4. Die Vielheit der Seelen.

[364] Die Annahme einer Vielheit individueller Seelen ist altindisch und für alles menschliche Denken natürlich; sie bildet aber einen der wichtigsten Unterschiede unseres Systems von dem spirituellen Monismus des Vedânta35. In den Sâmkhya-Texten wird die Sonderexistenz der Einzelseelen[364] in dreifacher Weise begründet. Die Hauptstelle ist Kârikâ 18: »Die Vielheit der Seelen ergibt sich 1. aus der Verteilung von Geburt, Tod und Organen, 2. aus dem nicht-gleichzeitigen Wirken und 3. schon aus dem verschiedenen Zustand der drei Guṇas.« Zur Erläuterung dieser drei Gründe glaube ich nichts Besseres tun zu können als die eingehenden – übrigens offenbar auf Gauḍapâdas kürzerem Kommentar beruhenden – Erklärungen Vâcaspatimiśras, soweit sie für uns wesentlich sind, anzuführen36.

1. »Geburt ist die Verbindung der Seele mit den folgenden neuen, als Wohnstätte charakterisierten Dingen: Körper, äußere Sinne, innerer Sinn, Ahamkâra, Buddhi und Empfindung; sie ist aber keine Veränderung an der Seele, weil diese unveränderlich ist. Tod ist das Verlassen eben dieser angenommenen Dinge, des Körpers usw., aber nicht die Vernichtung des Selbstes, weil dieses unwandelbar und ewig ist. Unter den Organen sind die dreizehn von der Buddhi an [bis zu den Organen der Wahrnehmung und des Handelns] zu verstehen. Die Verteilung von Geburt, Tod und Organen bedeutet das Je-anders-sein; [und] dieses [in Wirklichkeit bestehende Je-anders-sein] ist doch unvereinbar mit [der Annahme], daß einunddieselbe Seele in allen Körpern sei. Dann müßten ja, wenn einer geboren wird, alle geboren werden, wenn einer stirbt, alle sterben, wenn einer z.B. erblindet, alle erblinden, und wenn einer bewußtlos wird, alle bewußtlos werden. Es würde also, [wenn es nur eine Seele gäbe,] keine Verteilung bestehen können; diese ist vielmehr nur möglich, wenn entsprechend den einzelnen Leibern die Seelen verschieden sind ...«

2. »Wenn auch das Wirken – d.h. die Tätigkeit – dem inneren Organ angehört, so wird dieses doch auf die[365] Seele übertragen; und demnach müßte sie, wenn sie in einem einzigen Körper tätig ist, unter der Voraussetzung, daß es nur eine [Seele] in allen Körpern gibt, überall tätig sein und infolgedessen alle Körper gleichzeitig in Belegung setzen37. Bei der [Annahme einer] Vielheit [der Seelen] aber fällt dieser Einwand fort.«

3. »Einige Wohnstätten der Existenz [d.h. einige Körper] sind reich an Sattva, wie die aufwärts gestiegenen [d.h. die Götter]; einige sind reich an Rajas, wie die Menschen; einige reich an Tamas, wie die Tiere. Solch ein verschiedener Zustand – d.h. solch ein Anderssein – der drei Guṇas in diesen und jenen Wohnstätten der Existenz wäre nicht möglich, wenn es nur eine Seele gäbe.«

Wenn die ungeheure Zahl der individuellen Seelen begrenzt wäre, so würden, da die Erlösung wie in der Gegenwart auch in der Zukunft immer einzelnen zuteil werden wird, in der fernsten Zeit einmal alle Individuen zur Erlösung gelangt sein müssen, und damit würde das Ende der Welt gekommen sein. Dies aber widerspricht den Voraussetzungen des Systems, nach dem der Samsâra ewig währt. Die Annahme einer unendlichen Vielheit von Seelen war mithin unerläßlich38.

35

Aber nicht der Viśiṣṭâdvaita-Schule des Vedânta; s. Jacobi, Gött. Gel. Anz. 1895, 205.

36

Die übrigen Stellen in unseren Texten, die sich mit der Vielheit der Seelen beschäftigen (Sûtra I. 149-154, VI. 45, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 45), bringen nichts Neues hinzu. Colebrookes Erörterung (Misc. Ess.2 I. 268) ist ganz auf Kâr. 18 gegründet.

37

Gauḍapâda verlegt den Schwerpunkt in die Verschiedenartigkeit der menschlichen Handlungen.

38

Anir. zu Sûtra I. 159, Vijñ. zu II. 4.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 364-366.
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