1. Der Organismus im allgemeinen.

[305] Die höhere und niedere Organisation bedeutet keine prinzipielle Verschiedenheit der Leiber. Alle Körper, in denen eine Seele wohnt, d.h. die der übermenschlichen Wesen, der Menschen, Tiere und Pflanzen, sind aus den gleichen Bestandteilen zusammengesetzt. Wenn auch die Pflanzen nicht die Fähigkeit Außendinge wahrzunehmen, sondern nur ein innerliches Bewußtsein besitzen (antaḥsamjña), wenn sie auch in rein passiver Weise zum Aufenthalte von Seelen dienen, die bestimmte Vergehen früherer Existenzen abzubüßen haben, und nicht selbst zu handeln, d.h. aufs neue Verdienst und Schuld anzuhäufen vermögen, so haben sie doch einen Körper so gut wie Menschen und Tiere; denn in gleicher Weise, wie der animalische Leib, wächst auch der Pflanzenleib und hat ein Ziel seines Wachstums; wie der animalische Leib nach dem Tode in Verwesung übergeht, so verdorrt oder verfault auch der Pflanzenleib nach seiner Zerstörung1.

Die organische Welt (bhûta-sarga, bhautika-sarga, dhâtu-samsarga)2 wird gewöhnlich in drei Hauptteile zerlegt, in[305] das Reich der Götter, Menschen und Tiere (unter Einschluß der Pflanzenwelt)3; doch findet sich auch die folgende, von der Entstehungsart ausgehende Einteilung in sechs Klassen, von denen freilich die Hälfte dem landläufigen Aberglauben auf Rechnung zu setzen sind: die Wesen sind entweder 1. aus der Hitze geboren (ûṣma-ja), wie Moskitos und andere Insekten, 2. aus dem Ei (aṇḍa-ja), wie Vögel und Schlangen, 3. aus dem Mutterschoß (jarâyu-ja), wie Menschen usw., 4. aus dem Keim (udbhij-ja), wie Bäume und Pflanzen, 5. durch den bloßen Willen geschaffen (samkalpa-ja), wie Sanaka, Manu und andere, oder 6. durch die Benutzung der zauberischen Kraft von Sprüchen, Kräutern und dergleichen ins Leben gerufen (sâmsiddhika)4.

Außer dem grob-materiellen Körper, der gewöhnlich (prâyaśaḥ) von Vater und Mutter erzeugt wird und unter allen Umständen vergänglich ist5, besitzt jedes organische Wesen einen feinen oder inneren Körper, der zusammen mit der Seele aus einem groben Leibe in den anderen zieht6.[306] Dieser innere Körper, welcher Sitz und Ursprung aller derjenigen Zustände und Funktionen ist, die wir als psychische zu bezeichnen pflegen, wird nach der Sâmkhya-Lehre durch die Buddhi, den Ahamkâra, das Manas, die zehn Indriyas und die fünf feinen Elemente gebildet. Bevor wir ihn als Ganzes ins Auge fassen, sind die einzelnen Organe, aus denen er sich zusammensetzt, in der angeblichen Reihenfolge ihrer Entstehung zu betrachten.

1

Sûtra V. 122-124 (121-123 Vijñ.). Vgl. auch Vijñ. zu Sûtra VI. 7, wo Gräser und Bäume mit Tieren, Menschen und Göttern vollständig koordiniert sind, und den Sâmkhya-Abschnitt im Mahâbhârata XII. 6830-38, in dem freilich abweichend vom System den Vegetabilien auch äußere Sinne zugeschrieben werden.

2

Tattvasamâsa Sûtra 21; vgl. Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 72 am Schluß.

3

Kârikâ 53, Sûtra III. 46.

4

Sûtra V. 111. Über die weitere Klassifizierung der Unterabteilungen, die nicht wichtig genug ist, um hier wiedergegeben zu werden, handeln die Kommentare zu Kârikâ 53 und Sûtra III. 46, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 72; Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 258. Wegen der entsprechenden Anschauungen im Vedânta vgl. Deussen, System 257-259. – Schon Atharvaveda III. 21. 5 werden 13 Klassen von Wesen neben den Menschen genannt.

5

Kârikâ 39, Sûtra III. 7.

6

Zu erwähnen sind hier die anderweitig in Indien auftretenden, speziell buddhistischen Vorstellungen von dem Gandharva, im Pâli Gandhabba. Vgl. Pischel (der irrtümlich gandharva mit garbha ›Foetus‹ gleichsetzte) Ved. Stud. I. 78, II. 234, Gött. gel. Anz. 1895, 452; Hillebrandt, Vedische Mythologie I. 427, II. 265 und 84. Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur; Oldenberg, Religion des Veda 249 Anm. 1, ZDMG. 49, 178; Windisch, Buddhas Geburt und die Lehre von der Seelenwanderung 12 fg., 77 fg. und sonst. »Der Gandhabba bei der Empfängnis ist das im Lauf der Seelen Wanderung aus einer früheren Existenz herkommende Wesen, das im Begriff steht in ein neues Dasein hinüberzuwandern und den Augenblick eines Zeugungsaktes erwartet, um in ein solches Dasein einzutreten. Die Bereitschaft eines solchen Gandhabba ist ein Erfordernis der Empfängnis.« Oldenberg, Theologische Literaturzeitung 1909, 627.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 305-307.
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