Siebente Rede

Rechner Moggallāno

[818] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Osthaine, auf der Terrasse Mutter Migāros.

Da nun begab sich ein Priester, Rechner Moggallāno, dorthin wo der Erhabene weilte, tauschte höflichen Gruß und freundliche, denkwürdige Worte mit dem Erhabenen und setzte sich zur Seite nieder. Zur Seite sitzend sprach nun Rechner Moggallāno der Priester zum Erhabenen also:

»Gleichwie man da, o Gotamo, bei dieser Terrasse Mutter Migāros den allmählichen Ansatz, den allmählichen Fortschritt, den allmählichen Aufstieg erkennen kann, und zwar von der untersten Treppenstufe an, kann man gewiß auch, o Gotamo, bei unseren Priestern den allmählichen Ansatz, den allmählichen Fortschritt, den allmählichen Aufstieg erkennen, und zwar bei der Andacht; kann man gewiß auch, o Gotamo, bei unseren Bogenschützen den allmählichen Ansatz, den allmählichen Fortschritt, den allmählichen Aufstieg erkennen, und zwar beim Schießen; kann man gewiß auch, o Gotamo, bei uns Rechnern, die wir von der Rechenkunst leben, den allmählichen Ansatz, [818] den allmählichen Fortschritt, den allmählichen Aufstieg erkennen, und zwar beim Zählen. Denn haben wir, o Gotamo, Schüler angenommen, so lassen wir zuerst zählen: ›Eins, die Einheit, zwei, die Zweiheit, drei, die Dreiheit, vier, die Vierheit, fünf, die Fünfheit, sechs, die Sechsheit, sieben, die Siebenheit, acht, die Achtheit, neun, die Neunheit, zehn, die Zehnheit‹, so lassen wir, o Gotamo, bis hundert zählen. Ist es nun möglich, o Gotamo, auch in dieser Lehre und Ordnung etwa ebenso einen allmählichen Ansatz, einen allmählichen Fortschritt, einen allmählichen Aufstieg nachzuweisen?«

»Es ist möglich, Priester, auch in dieser Lehre und Ordnung einen allmählichen Ansatz, einen allmählichen Fortschritt, einen allmählichen Aufstieg nachzuweisen. Gleichwie etwa, Priester, ein gewandter Rossebändiger, wann er ein schönes edles Roß erhalten hat, eben erst am Gebisse Übungen ausführen läßt und es dann weiteren Übungen zuführt, ebenso nun auch, Priester, weist der Vollendete, wann er einen Menschen zur Bändigung erhalten hat, erst also zurecht: ›Willkommen, du Mönch, sei tugendhaft, in reiner Zucht richtig gezügelt bleibe lauter im Handel und Wandel: vor geringstem Fehl auf der Hut kämpfe beharrlich weiter, Schritt um Schritt.‹ Sobald nun, Priester, der Mönch tugendhaft ist, in reiner Zucht richtig gezügelt lauter im Handel und Wandel bleibt, vor geringstem Fehl auf der Hut beharrlich weiterkämpft, Schritt um Schritt, dann weist ihn der Vollendete weiter zurecht: ›Willkommen, du Mönch, die Tore der Sinne lasse dich hüten: hast du mit dem Gesichte eine Form erblickt, so magst du keine Neigung fassen, keine Absicht fassen; da Begierde und Mißmut, böse und schlechte Gedanken gar bald den überwältigen, der unbewachten Gesichtes verweilt, befleißige dich dieser Bewachung, hüte das Gesicht, wache eifrig über das Gesicht. Hast du mit dem Gehöre einen Ton gehört – hast du mit dem Geruche einen Duft gerochen – hast du mit dem Geschmacke einen Saft geschmeckt – hast du mit dem Getaste eine Tastung getastet – hast du mit dem Gedenken ein Ding erkannt, so magst du keine Neigung fassen, keine Absicht fassen; da Begierde und Mißmut, böse und schlechte Gedanken gar bald den überwältigen, der unbewachten Gedenkens verweilt, befleißige dich dieser Bewachung, hüte das Gedenken, wache eifrig über das Gedenken.‹ Sobald nun, Priester, der Mönch die Tore der Sinne behütet hält, dann weist ihn der Vollendete weiter zurecht: ›Willkommen, du Mönch, beim Essen wisse Maß zu halten, gründlich besonnen wolle die Nahrung einnehmen, nicht etwa zur Letzung und Ergetzung, nicht zur Schmuckheit und Zier, sondern nur um diesen Körper zu erhalten, zu fristen, um Schaden zu verhüten, um ein heiliges Leben führen zu können: »So werd' ich das frühere Gefühl abtöten und ein neues Gefühl nicht aufkommen lassen, und ich werde ein Fortkommen haben, ohne Tadel bestehn, mich wohl befinden348.«‹ Sobald nun, Priester, der Mönch beim [819] Essen Maß zu halten weiß, dann weist ihn der Vollendete weiter zurecht: ›Willkommen, du Mönch, der Wachsamkeit weihe dich: bei Tage sollst du gehend und sitzend das Gemüt von trübenden Dingen läutern; in den ersten Stunden der Nacht gehend und sitzend das Gemüt von trübenden Dingen läutern; in den mittleren Stunden der Nacht magst du auf die rechte Seite wie der Löwe dich hinlegen, einen Fuß über dem anderen, gesammelten Sinnes, der Zeit des Aufstehns gedenkend; sollst in den letzten Stunden der Nacht, wieder aufgestanden, gehend und sitzend das Gemüt von trübenden Dingen läutern.‹ Sobald nun, Priester, der Mönch sich der Wachsamkeit geweiht hat, dann weist ihn der Vollendete weiter zurecht: ›Willkommen, du Mönch, mit klarem Bewußtsein wolle dich wappnen: klar bewußt beim Kommen und Gehn, klar bewußt beim Hinblicken und Wegblicken, klar bewußt beim Neigen und Erheben, klar bewußt beim Tragen des Gewandes und der Almosenschale des Ordens, klar bewußt beim Essen und Trinken, Kauen und Schmecken, klar bewußt beim Entleeren von Kot und Harn, klar bewußt beim Gehn und Stehn und Sitzen, beim Einschlafen und Erwachen, beim Sprechen und Schweigen.‹ Sobald nun, Priester, der Mönch sich mit klarem Bewußtsein gewappnet hat, dann weist ihn der Vollendete weiter zurecht: ›Willkommen, du Mönch, suche einen abgelegenen Ruheplatz auf, einen Hain, den Fuß eines Baumes, eine Felsengrotte, eine Bergesgruft, einen Friedhof, die Waldesmitte, ein Streulager in der offenen Ebene.‹ Und er sucht einen abgelegenen Ruheplatz auf, einen Hain, den Fuß eines Baumes, eine Felsengrotte, eine Bergesgruft, einen Friedhof, die Waldesmitte, ein Streulager in der offenen Ebene. Nach dem Mahle, wenn er vom Almosengange zurückgekehrt ist, setzt er sich mit verschränkten Beinen nieder, den Körper gerade aufgerichtet, und pflegt der Einsicht. Er hat weltliche Begierde verworfen und verweilt begierdelosen Gemütes, von Begierde läutert er sein Herz. Gehässigkeit hat er verworfen, haßlosen Gemütes verweilt er, voll Liebe und Mitleid zu allen lebenden Wesen läutert er sein Herz von Gehässigkeit. Matte Müde hat er verworfen, von matter Müde ist er frei; das Licht liebend, einsichtig, klar bewußt, läutert er sein Herz von matter Müde. Stolzen Unmut hat er verworfen, er ist frei von Stolz; innig beruhigten Gemütes läutert er sein Herz von stolzem Unmut. Das Schwanken hat er verworfen, der Ungewißheit ist er entronnen; er zweifelt nicht am Guten, vom Schwanken läutert er sein Herz. Er hat nun diese fünf Hemmungen aufgehoben, hat die Schlacken des Gemütes kennengelernt, die lähmenden; gar fern von Begierden, fern von unheilsamen Dingen lebt er in sinnend gedenkender ruhegeborener seliger Heiterkeit, in der Weihe der ersten Schauung. Nach Vollendung des Sinnens und Gedenkens gewinnt er die innere Meeresstille, die Einheit des Gemütes, die von sinnen, von gedenken freie, in der Einigung geborene selige Heiterkeit, [820] die Weihe der zweiten Schauung. In heiterer Ruhe verweilt er gleichmütig, einsichtig, klar bewußt, ein Glück empfindet er im Körper, von dem die Heiligen sagen: ›Der gleichmütig Einsichtige lebt beglückt‹; so gewinnt er die Weihe der dritten Schauung. Nach Verwerfung der Freuden und Leiden, nach Vernichtung des einstigen Frohsinns und Trübsinns erreicht er die Weihe der leidlosen, freudlosen, gleichmütig einsichtigen vollkommenen Reine, die vierte Schauung. – Die da nun, Priester, kämpfende Mönche sind, mit streitendem Busen die unvergleichliche Sicherheit zu erringen trachten, denen gilt bei mir diese also gegebene Weisung; die aber da als Mönche heilig geworden sind, Wahnversieger, Endiger, die das Werk gewirkt, die Last abgelegt, das Heil sich errungen, die Daseinsfesseln vernichtet, sich durch vollkommene Erkenntnis erlöst haben, denen taugen diese Dinge um seliger Gegenwart zu genießen, bei klarem Bewußtsein.«

Nach dieser Rede wandte sich Rechner Moggallāno der Priester also an den Erhabenen:

»Können nun aber des Herrn Gotamo Jünger, von Herrn Gotamo also belehrt, also gewiesen, eben alle die unbezweifelbar sichere Wahnerlöschung gewinnen, oder können es einige nicht?«

»Einige freilich, Priester, meiner Jünger, von mir also belehrt, also gewiesen, können die unbezweifelbar sichere Wahnerlöschung gewinnen, andere können es nicht.«

»Was ist wohl, o Gotamo, der Anlaß, was ist der Grund, daß, wo es doch eine Wahnerlöschung gibt, wo ein Weg dahin führt, wo Herr Gotamo als Lenker da ist, dann einige freilich der Jünger des Herrn Gotamo, von Herrn Gotamo also belehrt, also gewiesen, die unbezweifelbar sichere Wahnerlöschung gewinnen können, und andere es nicht können?«

»Da will ich dir nun, Priester, eben hierüber eine Frage stellen: wie es dir gutdünkt magst du sie beantworten. Was meinst du wohl, Priester: kennst du den Weg, der nach Rājagaham führt?«

»Gewiß, Herr, ich kenne den Weg, der nach Rājagaham führt.«

»Was meinst du wohl, Priester: es käme da ein Mann herbei, der nach Rājagaham gehn wollte, und er träte zu dir heran und spräche also: ›Ich möchte, o Herr, nach Rājagaham gehn, bezeichne mir doch den Weg dahin.‹ Und du würdest ihm sagen: ›Komm', lieber Mann, das ist der Weg nach Rājagaham. Da geh' eine Weile weiter, und bist du da eine Weile weitergegangen, so wirst du ein gewisses Dorf sehn. Da geh' eine Weile weiter, und bist du da eine Weile weitergegangen, so wirst du eine gewisse Burg sehn. Da geh' eine Weile weiter, und bist du da eine Weile weitergegangen, so wirst du einen schönen Garten, einen freundlichen Hain, eine heitere Landschaft, einen lichten Weiher vor Rājagaham erblicken.‹ Und er schlüge, von dir also belehrt, [821] also gewiesen, einen Seitenweg ein und schritte umgekehrt weiter. Aber ein anderer Mann käme herbei, der nach Rājagaham gehn wollte, und er träte zu dir heran und spräche also: ›Ich möchte, o Herr, nach Rājagaham gehn, bezeichne mir doch den Weg dahin.‹ Und du würdest ihm sagen: ›Komm', lieber Mann, das ist der Weg nach Rājagaham. Da geh' eine Weile weiter, und bist du da eine Weile weitergegangen, so wirst du ein gewisses Dorf sehn. Da geh' eine Weile weiter, und bist du da eine Weile weitergegangen, so wirst du eine gewisse Burg sehn. Da geh' eine Weile weiter, und bist du da eine Weile weitergegangen, so wirst du einen schönen Garten, einen freundlichen Hain, eine heitere Landschaft, einen lichten Weiher vor Rājagaham erblicken.‹ Und er langte, von dir also belehrt, also gewiesen, unversehrt in Rājagaham an. Was ist nun, Priester, der Anlaß, was ist der Grund, daß, wo es doch ein Rājagaham gibt, wo ein Weg dahin führt, wo du als Lenker da bist, gleichwohl der eine Mann, von dir also belehrt, also gewiesen, einen Seitenweg einschlagen und umgekehrt weiterschreiten mochte, und der andere unversehrt nach Rājagaham gelangen?«

