Vorrede zur Ersten Auflage (1899)

Die Lieder der Mönche und Nonnen Gotamo Buddhos gehören dem Pāli-Kanon an. Sie sind der dritten, der sogenannten Kürzeren Sammlung, Khuddakanikāyo, einverleibt worden, jenem Schriftenkomplex, der im Gegensatze zu den anderen vier großen Sammlungen vorwiegend rein metrische Texte enthält. Auch von den Liedern sind uns nur Bruchstücke überkommen, einzelne Strophen, welche der Meister oder hervorragende Jünger einst, geeigneten Ortes, gesagt haben. Diese Aussprüche, die schon bei Lebzeiten Gotamos gesammelt und sorgfältig aufbewahrt und bald nach seinem Tode nüchtern fixiert wurden, sind von den Ordnern der Texte nach einem beliebten äußeren Schema hier zusammengestellt, nämlich als Einser-Bruchstück, Zweier-Bruchstück, Ekanipāto, Dukanipāto, und so fort, nach Anzahl der jeweiligen Strophen. Wenn also zwar eine kleinere oder größere Reihe von Strophen zusammenhängt und zusammengehört, so haben die Lieder, die metrischen Texte überhaupt, im allgemeinen einen echt rhapsodischen Charakter und sind weit davon entfernt abgerundete Darstellungen zu liefern, welche den anderen Sammlungen, besonders dem Majjhimanikāyo, vorzüglich eignen.

So treu die Überlieferung des Textes ist, bietet sie doch, wie das bei einer anfangs nur mündlich gepflegten Tradition nicht anders sein kann, gelegentlich Varianten. Freilich sind diese zumeist, als Solöcismen und dergl., recht untergeordneter Art, obwohl nicht immer. Gerade in den Liedern finden sich manche der schönsten Belege, oft άπαξ λεγομενα, des klassischen Pāli zerstreut in den verschiedenen Codices vor. Die neueren Redaktoren unseres Textes wählten nun, sehr begreiflich, jene Lesarten, die ihnen am verständlichsten schienen, wobei die Frage offensteht, ob es auch die richtigeren, besseren, älteren gewesen: die abweichenden verzeichneten sie dann im Kommentar; oder aber andere Diaskeuasten und Scholiasten nahmen sie in ihre Handschriften auf. Nur eine, jetzt erst durchführbare, möglichst vollständige Vergleichung der Parallelen und Parathesen kann den Wert bedenklicher Pleographien für uns bestimmen. Ihn habe ich bei der Textgestaltung, die meiner Übersetzung zugrunde liegt, zu finden gesucht. Manche von Oldenberg und Pischel in ihrer vortrefflichen Textausgabe von 1883 gemiedene Variante ist aufgenommen, manche vice versa vertauscht, zuweilen kombiniert, je nach Maßgabe der mir besser dünkenden Lesarten und der besten Zeugnisse. Natürlich wurde hierbei auch der Kommentar Dhammapālos [273] gebührend gewürdigt, jener letzte Behelf, der, ein Jahrtausend jünger als der Text, nur mit äußerster Skepsis benützt werden darf. Wichtigere kritische Ergebnisse sind in den Anmerkungen kenntlich gemacht; Nebensächliches wird der Forscher leicht selbst bemerken.

Die Form der Lieder ist reich und mannigfaltig; und zwar sind alle die ursprünglichen, aus dem Volke und seinen Barden hervorgegangenen, nicht die künstlich geschaffenen, Versmaße vertreten. Ein Merkmal ist ihnen samt und sonders eigen: der Anuprāsas, d.i. der Stabreim. Dieser Stabreim ist nicht weniger mächtig als bei den Griechen, oft noch stärker und elementarer geartet. Er läßt sich auch wohl dem altnordischen Bruder vergleichen ist aber, bei aller Wucht des Ausdrucks, wesentlich bildsamer: er zeigt Kraft und Anmut in innigster Verbindung, ist beiden entsprossen, als neues Produkt. So stellt er, um den Tropus beizubehalten, eine völlig einzige Mischung herber Unbeugsamkeit und feiner Geschmeidigkeit dar; was eben ganz den Anlagen des indischen Āryers entspricht. Dies alles wird selbstverständlich durch eine Übersetzung – und wäre sie gleich eine identische – vielmehr erraten als wirklich gesehn werden.

Bei der unverkennbaren Volkstümlichkeit im besten Sinne, die dem Pāli von Haus aus eigen ist und es über das Saṃskṛt stellt, darf jedoch eins nicht übersehn werden: die Lieder, und die Texte überhaupt, Sprüche wie Reden, müssen von einer künstlerisch hochbegabten Persönlichkeit gestaltet worden sein, einem Manne, der dem Ganzen seinen Geistesstempel aufgeprägt hat, so unauslöschlich, daß auch die Jünger, wo immer sie auftreten, damit gezeichnet sind, und die einzelnen Individualitäten von jener alles überragenden und umfassenden gleichsam eingerahmt erscheinen. Erst in verhältnismäßig späteren Texten begegnen wir wieder einer selbständigen Weiterbildung, d.h. Entartung, die bei unseren Liedern noch fehlt. Bereits im Suttanipāto, »Den Bruchstücken der Reden«, trifft man z.B. das Dogma von den zweiunddreißig lakkhaṇāni des mahāpuriso, und so noch anderes, das trotz des hohen Alters dieser Anthologie, wofür kein Geringerer als Asoko einsteht, ohne Zweifel schon einer jüngeren Periode zugehört.

Der Vortrag des Liedes ist heute noch wie in den alten Zeiten, ja wie er es meist schon bei Entstehung der einzelnen Strophen und Stanzen war, durchaus melischer Natur. Die Lieder wurden und werden gesungen, aber nicht in unserem landläufigen Sinne, sondern ähnlich den a capella Gesängen Palestrinas, also in langgezogenen, einförmigen Melodien. Der musikalische Kanon der christlichen Kirche, den Palestrina vorfand und zur höchsten Vollendung brachte, ist nun sicher östlichen Ursprungs; daher läßt sich sogar ein gewisser historischer Zusammenhang der einerseits so verschiedenen, anderseits aber so ähnlichen Weisen kaum unbedingt ableugnen.

[274] Und ungewöhnlich wie die Melodie dieser Lieder ist der Inhalt. Wer etwa das Buch zur Unterhaltung in die Hand genommen hat, wird es wohl nach wenigen Minuten hübsch beiseite legen und besser tun das Canticum canticorum oder andere παϑους ποιηματα aufzuschlagen. Asketische Poesie und asketische Musik kann billig nicht jedermanns Sache sein. Wird doch selbst die asketische Ethik, trotz aller inneren Wahrheit, immer ein Fremdling auf Erden, immer paradox bleiben. Stets wird der Weltmann dem Weltüberwinder sehr vernünftig entgegenhalten: »Ach, dann wäre ja diese ganze Welt, so gut und schlecht sie eben ist, mit ihren Millionen tüchtiger Menschen, Armeen und Ameisen, mit all ihren Laboratorien, Kirchen und Kuppeln, Museen und Theatern, Bahnen und Banken, nur eine kolossale Mystifikation, der hie und da einmal ein Heiliger ein Ende machte« – und es soll ihm, um des Friedens willen, nicht widersprochen werden. Er mag, nach dem Rate der Weisen, jeden in seiner Art gelten lassen, da man ihn gelten läßt, und bedenken, daß die asketische Einfalt wirklich eine menschliche Eigentümlichkeit und unvertilgbar ist; wie die modernen Belege, die ich zu den Versen 919 und 1149 der Lieder der Mönche und zu Vers 218 der Lieder der Nonnen als einige jüngste Tatsachen beigebracht habe, deutlich genug dartun. Ein anderes ist allerdings brāhmanische und christliche Askese, und ein anderes buddhistische Askese; nicht dem Wesen nach, sondern sofern es sich darum handelt, die wahre Motivation zu verstehn. Dort mythologische Verschwommenheit, hier wolkenlose Klarheit. »Die der höchsten Erkenntnis entsprechendste Sprache«, sagt Richard Wagner, seiner Zeit weit vorauseilend, im 6. Briefe an Röckel, »hat jedenfalls jener indische Buddha geredet.« Man kann die buddhistische Lehre Philosophie der Heiligkeit nennen.


Wien, Mitte März 1898.

K.E.N.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 5-6,273-276.
Lizenz:
Kategorien: