmung mit sich selbst und mit uns antreffen.

Was mochte Rousseau wohl auf jenen sonderbaren, theilweise zwar auch vor ihm von anderen behaupteten, in seiner Allgemeinheit aber der gemeinen Meinung völlig widerstreitenden Satz gebracht haben? Hatte er ihn etwa durch blosses Raisonnement aus einem höheren Grundsatze gefolgert? O nein! Rousseau ist von keiner Seite aus bis zu den Gründen alles menschlichen Wissens vorgedrungen; er scheint sich niemals auch nur die Frage über dieselben aufgeworfen zu haben. Was Rousseau Wahres hat, gründet sich unmittelbar auf sein Gefühl; und seine Kenntniss hat daher den Fehler aller auf blosses unentwickeltes Gefühl gegründeten Kenntniss, dass sie theils unsicher ist, weil man sich über sein Gefühl nicht vollständige Rechenschaft ablegen kann; theils das Wahre mit dem Unwahren vermischt, weil ein auf ein unentwickeltes Gefühl gegründetes Urtheil immer als gleichbedeutend aufstellt, was doch nicht gleichbedeutend ist. Nemlich das Gefühl irrt nie, aber die Urtheilskraft irrt, indem sie das Gefühl unrichtig deutet und ein gemischtes Gefühl für ein reines aufnimmt. – Von den unentwickelten Gefühlen aus, die Rousseau seinen Reflexionen zu Grunde legt, folgert er stets richtig; einmal in der Region des Vernunftschlusses angelangt, ist er mit sich selbst einig und reisst darum die Leser, die mit ihm denken können, so unwiderstehlich fort. Hätte er auch auf dem Wege der Folgerung dem Gefühle einen Einfluss verstatten können, so würde dasselbe ihn auf den richtigen Weg zurückgebracht haben, von dem es selbst ihn erst abführte. Um weniger zu irren, hätte Rousseau ein noch schärferer, oder ein minder scharfer Denker seyn müssen; und ebenso muss man, um durch ihn sich nicht irreleiten zu lassen, entweder einen sehr hohen, oder einen sehr geringen Grad des Scharfsinns besitzen; entweder ganz Denker seyn, oder es gar nicht seyn. –

Abgesondert von der grösseren Welt, von seinem reinen[337] Gefühl und von seiner lebhaften Einbildungskraft geleitet, hatte Rousseau sich ein Bild von der Welt und besonders von dem gelehrten Stande, dessen Arbeiten ihn vorzüglich beschäftigten, entworfen, wie sie seyn sollten und wie sie, wenn sie jenem gemeinsamen Gefühle folgten, nothwendig seyn müssten und würden. Er kam in die grössere Welt; er richtete sein Auge rund um sich herum; und wie ward ihm, als er Welt und Gelehrte sah, wie sie wirklich waren! Er sah zu einer fürchterlichen Höhe gestiegen, was jeder, der seine Augen zum Sehen anwendet, allenthalben sehen kann – Menschen ohne Ahndung ihrer hohen Würde und des Gottesfunkens in ihnen, zur Erde niedergebeugt, wie die Thiere, und an den Staub gefesselt; sah ihre Freuden und ihre Leiden und ihr ganzes Schicksal, abhängig von der Befriedigung ihrer niederen Sinnlichkeit, deren Bedürfniss doch durch jede Befriedigung zu einem schmerzhafteren Grade stieg; sah, wie sie in Befriedigung dieser niederen Sinnlichkeit nicht Recht noch Unrecht, nicht Heiliges noch Unheiliges achteten; wie sie stets bereit waren, dem ersten Einfalle die gesammte Menschheit aufzuopfern; sah, wie sie endlich allen Sinn für Recht und Unrecht verloren, und die Weisheit in die Geschicklichkeit, ihren Vortheil zu erreichen, und die Pflicht in die Befriedigung ihrer Lüste setzten; – sah zuletzt, wie sie in dieser Erniedrigung ihre Erhabenheit, und in dieser Schande ihre Ehre suchten; wie sie verachtend auf die herabsahen, die nicht so weise und nicht so tugendhaft waren, als sie: – sah – ein Anblick, den man nun endlich in Deutschland auch haben kann – sah diejenigen, welche die Lehrer und Erzieher der Nation seyn sollten, herabgesunken zu den gefälligen Sklaven ihres Verderbens, diejenigen, die für das Zeitalter den Ton der Weisheit und des Ernstes angeben sollten, sorgfältig horchen auf den Ton, den die herrschendste Thorheit und das herrschendste Laster angab; – hörte sie bei Richtung ihrer Untersuchungen fragen: nicht – ist das wahr und macht es gut und edel? – sondern: wird man es gern hören? nicht: was wird die Menschheit dadurch gewinnen? sondern: was werde ich dadurch gewinnen? wie viel Gold, oder welches Prinzen[338] gnädiges Kopfnicken, oder welcher schönen Frau Lächeln? – sah auch sie in diese Denkungsart Ihre Ehre setzen; sah sie mitleidig achselzucken über den Blödsinnigen, der nicht ebensowohl zu ahnden verstünde den Geist der Zeiten, als sie; – sah Talent und Kunst und Wissen vereinigt zu dem elenden Zwecke, durch alle Genüsse abgenutzter Nerven noch einen feineren Genuss zu erzwingen; oder zu dem verabscheuungswürdigen Zwecke, das menschliche Verderben zu entschuldigen, zu rechtfertigen, zur Tugend zu erheben alles vollends niederzureissen, was demselben noch einen Damm in den Weg stellte – sah endlich – und erfuhr es durch eigene unangenehme Erfahrung – jene Unwürdigen so tief gesunken, dass sie die letzten Funken der Ahndung, dass es noch irgend eine Wahrheit gäbe, und die letzte Scheu davor verloren, dass sie gänzlich unfähig wurden, sich auf Gründe auch nur einzulassen, dass sie, indem man ihnen diese Forderung noch in die Ohren schrie, sagten genug, es ist nicht wahr, und wir wollen nicht, dass es wahr sey – denn es ist dabei nichts für uns zu gewinnen. – Das alles sah er und sein hochgespanntes und so getäuschtes Gefühl empörte sich. Mit tiefem Unwillen strafte er sein Zeitalter.

