2. Beweise für die Existenz der Seele.

[356] Obwohl in Sûtra I. 138 gesagt ist, daß die Existenz der Seele keines Beweises bedürfe, da sie von niemand bestritten werde, und obwohl die Seele gelegentlich als durch sich selbst evident (svataḥ siddha, svayam-prakâśa) bezeichnet wird, sind an anderen Stellen in unseren Texten doch Beweise angeführt. Die Existenz der Seele wird aus der Idee des Ich, besonders aus der allgemeinen Vorstellung ›Ich erkenne‹ abgeleitet, mit der Begründung, daß ohne die Seele[356] das Ichbewußtsein ebenso unmöglich sei wie der Schatten ohne den Schatten werfenden Gegenstand oder das Bild ohne seine Grundlage7. Verschiedene andere Gründe finden wir in Kârikâ 17 (und Sûtra I. 140-144) zusammengestellt. Die Seele ist deshalb anzunehmen, »weil das Zusammengesetzte zum Zwecke eines anderen da ist, und weil es ein Gegenteil von dem geben muß, was aus den drei Guṇas besteht und die sonstigen Eigenschaften der Materie besitzt«8. Die Urmaterie und alle ihre Produkte sind zusammengesetzt; alles Zusammengesetzte aber dient zum Zwecke eines anderen, wie z.B. das Bett für den Körper des Schläfers. Der Körper ist wiederum zum Zwecke eines anderen da, weil er gleichfalls eine Zusammensetzung aus Teilen ist; dieses andere dagegen muß unzusammengesetzt und mithin von allem Materiellen wesensverschieden sein, da wir sonst einen regressus in infinitum erhalten würden9.

Die Existenz der Seele ist ferner deshalb notwendig, »weil es einen Regierer (adhiṣṭhâtṛ) geben muß«. Wie der ungeistige Wagen von dem mit Intelligenz begabten Lenker geleitet wird, so muß die gesamte ungeistige Materie von einem geistigen Prinzip regiert werden; anderenfalls wären die zweckmäßigen Entfaltungen und Verbindungen der Materie unerklärlich. Diese Leitung von Seiten des geistigen Prinzips, d.h. der Gesamtheit der Seelen, beruht aber nach der Sâmkhya-Lehre nicht auf einem bewußten Willen, sondern auf dem bloßen Vorhandensein der Seelen, das auf die Materie einen mechanischen Anreiz ausübt, wie der Magnet auf das Eisen10. – Der nächste Grund für die Existenz der Seele ist die Notwendigkeit der Annahme eines Empfinders (bhoktṛ). Die Objekte der Empfindung, Freude, Schmerz usw., werden von jedem einzelnen gefühlt. Da nun die materiellen Produkte (insbesondere die inneren Organe)[357] die Freude, den Schmerz usw. als etwas ihnen wesentlich Angehöriges besitzen, mithin empfundenes Objekt sind, können sie nicht zugleich empfindendes Subjekt sein; denn ein anerkannter Grundsatz der Logik erklärt es für eine Unmöglichkeit, daß einunddasselbe Ding gleichzeitig Subjekt und Objekt sei (karma- kartṛ-virodha). »Deshalb muß etwas, das nicht das Wesen von Freude usw. hat, dasjenige sein, auf welches angenehm, resp. widerwärtig eingewirkt wird; und dies ist die Seele«11.

Diesen Gründen haben unsere Texte noch einen aus der Erfahrung und dem Traditionsglauben entnommenen hinzugefügt, der hier erwähnt sei als ein Beispiel dafür, wie wahrhaft philosophische Betrachtung in diesen Büchern auf das engste mit den Erzeugnissen einer kindlichen Naivität verknüpft ist. Es wird ein Beweis für die Existenz der Seele in der Tatsache gefunden, daß das allgemeine Streben der Menschen auf die Erlösung von dem Schmerze des Weltdaseins, d.h. auf die Isolierung der Seele von der Materie, gerichtet ist. Wenn es keine Seele gäbe, so würde dieses Streben sinnlos und die Autorität der Lehrbücher und der ›großen Seher mit den göttlichen Augen‹ hinfällig sein, – was für unsere Autoren ausgeschlossen ist12.

7

Anir. und Mah. zu Sûtra III. 12, Vijñ. zu VI. 1.

8

Vgl. oben S. 350 fg.

9

S. außer den Kommentaren zu Kârikâ 17 noch die Kommentare zu Sûtra I. 66, 140.

10

Vijñ. zu Sûtra III. 57, V. 9.

11

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 17; Vijñ. zu Sûtra I. 66, 99, 141, 143; Anir. und Mah. zu V. 66. – Zu allen diesen Beweisgründen vgl. Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 267, 268; Barthélemy Saint-Hilaire, Premier Mémoire 169 fg., 444.

12

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 17.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 356-358.
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