»Das kann ich, o Gotamo, hierbei tun: Wegweiser bin ich, o Gotamo!«

»Ebenso nun auch, Priester, gibt es zwar eine Wahnerlöschung, führt ein Weg dahin, bin ich als Lenker da, und doch können einige freilich meiner Jünger, von mir also belehrt, also gewiesen, die unbezweifelbar sichere Wahnerlöschung gewinnen, und können andere es nicht. Das kann ich, Priester, hierbei tun: Wegweiser ist, Priester, der Vollendete.«


Auf diese Worte sagte nun Rechner Moggallāno der Priester zum Erhabenen:

»Es gibt da, o Gotamo, Leute, die unwillig, aus Notdurft, nicht aus Zuversicht vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen sind, Heuchler, Gleisner, Scheinheilige, aufgeblasene Windbeutel349, geschäftige Schwätzer und Plauderer, schlechte Hüter der Sinnestore, ohne Rückhalt beim Mahle, der Wachsamkeit abgeneigt, gleichgültig gegen das Asketentum, lässig in der Ordenspflicht, anspruchsvoll, aufdringlich, vor allem Gesellschaft suchend, Einsamkeit als lästige Last fliehend, matte, schwache Herzen, verworrene, unklare Köpfe, unbeständige, zerstreute Geister, Beschränkte und Stumpfe: mit diesen hat Herr Gotamo keine Gemeinschaft. Es gibt aber auch edle Söhne, die aus Zuversicht vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen sind, keine Heuchler, keine Gleisner, keine Scheinheiligen, keine aufgeblasenen Windbeutel, keine geschäftigen Schwätzer und Plauderer, strenge Hüter der Sinnestore350, mäßig beim Mahle, der Wachsamkeit ergeben, dem Asketentum zugetan, eifrig in der Ordenspflicht, anspruchslos, nicht aufdringlich, vor allem Einsamkeit suchend, Gesellschaft als lästige Last fliehend, mutige, [822] starke Herzen, einsichtige, klare Köpfe, beständige, einige Geister, Weise und Witzige: mit diesen hat Herr Gotamo Gemeinschaft. – Gleichwie etwa, o Gotamo, unter den Wurzeldüften der schwarze Rosenlauch in seiner Art als vorzüglichster gilt, unter den Kernholzdüften der rote Sandel in seiner Art als vorzüglichster gilt, unter den Blumendüften der weiße Jasmin in seiner Art als vorzüglichster gilt, ebenso nun auch ist des Herrn Gotamo Belehrung die beste in heutiger Zeit. – Vortrefflich, o Gotamo, vortrefflich, o Gotamo! Gleichwie etwa, o Gotamo, wenn man Umgestürztes aufstellte, oder Verdecktes enthüllte, oder Verirrten den Weg wiese, oder Licht in die Finsternis brächte: ›Wer Augen hat wird die Dinge sehn351‹: ebenso auch hat Herr Gotamo die Lehre gar vielfach beleuchtet. Und so nehm' ich bei Herrn Gotamo Zuflucht, bei der Lehre und bei der Jüngerschaft: als Anhänger möge mich Herr Gotamo betrachten, von heute an zeitlebens getreu352

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 818-823.
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