|
[562] Puṇṇikā:
236
Zu holen Wasser ging ich hin
Zur kühlen Quelle Tag um Tag,
Aus Furcht vor Strafe, strenger Zucht,
Aus Furcht vor meiner Herrin Zorn.
Was fürchtest du, Brāhmane, da,
Gebückt im Bache, Tag um Tag,
Erzitternd, bebend im Gebein
Vor Kälteschauern, scharfer Qual?
Der Brāhmane:
238
Du weißt es, Frau, du weißt es wohl,
O Puṇṇikā, um was du fragst
Den Mann, der frommes Werk begeht
Und Frevelwerk vergasten macht.
Wer je in Jugend, Alter je
Getan hat Übel, arge Tat:
Benetzt mit Wasser wird er neu
Genesen sein von Sündenwerk!
Puṇṇikā:
Wer hat wohl solches offenbart,
Ein Tor dem andern Toren, dir:
»Benetzt mit Wasser wirst du neu
Genesen sein von Sündenwerk?«
[563] 241
Zum Himmel dann erhöben sich
Schildkröten, Krokodile, ja,
Und Schlangen, Frösche, was da frei
In Wassern fristet, stieg' empor.
242
Wer Schafe schlachtet, Eber hetzt,
Wer Hirsche jagt, wer Fische fängt,
Wer Räuber, Mörder, Henker ist,
Getan hat ungeheure Tat:
Benetzt mit Wasser würd' er neu
Genesen sein von Sündenwerk.
243
Wenn diese Wasser wüschen ab
Von dir das Übel, einst getan,
Sie wüschen auch das Gute weg:
Und leer und ledig gingst du aus.
244
Was hier dich ängstlich hat vermocht
Im Bach zu baden Tag um Tag,
Das meide nur, Brāhmane, du,
Bekümmern soll dich Kälte nicht.
Der Brāhmane:
Verirrt in Irrsal bin ich, ach,
Den Weg zum Heile zeigst du hell:
O Frau, ich will dir Wasserguß
Und meinen Mantel bringen dar!
Puṇṇikā:
246
Behalt' ihn dir, den Mantel dein,
Den Mantel hab' ich nicht begehrt:
Doch wenn du fürchtest Leiden je,
Wenn Leiden unlieb dich bedünkt,
[564] 247 · 248
So meide tapfer Übeltat,
Geheim und offen hüte dich!
Solang du böse Taten tust,
Solang du Böses wirken willst
Wirst nie erlöst von Leiden du,
Und nennst du gleich auch Jünger dich.
Ja, wenn du fürchtest Leiden je,
Wenn Leiden unlieb dich bedünkt,
249
So komm': der Meister nimmt dich auf
In seinen Orden, seine Zucht;
In seiner Regel sei du rein,
Zum Wohle wird es taugen dir.
Der Brāhmane:
250
Mein Hort und Helfer sei der Herr
Und seine Satzung, sein Gebot:
Will rein in solcher Regel sein,
Zum Wohle wird es taugen mir!
Brāhmanenlehrling war ich nur,
Brāhmanenmeister bin ich nun:
Drei Wissen weiß ich, seh' den Sinn,
Ich kenn' die Kunde, preiserprobt.
Buchempfehlung
Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.
32 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro