3. Der Ahamkâra.

[311] Wenn Wilson sagt20, daß der Ahamkâra einen physischen keinen metaphysischen Charakter hat, so trifft dies mit Bezug auf die anderen Organe, die hier behandelt werden, genau so zu; aber es ist von Interesse zu sehen, daß die wahre Natur dieser Prinzipien zuerst nur an einem einzigen unter ihnen erkannt worden ist. Eine richtige Definition des oft mißverstandenen Ahamkâra hat H. Jacobi gegeben21, der ihn als das Prinzip bezeichnet, »vermöge dessen wir uns für handelnd und leidend usw. halten, während wir selbst, d.h. unsere Seele, davon ewig frei bleiben«.

Die Funktion des Ahamkâra ist also die Hervorbringung von Wahnvorstellungen (abhimâna), und zwar derjenigen Wahnvorstellungen, welche die Idee des Ich in rein materielle Dinge und Prozesse hineintragen22. Solcher Art sind z.B. die Gedanken »Ich höre, fühle, sehe, schmecke, rieche, ich besitze, bin reich, mächtig, ich genieße, er ist von mir getötet worden, ich werde von den starken Feinden getötet werden«23; denn alle derartigen Vorstellungen verwechseln[311] unsern Leib und unsere Organe mit dem von beiden grundwesentlich verschiedenen Ich, der Seele.

Bei der Betrachtung der von dem Ahamkâra hervorgebrachten Produkte lernten wir S. 299 fg. drei verschiedene Formen dieses Organs, die durch das Vorwalten je eines der drei Guṇas bedingt sind, kennen, unter den Namen vaikṛta (vaikârika), taijasa und bhûtâdi. Diese drei Formen betätigen aber ihren besonderen Charakter nicht nur kosmisch durch die Erzeugung neuer Prinzipien, sondern auch in der Handlungsweise der Individuen. Eine der jüngsten Quellen des Sâmkhya-Systems24 erhöht die Zahl dieser im Handeln sich äußernden (karmâtman) Formen des Ahamkâra auf fünf, durch Hinzufügung zweier in der ganzen übrigen Literatur unbekannter Arten, des sânumâna und niranumâna, d.h. des ›schlußfolgernden‹ und ›nicht-schlußfolgernden‹ (?) Ahamkâra. Es ist das eine spätere Ergänzung, die jedoch, wie wir aus den gleich folgenden Erklärungen sehen werden, aus der Natur des individuellen Verhaltens ihre Berechtigung ableitet. Der unter dem vorwiegenden Einfluß des Sattva stehende vaikṛta-Ahamkâra ist der Täter der guten Werke (śubha-karma-kartṛ); der taijasa-Ahamkâra, in dem das Rajas überwiegt, ist der Täter der bösen Werke (aśubha-karma-kartṛ); der von Tamas erfüllte bhûtâdi-Ahamkâra ist der Täter der heimlichen Werke (nigûḍha-karma-kartṛ), die wahrscheinlich ihrer Qualität nach ebensowohl gut als böse sein können25; der sânumâna-Ahamkâra ist der Täter dessen, was gut aber töricht ist (śubha-mûḍha-kartṛ), der niranumâna-Ahamkâra dessen, was böse und töricht ist (aśubha-mûḍha-kartṛ)26.[312] Obwohl unsere Quelle nichts darüber bemerkt, so dürfen wir doch aus dem Zusammenhang der Anschauungen schließen, daß bei der Hinzufügung der beiden letzten Formen die Vorstellung geherrscht hat, daß der sânumâna-Zustand des Ahamkâra auf einem gleichmäßigen Überwiegen des Sattva und Tamas über das Rajas, der niranumâna-Zustand auf einem ebenso gleichmäßigen Überwiegen des Rajas und Tamas über das Sattva beruhe.

Wichtiger als diese ganze Schematisierung ist für uns die ihr zugrunde liegende Idee, daß der Ahamkâra das innere Tatorgan ist27 und als solches seine Stelle zunächst der Buddhi, dem Denkorgan hat. Wie – von allen Verschiedenheiten im einzelnen abgesehen – die Buddhi ihren Charakter hauptsächlich dem lichthaften Sattva, so verdankt der Ahamkâra den seinigen im wesentlichen dem anregenden Rajas.

Wenn wir bedenken, daß nach der Lehre der Sâmkhya-Philosophie die moralische Qualität des Handelns der Wesen von der jeweiligen Mischung der drei Guṇas in dem Ahamkâra abhängig ist und daß Wollen und Sichentschließen an sich keine geistigen, sondern physische Funktionen sind, so sollten wir meinen, hier einen mechanischen Determinismus vor uns zu haben. Denn ein Handeln, das durch das Überwiegen einer bestimmten Substanz im inneren Organ in diese oder jene Richtung gedrängt wird, ist doch rein instinktiv. Dieser Annahme aber widerstreitet die Tatsache, daß die[313] Sâmkhya-Philosophie wie jedes andere indische System das Individuum für seine Handlungsweise verantwortlich macht und daß sie zum Zweck der Erlösung eine Reihe von Anforderungen stellt, deren Erfüllung nur unter der Voraussetzung der Willensfreiheit möglich ist. Hier liegt also ein offenbarer Widerspruch zwischen einer charakteristischen Sâmkhya-Lehre und den allgemein-indischen in das System übernommenen Anschauungen vor, – ein Widerspruch, der in unseren Texten nicht gelöst wird und vielleicht den Vertretern des Systems selbst nicht völlig zum Bewußtsein gekommen ist.

Das Handeln wird in neuerer Zeit28 aus fünf verschiedenen Quellen (karma-yoni) abgeleitet: 1. aus der Energie (dhṛti) im allgemeinen, mit der etwas einmal Beschlossenes durchgeführt wird; 2. aus der ritualistischen Frömmigkeit (śraddhâ); 3. aus dem Verlangen nach zukünftigem Heil (sukhâ sic!)29; 4. aus dem Mangel des Streben nach Erkenntnis (avividiṣâ), womit die Lust an sinnlichen Freuden gemeint ist; 5. aus dem Streben nach Erkenntnis (vividiṣâ).

20

Sânkhya Kârikâ S. 92.

21

Philosophische Monatshefte XIII. 420.

22

Kârikâ 24, Sûtra I. 72, II. 16.

23

Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 17, 43; Vijñ. zu Sûtra I. 19, 141.

24

Tattvasamâsa Sûtra 13 und Sâmkhya-krama-dîpi kâ Nr. 18, 61.

25

Ballantyne sagt in der Übersetzung der Sâmkhya-krama-dîpikâ S. 33 unten »producer of things good but obscure«.

26

Es ist nicht recht verständlich, warum Ballantyne trotz dieser deutlichen Erklärungen der Sâmkhya-krama-dîpikâ (in Nr. 61) auf S. 57 seiner Lecture in Nr. 95 die folgenden Betrachtungen über die Bedeutung von sânumâna und niranumâna anstellt: »We can get no account anywhere of this application of these terms. Self-consciousness ›not associated with inference‹ might possibly refer to the simple consciousness of existence; whilst the consciousness ›associated with inference‹ might refer to the notion of the Egoist who has reasoned himself into the belief that he himself constitutes all that is; but then the difficulty would remain of tracing the connexion between this sense and the functions assigned to these aspects of self-consciousness under No. 61«. Woher die wunderlichen Bezeichnungen stammen, ist freilich einstweilen dunkel; daß sie aber niemals einen von dem angegebenen wesentlich abweichenden Sinn gehabt haben können, lehrt der Zusammenhang, in dem sie auftreten.

27

Sûtra VI. 54.

28

Nach Tattvasamâsa Sûtra 11 und Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 59.

29

Das sich freilich auch nach den Erläuterungen der Sâmkhya-krama-dîpikâ wenig von dem vorangehenden Motiv unterscheidet.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 311-314.
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