Erste Rede

Armut

I

[905] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Osthaine, auf Mutter Migāros Terrasse.

Da nun begab sich der ehrwürdige Ānando eines Abends, nach Aufhebung der Gedenkensruhe, dorthin wo der Erhabene weilte, begrüßte den Erhabenen ehrerbietig und setzte sich seitwärts nieder. Seitwärts sitzend sprach nun der ehrwürdige Ānando also zum Erhabenen:

»Es war einmal, o Herr, da weilte der Erhabene im Lande der Sakyer, bei Nagarakam, einer Burg im Sakyergebiete. Damals hab' ich, o Herr, vom Erhabenen selbst es gehört, selbst es vernommen: ›Armut erfahren hab' ich, Ānando, in dieser Zeit am meisten gemocht.‹ Hab' ich es wohl, o Herr, recht gehört, recht vernommen, recht gemerkt, recht behalten?«

»Gewiß hast du es, Ānando, recht gehört, recht vernommen, recht gemerkt, recht behalten. So damals, Ānando, wie heute hab' ich Armut erfahren am meisten gemocht. – Gleichwie etwa, Ānando, diese Terrasse Mutter Migāros ohne Elefanten, Rinder und Rosse ist, ohne Gold und Silber, ohne Gesellschaft von Weibern und Männern, und nur einen Reichtum aufweist an einer Schar Mönche als einzigen Gegenstand: ebenso nun auch, Ānando, hat ein Mönch den Gedanken ›Dorf‹ entlassen, den Gedanken ›Mensch‹ entlassen; den Gedanken ›Wald‹ nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken ›Wald‹ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus dem Gedanken »Dorf« entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem Gedanken »Mensch« entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist geblieben, nämlich der Gedanke »Wald« als einziger Gegenstand.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Dorf«‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Mensch«; und nur einen Reichtum weist sie auf am Gedanken »Wald« als einzigen Gegenstand.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also aber, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Armut über ihn herab.

Weiter sodann, Ānando, hat der Mönch den Gedanken ›Mensch‹ entlassen, [905] den Gedanken ›Wald‹ entlassen; den Gedanken ›Erde‹ nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken ›Erde‹ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Gleichwie etwa, Ānando, eine Stierhaut mit dem Falzeisen wohl abgeschabt, von den Falten geglättet wird: ebenso nun auch, Ānando, hat der Mönch was es auf dieser Erde an Erhebungen und Vertiefungen, an Flußläufen, an wüstem und waldigem Gebiet, an Bergen und Tälern gibt, das alles aus seinem Geiste entlassen; den Gedanken ›Erde‹ nimmt er auf als einzigen Gegenstand422. Im Gedanken ›Erde‹ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus dem Gedanken »Mensch« entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem Gedanken »Wald« entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist geblieben, nämlich der Gedanke »Erde« als einziger Gegenstands.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Mensch«‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Wald«; und nur einen Reichtum weist sie auf am Gedanken »Erde« als einzigen Gegenstand.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also aber, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Armut über ihn herab.

Weiter sodann, Ānando, hat der Mönch den Gedan ken ›Wald‹ entlassen, den Gedanken ›Erde‹ entlassen; den Gedanken ›Unbegrenzte Raumsphäre‹ nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken ›Unbegrenzte Raumsphäre‹ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus dem Gedanken »Wald« entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem Gedanken »Erde« entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist übrig geblieben, nämlich der Gedanke »Unbegrenzte Raumsphäre« als einziger Gegenstand.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Wald«‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Erde«; und nur einen Reichtum weist sie auf am Gedanken »Unbegrenzte Raumsphäre« als einzigen Gegenstand.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also aber, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Armut über ihn herab.

Weiter sodann, Ānando, hat der Mönch den Gedanken ›Erde‹ entlassen, den Gedanken ›Unbegrenzte Raumsphäre‹ entlassen; den Gedanken ›Unbegrenzte Bewußtseinsphäre‹ nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken ›Unbegrenzte Bewußtseinsphäre‹ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus dem Gedanken »Erde« entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus [906] dem Gedanken »Unbegrenzte Raumsphäre« entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist übrig geblieben, nämlich der Gedanke »Unbegrenzte Bewußtseinsphäre« als einziger Gegenstand.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Erde«‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Unbegrenzte Raumsphäre«; und nur einen Reichtum weist sie auf am Gedanken »Unbegrenzte Bewußtseinsphäre« als einzigen Gegenstand.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also aber, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Armut über ihn herab.

Weiter sodann, Ānando, hat der Mönch den Gedanken ›Unbegrenzte Raumsphäre‹ entlassen, den Gedanken ›Unbegrenzte Bewußtseinsphäre‹ entlassen; den Gedanken ›Nichtdaseinsphäre‹ nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken ›Nichtdaseinsphäre‹ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus dem Gedanken »Unbegrenzte Raumsphäre« entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem Gedanken »Unbegrenzte Bewußtseinsphäre« entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist übrig geblieben, nämlich der Gedanke »Nichtdaseinsphäre« als einziger Gegenstand.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Unbegrenzte Raumsphäre«‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Unbegrenzte Bewußtseinsphäre«; und nur einen Reichtum weist sie auf am Gedanken »Nichtdaseinsphäre« als einzigen Gegenstand.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also aber, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Armut über ihn herab.

Weiter sodann, Ānando, hat der Mönch den Gedanken ›Unbegrenzte Bewußtseinsphäre‹ entlassen, den Gedanken ›Nichtdaseinsphäre‹ entlassen; den Gedanken ›Grenzscheide möglicher Wahrnehmung‹ nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken ›Grenzscheide möglicher Wahrnehmung‹ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus dem Gedanken »Unbegrenzte Bewußtseinsphäre« entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem Gedanken »Nichtdaseinsphäre« entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist übrig geblieben, nämlich der Gedanke »Grenzscheide möglicher Wahrnehmung« als einziger Gegenstand.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Unbegrenzte Bewußtseinsphäre«‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Nichtdaseinsphäre«; und nur einen Reichtum weist sie auf am Gedanken »Grenzscheide möglicher Wahrnehmung« [907] als einzigen Gegenstand.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also aber, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Armut über ihn herab.

Weiter sodann, Ānando, hat der Mönch den Gedanken ›Nichtdaseinsphäre‹ entlassen, den Gedanken ›Grenzscheide möglicher Wahrnehmung‹ entlassen; geistige Einheit ohne Vorstellung nimmt er auf als einzigen Gegenstand. In geistiger Einheit ohne Vorstellung erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus dem Gedanken »Nichtdaseinsphäre« entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem Gedanken »Grenzscheide möglicher Wahrnehmung« entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist übrig geblieben, nämlich dieser Körper da, behaftet mit den sechs Sinnen, als Bedingung des Lebens.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Nichtdaseinsphä re«‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um den Gedanken »Grenzscheide möglicher Wahrnehmung«; und nur einen Reichtum weist sie auf an diesem Körper da, behaftet mit den sechs Sinnen, als Bedingung des Lebens.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also aber, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Armut über ihn herab.

Weiter sodann, Ānando, hat der Mönch den Gedanken ›Nichtdaseinsphäre‹ entlassen, den Gedanken ›Grenzscheide möglicher Wahrnehmung‹ entlassen; geistige Einheit ohne Vorstellung nimmt er auf als einzigen Gegenstand. In geistiger Einheit ohne Vorstellung erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ›Auch diese geistige Einheit ohne Vorstellung ist zusammengesetzt, zusammengesonnen: was aber irgend zusammengesetzt, zusammengesonnen ist, das ist wandelbar, muß untergehn‹: das erkennt er. In solcher Kunde, solchem Anblicke löst sich ihm das Herz vom Wunscheswahn ab, und löst sich ihm das Herz vom Daseinswahn ab, und löst sich ihm das Herz vom Nichtwissenswahn ab. ›Im Erlösten ist die Erlösung‹, diese Erkenntnis geht auf. ›Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt‹ versteht er da. Also erkennt er: ›Spaltungen, die aus Wunscheswahn entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus Daseinswahn entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus Nichtwissenswahn entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist übrig geblieben, nämlich dieser Körper da, behaftet mit den sechs Sinnen, als Bedingung des Lebens.‹ Er weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um Wunscheswahn‹, weiß: ›Ärmer geworden ist diese Denkart um Daseinswahn‹, weiß: ›Ärmer geworden [908] ist diese Denkart um Nichtwissenswahn; und nur einen Reichtum weist sie auf an diesem Körper da, behaftet mit den sechs Sinnen, als Bedingung des Lebens.‹ Um was denn also weniger da ist, darum ärmer geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: ›Bleibt dieses, bleibt jenes.‹ Also, Ānando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine, allerhöchste Armut über ihn herab.

Wer aber auch immer, Ānando, in vergangener Zeit als ein Asket oder Priester durchaus reine, allerhöchste Armut errungen hatte, ein jeder solche hatte eben diese durchaus reine, allerhöchste Armut errungen. Wer aber auch immer, Ānando, in künftiger Zeit als ein Asket oder Priester durchaus reine, allerhöchste Armut erringen wird, ein jeder solche wird eben diese durchaus reine, allerhöchste Armut erringen. Wer aber auch immer, Ānando, in dieser Zeit als ein Asket oder Priester durchaus reine, allerhöchste Armut errungen hat, ein jeder solche hat eben diese durchaus reine, allerhöchste Armut errungen.

Darum aber, Ānando: ›Durchaus reine, allerhöchste Armut wollen wir erringen‹: so habt ihr, Ānando, euch wohl zu üben423


Also sprach der Erhabene. Zufrieden freute sich der ehrwürdige Ānando über das Wort des Erhabenen.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 905-909.
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