Verargen wir Ihm diese Empfindlichkeit nicht! Sie ist das Zeichen einer edlen Seele: wer das Göttliche in sich fühlt – oft wird er zur ewigen Vorsicht emporseufzen: dies sind also meine Brüder? dies die Gesellschafter, die du mir auf den Weg des Erdenlebens gegeben hast? Ja! sie haben meine Gestalt; aber unsere Geister und unsere Herzen sind nicht verwandt; meine Worte sind ihnen Worte aus einer fremden Sprache und mir die ihrigen; ich höre den Schall ihrer Töne, aber da ist nichts in meinem Herzen, was denselben einen Sinn geben könnte! O, ewige Vorsicht, warum liessest du mich unter solchen Menschen geboren werden? oder wenn ich unter ihnen geboren werden sollte, warum gabst du mir dieses Gefühl und diese treibende Ahndung von etwas Besserem und Höherem? warum machtest du mich ihnen nicht gleich? warum machtest du mich nicht zu einem niedrigen Menschen, wie sie es sind? Ich würde dann vergnügt mit ihnen leben können. –[339] Ihr habt gut seinen Gram schelten und sein Misvergnügen tadeln, – ihr anderen, die ihr alles gut seyn lasst; ihr habt gut jene Zufriedenheit ihm anpreisen, mit der ihr euch alles gefallen lasst, und die Bescheidenheit, mit der ihr die Menschen nehmt, wie sie sind! Er würde so bescheiden seyn, wie ihr, wenn er so wenig edle Bedürfnisse hätte. Ihr könnt euch auch nicht zu der Vorstellung eines besseren Zustandes emporheben und für euch ist wirklich alles gut genug.

In dieser Fülle der bitteren Empfindung nun war Rousseau nicht fähig, irgend etwas zu sehen, als den Gegenstand, der sie erregt hatte. Die Sinnlichkeit herrschte; das war die Quelle des Uebels; nur diese Herrschaft der Sinnlichkeit wollte er aufgehoben wissen, auf jede Gefahr, koste es, was es wolle. – Was Wunder, dass er auf das entgegengesetzte Aeusserste verfiel? – Die Sinnlichkeit soll nicht herrschen; sie herrscht sicher nicht, wenn sie überhaupt getödtet wird, wenn sie gar nicht da ist, oder gar nicht entwickelt, gar nicht zu Kräften gekommen ist. – Daher Rousseau's Naturstand.

In seinem Naturstande sollen die eigenthümlichen Anlagen der Menschheit noch nicht ausgebildet, sie sollen nicht einmal angedeutet seyn. Der Mensch soll keine anderen Bedürfnisse haben, als die seiner animalischen Natur; er soll leben, wie das Thier auf der Weide neben ihm. – Es ist wahr, dass in diesem Zustande keines der Laster stattfinden würde, die Rousseau's Gefühl so sehr empörten; der Mensch wird essen wenn ihn hungert und trinken wenn ihn dürstet, was er zuerst vor sich finden wird; und wenn er gesättiget ist, wird er kein Interesse haben, den anderen derjenigen, Nahrung zu berauben, die er selbst nicht brauchen kann. Wenn er satt ist, so wird vor ihm jedweder ruhig essen und trinken können, was und wie viel er will; denn er bedarf jetzt eben Ruhe, und hat nicht Zeit, den anderen zu stören. In der Aussicht in die Zukunft liegt der wahre Charakter der Menschheit; sie ist zugleich die Quelle aller menschlichen Laster. Leitet die Quelle ab, und es ist kein Laster mehr da; und Rousseau leitet sie durch seinen Naturstand wirklich ab.

Aber zugleich ist es wahr, dass der Mensch, so gewiss er[340] ein Mensch und kein Thier ist, – nicht bestimmt ist, in diesem Zustande zu bleiben. Das Laster wird durch ihn freilich aufgehoben, aber mit ihm auch die Tugend und überhaupt die Vernunft. Der Mensch wird ein vernunftloses Thier; es giebt eine neue Thiergattung: Menschen giebt es dann gar nicht mehr.

Ohne Zweifel handelte Rousseau ehrlich mit den Menschen, und sehnte sich selbst, in diesem Naturzustande zu leben, den er anderen mit so grosser Wärme anpries, – und allerdings zeigt diese Sehnsucht sich durch alle seine Aeusserungen hindurch. Wir könnten ihm die Frage vorlegen: was war es doch eigentlich, was Rousseau in diesem Naturstande suchte? – Er fühlte sich selbst durch mannigfaltige Bedürfnisse eingeschränkt, niedergedrückt, und – was den gewöhnlichen Menschen freilich das kleinste Uebel ist, aber einen Mann, wie er war, am bittersten drückte – er war durch diese Bedürfnisse selbst so oft von der Bahn der Rechtschaffenheit und der Tugend abgeleitet worden. Lebte er im Naturstande, dachte er, so hätte er alle diese Bedürfnisse nicht, und so mancher Schmerz über Nichtbefriedigung, und so mancher noch bitterer Schmerz über Befriedigung derselben durch Unehre wäre ihm erspart worden. Er wäre vor sich selbst in Ruhe geblieben. – Er fand durch andere in allen Stellen sich gedrückt, weil er der Befriedigung ihrer Bedürfnisse im Wege stand. Die Menschheit ist nicht umsonst und vergebens böse, glaubte Rousseau und wir mit ihm: keiner von allen, die ihn beleidigten, würde ihn beleidigt haben, wenn er nicht jene Bedürfnisse gefühlt hätte. Hätte alles um ihn herum im Naturstande gelebt, so würde er vor anderen in Ruhe geblieben seyn. – Also Rousseau wollte ungestörte Ruhe von innen und von aussen? – Wohl! aber nun fragen wir ihn weiter, wozu wollte er doch diese ungestörte Ruhe anwenden? – Ohne Zweifel dazu, wozu er diejenige, die ihm dennoch zu Theil wurde, wirklich anwandte: zum Nachdenken über seine Bestimmung und seine Pflichten, um dadurch sich selbst und seine Mitbrüder zu veredeln? Aber wie hätte er dieses doch in jenem Zustande der Thierheit, den er annahm, – wie hätte er es[341] ohne die vorhergegangene Ausbildung, die er nur im Stande der Cultur erhalten konnte, vermocht? Also er versetzte unvermerkt sich und die ganze Gesellschaft mit der ganzen Ausbildung, die sie nur durch das Herausschreiten aus dem Stande der Natur erhalten konnte, in denselben; er nahm unvermerkt an, dass sie schon aus demselben herausgetreten seyn und den ganzen Weg der Bildung durchlaufen haben sollte; und doch nicht herausgetreten seyn und nicht ausgebildet seyn sollte: und so sind wir denn unvermerkt bei Rousseau's Fehlschlusse angekommen und können jetzt sein Paradoxon völlig und mit leichter Mühe lösen.

Rousseau wollte nicht in Absicht der geistigen Ausbildung, sondern bloss in Absicht der Unabhängigkeit von den Bedürfnissen der Sinnlichkeit den Menschen in den Naturstand zurückversetzen. Und es ist allerdings wahr, dass so wie der Mensch seinem höchsten Ziele sich mehr nähert, es ihm immer leichter werden muss, seine sinnlichen Bedürfnisse zu befriedigen; dass es stets weniger Mühe und Sorge machen muss, sein Leben durch die Welt hinzubringen; dass die Fruchtbarkeit des Bodens sich vermehren, das Klima stets milder werden, eine unzählige Menge neuer Entdeckungen und Erfindungen gemacht werden müssen, um den Unterhalt zu vervielfältigen und zu erleichtern; dass ferner, so wie die Vernunft ihre Herrschaft verbreiten wird, der Mensch stets weniger bedürfen wird, nicht – wie im rohen Naturstande, weil er die Annehmlichkeit desselben nicht kennt – sondern, weil er sie entbehren kann; er wird immer gleich bereit seyn, das beste mit Geschmack zu geniessen, wenn er es ohne Verletzung seiner Pflichten haben kann, und alles zu entbehren, was er nicht mit Ehren haben kann. Wird dieser Zustand als idealisch gedacht, – in welcher Absicht er unerreichbar ist, wie alles Idealische, – so ist er das goldene Zeitalter des Sinnengenusses ohne körperliche Arbeit, den die alten Dichter beschreiben. Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes, und jene Dichter unter der Benennung des goldenen Zeitalters, hinter uns setzen. (Es ist – im Vorbeigehen[342] sei dies erinnert – überhaupt eine besonders in der Vorwelt häufig vorkommende Erscheinung, dass das, was wir werden sollen, geschildert wird, als etwas, das wir schon gewesen sind, und dass das, was wir zu erreichen haben, vorgestellt wird als etwas Verlorenes; eine Erscheinung, die ihren guten Grund in der menschlichen Natur hat, Und die ich einst bei einer schicklichen Gelegenheit aus ihr erklären werde.)

Rousseau vergisst, dass die Menschheit diesem Zustande nur durch Sorge, Mühe und Arbeit sich nähern kann und nähern soll Die Natur ist roh und wild ohne Menschenhand, und sie sollte so seyn, damit der Mensch gezwungen würde, aus dem unthätigen Naturstande herauszugehen, und sie zu bearbeiten, – damit er selbst aus einem blossen Naturproducte ein freies vernünftiges Wesen würde. – Er geht gewiss heraus; er bricht auf jede Gefahr den Apfel der Erkenntniss; denn unvertilgbar ist ihm der Trieb eingepflanzt, Gott gleich zu seyn. Der erste Schritt aus diesem Zustande führt ihn zu Jammer und Mühseligkeit. Seine Bedürfnisse werden entwickelt; sie heischen stechend ihre Befriedigung; aber der Mensch ist von Natur faul und träge, nach Art der Materie, aus der er entstanden ist. Da entsteht der harte Kampf zwischen Bedürfniss und Trägheit; das erstere siegt, aber die letztere klagt bitterlich. Da bauet er im Schweisse des Angesichts das Feld, und zürnt, dass es auch Dornen und Disteln trägt, welche er ausreuten muss. – Nicht das Bedürfniss ist die Quelle des Lasters; es ist Antrieb zur Thätigkeit und zur Tugend; die Faulheit ist die Quelle aller Laster. So viel, als immer möglich, zu geniessen, und so wenig, als immer möglich, zu thun – das ist die Aufgabe der verdorbenen Natur; und die mancherlei Versuche, welche gemacht werden, um sie zu lösen, sind die Laster derselben. Es ist kein Heil für den Menschen, ehe nicht diese natürliche Trägheit mit Glück bekämpft ist, und ehe nicht der Mensch in der Thätigkeit, und allein in der Thätigkeit seine Freuden und all seinen Genuss findet. Dazu ist das Schmerzhafte, das mit dem Gefühl des Bedürfnisses verbunden ist. Es soll uns zur Thätigkeit reizen.[343]

Das ist die Absicht alles Schmerzes; das ist insbesondere auch die Absicht desjenigen Schmerzes, der uns bei jenem Anblick der Unvollkommenheit, der Verdorbenheit und des Elendes unserer Mitmenschen überfällt. Wer diesen Schmerz und jenen bitteren Unwillen nicht fühlt, ist ein gemeiner Mensch. Wer ihn fühlt, soll suchen, sich desselben zu entledigen da durch, dass er alle seine Kräfte anwendet, um in seiner Sphäre und rund um sich herum zu bessern, so viel er kann. Und gesetzt, seine Arbeit fruchtete gar nichts; er sähe keinen Nutzen davon, so macht doch schon das Gefühl seiner Thätigkeit, der Anblick seiner eigenen Kraft, die er im Kampfe gegen das allgemeine Verderben aufbietet, ihn jenen Schmerz vergessen. – Hierin fehlte Rousseau. Er hatte Energie; aber mehr Energie des Leidens, als der Thätigkeit; er fühlte stark das Elend der Menschen; aber er fühlte weit weniger seine eigene Kraft, demselben abzuhelfen; und so, wie er sich fühlte, so beurtheilte er andere; wie er sich zu diesem seinem besonderen Leiden verhielt, so verhielt nach ihm die ganze Menschheit sieh zu ihrem gemeinsamen Leiden. Er berechnete das Leiden; aber er berechnete nicht die Kraft, welche das Menschengeschlecht in sieh hat, sich zu helfen.

Friede sey über seiner Asche und Segen über seinem Andenken! – Er hat gewirkt. Er hat Feuer in manche Seele gegossen, die weiter führte, was er anfing. Aber er wirkte, fast ohne seiner Selbstthätigkeit sich selbst bewusst zu seyn. Er wirkte, ohne andere zum Wirken aufzurufen; ohne ihr Wirken gegen die Summe des gemeinsamen Uebels und Verderbens zu berechnen. Dieser Mangel des Strebens zur Selbstthätigkeit herrscht durch sein ganzes Ideensystem. Er ist der Mann der leidenden Empfindlichkeit, nicht zugleich des eigenen thätigen Widerstrebens gegen ihren Eindruck. – Seine durch Leidenschaft irre geführten Liebenden werden tugendhaft; aber sie werden es auch bloss, ohne dass wir recht sehen, wie? Den Kampf der Vernunft gegen die Leidenschaft, den allmähligen, langsamen, mit Anstrengung und Mühe und Arbeit errungenen Sieg, – das interessanteste und lehrreichste,[344] was wir sehen könnten – verbirgt er vor unseren Augen. – Sein Zögling entwickelt sich von sich selbst. Der Führer desselben thut nicht viel mehr, als dass er die Hindernisse seiner Bildung entfernt, und lässt übrigens die gütige Natur walten. Sie wird auch immerfort ihn unter ihrer Vormundschaft erhalten müssen. Denn Thatkraft, Feuer, festen Entschluss, gegen sie zu kriegen und sie zu unterjochen, hat er ihm nicht beigebracht. Er wird unter guten Menschen gut seyn; aber unter bösen – und wo sind nicht die meisten böse? wird er unsäglich leiden. – So schildert Rousseau durchgängig die Vernunft in der Ruhe, aber nicht im Kampfe; er schwächt die Sinnlichkeit, statt die Vernunft zu stärken.

Ich habe gegenwärtige Untersuchung übernommen, um jenes berüchtigte Paradoxon, das unserem Grundsatze gerade gegenübersteht, zu lösen; aber nicht darum allein. Ich wollte Ihnen zugleich an dem Beispiele eines der grössten Männer unseres Jahrhunderts zeigen, wie Sie nicht seyn sollten; ich wollte Ihnen aus seinem Beispiele eine für Ihr ganzes Leben wichtige Lehre entwickeln. – Sie unterrichten Sich jetzt durch philosophische Untersuchungen, wie die Menschen seyn sollen, mit denen Sie überhaupt noch In keiner sehr nahen, engen, unzertrennlichen Beziehung stehen. Sie werden in diese näheren Beziehungen mit ihnen kommen. Sie werden sie ganz anders finden, als Ihre Sittenlehre sie haben will. Je edler und besser Sie selbst sind, desto schmerzhafter werden Ihnen die Erfahrungen seyn, die Ihnen bevorstehen; aber lassen Sie Sich durch diesen Schmerz nicht überwinden; sondern überwinden Sie ihn durch Thaten. Auf ihn ist gerechnet; er ist in dem Plane für die Verbesserung des Menschengeschlechts mit in Anschlag gebracht. Hinstehen und klagen über das Verderben der Menschen, ohne eine Hand zu regen, um es zu verringern, ist weibisch. Strafen und bitter höhnen, ohne den Menschen zu sagen, wie sie besser werden sollen, ist unfreundlich. Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind Wollten wir zürnen darüber, dass andere nicht so vollkommen sind, als wir, wenn wir nur vollkommener sind? Ist nicht eben[345] diese unsere grössere Vollkommenheit der an uns ergangene Ruf, dass wir es sind, die für die Vervollkommnung anderer zu arbeiten haben? Lassen Sie uns froh seyn über den Anblick des weiten Feldes, das wir zu bearbeiten haben! Lassen Sie uns froh seyn, dass wir Kraft in uns fühlen, und dass unsere Aufgabe unendlich ist![346]

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 6, Berlin 1845/1846.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon