A. Bestimmung des zu analysirenden synthetischen Satzes.

[125] Das Ich sowohl als das Nicht-Ich sind, beide durch das Ich und im Ich, gesetzt als durcheinander gegenseitig beschränkbar, d. i. so, dass die Realität des Einen die Realität des Anderen aufhebe, und umgekehrt. (§ 3.)

In diesem Satze liegen folgende zwei:

1) Das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich. Von diesem Satze, der in der Zukunft, und zwar im praktischen Theile unserer Wissenschaft eine grosse Rolle spielen wird, lässt, wie es wenigstens scheint, vor der Hand sich noch gar kein Gebrauch machen. Denn bis jetzt ist das Nicht Ich Nichts; es hat keine Realität, und es lässt demnach sich gar nicht denken, wie in ihm durch das Ich eine Realität aufgehoben werden könne, die es nicht hat; wie es eingeschränkt werden könne, da es nichts ist. Also scheint dieser Satz wenigstens so lange, bis dem Nicht-Ich auf irgend eine Weise Realität beigemessen werden kann, völlig unbrauchbar. Der Satz, unter welchem er enthalten ist, der: das Ich und Nicht Ich schränken sich gegenseitig ein, ist zwar gesetzt; aber ob auch der eben jetzt aufgestellte durch ihn gesetzt und in ihm enthalten sey, ist völlig problematisch. Das Ich kann auch bloss und lediglich in der Rücksicht vom Nicht-Ich eingeschränkt werden, als es dasselbe erst selbst eingeschränkt hat; als das[125] Einschränken erst vom Ich ausgegangen ist. Vielleicht schränkt das Nicht-Ich gar nicht das Ich an sich, sondern nur das Einschränken des Ich ein; und so bliebe der obige Satz doch wahr und richtig, ohne dass dem Nicht-Ich eine absolute Realität zugeschrieben werden müsste, und ohne dass der oben problematisch aufgestellte Satz in ihm enthalten wäre.

2) Liegt in jenem Satze folgender: das Ich setzt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich. Von diesem lässt sich ein Gebrauch machen; und er muss angenommen werden als gewiss, denn er lässt sich aus dem oben aufgestellten Satze ableiten.

Das Ich ist gesetzt zuvörderst als absolute, und dann als einschränkbare, einer Quantität fähige Realität, und zwar als einschränkbar durch das Nicht-Ich. Alles dies aber ist gesetzt durch das Ich; und dieses sind denn die Momente unseres Satzes.

(Es wird sich zeigen,

1) dass der letztere Satz den theoretischen Theil der Wissenschaftslehre begründe – jedoch erst nach Vollendung desselben, wie das beim synthetischen Vortrage nicht anders seyn kann.

2) Dass der erstere, bis jetzt problematische Satz den praktischen Theil der Wissenschaft begründe. Aber da er selbst problematisch ist, so bleibt die Möglichkeit eines solchen praktischen Theils gleichfalls problematisch. Hieraus geht nun

3) hervor, warum die Reflexion vom theoretischen Theile ausgehen müsse; ohngeachtet sich im Verfolg zeigen wird, dass nicht etwa das theoretische Vermögen das praktische, sondern dass umgekehrt das praktische Vermögen erst das theoretische möglich mache, (dass die Vernunft an sich bloss praktisch sey, und dass sie erst in der Anwendung ihrer Gesetze auf ein sie einschränkendes Nicht-Ich theoretisch werde). – Sie ist es darum, weil die Denkbarkeit des praktischen Grundsatzes sich auf die Denkbarkeit des theoretischen Grundsatzes gründet. Aber von der Denkbarkeit ist ja doch bei der Reflexion die Rede.

4) Geht daraus hervor, dass die Eintheilung der Wissenschaftslehre[126] in die theoretische und praktische, die wir hier gemacht haben, bloss problematisch ist; (aus welchem Grunde wir sie denn auch nur so im Vorbeigehen machen mussten, und die scharfe Grenzlinie, die noch nicht als solche bekannt ist, nicht ziehen konnten). Wir wissen noch gar nicht, ob wir den theoretischen Theil vollenden, oder ob wir nicht vielleicht auf einen Widerspruch stossen werden, der schlechthin unauslösbar ist; um soviel weniger können wir wissen, ob wir von dem theoretischen Theile aus in einen besonderen praktischen werden getrieben werden).

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 125-127.
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