Zur Sonderausgabe (1911) des Mahāparinibbānasuttam S. 231-301

Zur Erlöschung

[17] Der Bericht über die letzten Tage des Meisters ist das dritte Stück im zweiten Bande der Längeren Sammlung der Reden Gotamo Buddhos. Durch wohlerfahrene Jünger sorgsam überliefert führt er uns alsbald in jene große klassische Zeit zurück. In schlichten Zügen erstehn die Orte, Personen, Geschehnisse wieder vor unserem Blicke, so anschaulich und echt, wie sie nur der Augen- und Ohrenzeuge darstellen konnte. Da empfängt man denn oft den Eindruck, als ob man sich unmittelbar in einer gewaltigen Gegenwart befände, weil unserem Sinn und Verstand doch noch gar manches Bedeutende und Schöne naheliegt, uns menschlich verwandt sogleich anspricht, so fremdartig, herb und seltsam auch sonst die Umrisse der Orte, die Sitten der Zeiten, das Betragen der Personen, der Verlauf der Ereignisse in der längst entschwundenen, uns sehr fernen Vergangenheit vom Alltäglichgewohnten abweichen.

Der hohe Wert dieser Urkunde war in Indien verhältnismäßig früh erkannt. Es müssen wohl die Begebenheiten der letzten Tage des Meisters auch den weiteren Volkskreisen vertraut geworden sein. Denn es sind uns auf den noch vorhandenen Resten der Bauten und Steindenkmale der folgenden Zeiten die einzelnen Szenen des abschließenden Lebens in ungemein zahlreichen Bildern erhalten, auf den unendlich vielen, freilich meist minderwertigen, zuweilen aber in künstlerischer Vollendung ausgeführten Skulpturen jener verschütteten Ruinen, mit denen von Afghanistan an nach Süden und nach Osten das indische Festland weithin übersät ist, oft alsogleich sichtbar, öfter noch in geringerer oder tieferer Erd- und Geröllschicht verborgen. Während diese Kunst nun auf indischem Boden längst in Trümmer versunken und verschollen war, sind die Anhänger und Verbreiter des Ordens über die Grenzen nach Hochasien und Tibet bis nach China vorgedrungen. Überall dort ist dann das große Erbe freudig angetreten und landestümlich verwertet und ausgestaltet worden. Schon die äußeren, grob[17] sichtbaren Umstände zeigen also an, wie weit die Wirkung unserer alten Urkunde sich erstreckt hat.

Daraus ergibt sich schon hier, daß man bestrebt gewesen sein mußte, den Text an sich richtig weiterzuüberliefern: ein Unternehmen, das bei fremden, zwar recht kultivierten, doch nach indischem Maße barbarischen Völkern fast unübersteiglichen Schwierigkeiten und Hindernissen begegnete. Ein beispielloser Erfolg aber krönte das Wagnis. Csoma Körösi hat uns von dieser mächtigen Wendung der Ereignisse, und wie die Erben des Sakyers nach und nach den halben Erdkreis eroberten, einen sehr guten Bericht aus der Einleitung zur hundertbändigen Ausgabe des Kāh-gyur erstattet, der ebenso knapp als zutreffend besagt: die Lehre sei von Indien allmählich überallhin in die Runde ausgegangen, in das Sanskrit, Tibetische, Chinesische, weiter sodann in noch manche gangbare De i oder dialektische Mundart und »allerhand Sprachen der Mlecchās« übertragen und als Ganzes je einzeln bewahrt worden. Und so ist es ohne Zweifel geschehn. Vorzüglich sind es die tibetischen und chinesischen Forscher und Übersetzer gewesen, die da in Gemeinschaft mit den indischen Sendboten in kurzer Zeit ihren Ländern einen buddhistischen Kanon geschaffen und eine unermeßliche Fülle neuen geistigen Reichtums sich erworben haben. Dies konnte, nördlich vom Ganges, nur insofern gelingen, als die Inder mit den vollendeten Werkzeugen ihrer Sprache und Kultur das fremde, rotwelsche Wortgut erst wie eine Glockenspeise einschmolzen, um es sodann in herrlich neu funkelnden Gebilden wiedererstehn zu lassen. Bei diesen so zustande gebrachten Schöpfungen mußte, ach, vieles wohl oder übel eine Färbung nach der Landesart annehmen, mochten Gehalt und Gestalt auch ehrlich indisch bleiben; die eigenartig glitzernden Griffe und Henkel der bodenständigen Kultur und ihrer Sagen durften nicht fehlen, um dem Volke zunächst als Handhabe dienen zu können.

Von solchen fremdartigen Stoffen und Zutaten ist nun unser im Süden, von Magadhā her, gar treu überlieferte Text ziemlich frei. Die Geschichte seiner Entstehung ist sehr einfach. Nach dem Tode des Meisters haben die Jünger auch noch die letzten Reden und Ereignisse nach altbewährter vedischer Methode ihrem Gedächtnisse fugenartig eingeprägt, wie sie ja schon vorher die Meisterreden ganz ebenso von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr rein bewahrt und erhalten hatten, indem bei den regelmäßigen Zusammenkünften vor und nach der Regenzeit, und wo sich außerdem wandernde Jünger aus den vier Weltgegenden trafen, eben immer ein jeder berichtete, was er selbst auf seiner mehr oder minder längeren Wanderschaft mit dem Meister von Angesicht gehört, von Angesicht vernommen hatte. Daher beginnt eine jede der uns also überlieferten Reden mit den Worten: Das hab' ich gehört, wobei der Nachdruck auf dem Ich liegt: andere haben das gehört, ich habe das [18] gehört. Auf diese Weise ist die umfassende Sammlung der Reden Gotamo Buddhos nach und nach zustande gekommen, unverkennbar echt gezeichnet mit dem Stempel seines Geistes. Wesentlich erleichtert wurde diese Art der Überlieferung durch das Mittel des damals eben kulminierenden Pāli, der beliebten Umgangsprache, die, den unerschöpflichen Gehalt, Reichtum und Wohlklang des Sanskrit noch um neue jugendkräftige Ausdrucksmöglichkeiten vermehrend, zu einer klaren lebendigen Quelle täglicher Mitteilung geworden war: einer wunderbar reinen lingua franca, die sich an Feinheit der Form am besten dem Toskaner Dialekt des Trecento im Verhältnis zum Latein vergleichen läßt.

Nachdem Gotamo selbst, mit seinen Jüngern ein halbes Jahrhundert hindurch in ganz Mittelindien immer von Ort zu Ort wandernd, nur während der drei Monate der Regenzeit seßhaft und einsam zurückgezogen, allenthalben schon als der beste Künder und Verkünder erschienen war, pflegten nun die Mönche nach dem Verscheiden des Meisters bald noch in weitere Fernen hinauszuziehen. Sie waren ja Bürger der vier Weltgegenden, wie der beschwingte Vogel nur mit der Last seiner Federn dahinfliegt, hatten sie nur mit Gewand und Almosenschale beschwert weiterzupilgern. So wirkten sie geistiges Werk durch Beispiel und Wort. Aber nach Jahren und Jahrzehnten, nach einem Jahrhundert und darüber begann die lebendig fließende Sprache allmählich zu vertrocknen, auch sie natürlich wie alles dem Wandel und Verfall unterworfen. Da hatten denn die Nachfolger von nun an Silbe um Silbe, Wort um Wort der Satzung in erstarrter Gestalt, in der absterbenden und endlich toten Sprache weiterzuüberliefern. So mußte freilich in Indien wie außerhalb Indiens der ursprünglich rein asketische Orden mehr und mehr in gelehrte Schulen ausarten. Gerade diesem Umstande verdanken wir aber den so erstaunlich getreu erhaltenen alten Text, der alsbald auf Stein, Metall, Holz, zumeist aber auf Palmblattkarton dauernd fixiert wurde.

Während in den folgenden Jahrhunderten wilde Barbarenstürme über Indien dahinfegten, die erst mit der englischen Herrschaft völlig beschwichtigt wurden, Stürme, die fast die ganze alte Kultur wie Spreu durcheinanderwirbelten, hatten jene alten Pāli-Texte im Süden und Osten einen sicheren Hort gefunden. Bei den fremden Völkerschaften in Zeilon, Barma und Siam herzlich willkommen geheißen, haben die indischen, nunmehr hochgelehrten Sendboten einheimische Meister herangebildet und Musterschulen philologischer Forschung geschaffen, unseren Text von Generation zu Generation schlechthin automatisch übertragen: eine Kunst und Arbeit, bei der jene Doktoren außerhalb Indiens peinlich saubere Selbstzucht und Selbstverleugnung bewähren mußten, wenn das feinste Filigrangewebe vergangener Jahrhunderte überhaupt noch Bestand haben konnte.

[19] Um die Reden herum hatte sich im Laufe der Zeiten schon von Indien her ein mythischer Rahmen, ein Sagenkreis gebildet, dessen Stäbe und Klammern aus der vedischen Kultur herstammten. Waren auch die Reden selbst unverziert und unausgeschmückt überliefert worden, der Rahmen mußte eine derbere Handhabe bieten, mußte auf viele Generationen vorhalten. Diesem technisch-ökonomischen Zwecke kamen nun die Anschauungen und Sagen der großen heroischen Vorzeit trefflich zustatten. Schon Gotamo hatte ja gelegentlich auf die Ansichten und Vorstellungen der vedischen Seher gern Bezug genommen, an sie angeknüpft, davon ausgehend seine eigene Anschauung entwickelt. Die Ordner der Texte haben nun den Kranz und Rahmen jeweilen entsprechend verwertet, meist mit glücklichem Gelingen, dem Geiste der Darstellung angemessen. Selten nur kommt es vor, daß ein Riß oder eine Schramme hemmt oder stört. Dieser äußeren Fassung darf natürlich keine überragende Wichtigkeit zuerkannt werden. Die Botschaft und Person Gotamos kann aus dem Kreise und Rahmen der Sagen wohl verklärt angedeutet, aber nie richtig erschlossen werden. So nennt sich beiläufig einmal Gotamo zum Sonnenstamme gehörig: und in der Tat hatte das fürstliche Geschlecht der Sakyer unter manchen anderen Beinamen auch diesen, nämlich: sonnenverwandt, ein Titel, der den Sakyern als gerühmten Abkommen der Okkākiden und Raghuiden mit anderen Herrscherstämmen gemeinsam zukam und der in die vedische Urzeit hinaufreicht. Einer solchen Angabe aber etwa entnehmen wollen, Gotamo selbst habe nie gelebt, er sei ein Symbol der Sonne usw., ist genau so zutreffend wie der Nachweis jenes witzigen Franzosen, daß Napoleon nie gelebt habe, ein Anagramm oder Kryptogramm für Apollon sei, von Leto, das ist Letizia geboren, zwölf Marschälle gehabt habe, das sind die zwölf Zeichen des Tierkreises, mit dem Namen Buonaparte natürlich den guten Teil, das Reich des Lichts personifizieren sollte usw. Wie das nun bei diesem Welteroberer alles überraschend gut zutrifft, treffen auch bei unserem Welterleuchter ganz analoge Angaben prächtig zu, bis herab zu dem von einem holländischen Astrophilologen genau berechneten Horoskop, daß Gotamos Sohn Rāhulo nicht etwa im Hinblick auf den Ahnherrn Raghus so genannt wurde, vielmehr das Produkt von Sonne und Erde, das ist eine Mondesfinsternis war: gleichwie Napoleons Sohn als Horos, das Produkt von Isis und Osiris, ausgerechnet wurde. Es läßt sich in dergleichen Dingen, wenn man will und sie nur etwas geistvoll behandelt, eine gewisse prästabilierte Harmonie eines Gewaltigen mit der Natur entdecken: aber der nüchterne Forscher, versteht sich, kann von solchen Zügen nicht irregeleitet werden.

Nach Europa ist ein einigermaßen verläßlicher Bericht über die Grundgedanken Gotamos zuerst durch Spence Hardy gedrungen. Dieser Mann war [20] ein tüchtiger wesleyanischer Missionar, seit 1825 auf Zeilon, der nach zwanzigjährigem täglichem Umgang mit siṇhalesischen Priestern uns die erste eigentliche Bekanntschaft mit dem Buddhismus vermittelt hat. Ohne Kenntnis des Pāli, nur aus den volkstümlichen Quellen schöpfend, konnte er gleichwohl drei vortrefflich unterrichtende Werke herausgeben, von denen das erste, der 1850 in London erschienene Band Eastern Monachism mit seiner lebendigen, unmittelbar anschaulichen und zugleich tiefwurzelnden Darstellung bleibenden Wert hat. Nebenbei sei hier bemerkt, daß Schopenhauer, wenige Jahre vor seinem Tode, die Bedeutung solcher Quellen natürlich sofort erkannt hatte: es war ja das Beste gewesen was er, schon am Ende seiner Laufbahn, von jenen Lehren je hatte erfahren können. Denn was vor Spence Hardy bekannt geworden war, mochte immerhin gar viel des Guten bieten, zumal in den Veröffentlichungen des feinsinnigen Burnouf, und zwei Jahrzehnte früher in den Abhandlungen des Petersburger Akademikers Isaak Jakob Schmidt, deren Forschungen vorwiegend der späten nördlichen Tradition nachzuschürfen hatten: aber der antike Torso war vor lauter groteskem Schutt und Geröll kaum wahrzunehmen. Tiefer schauende Geister konnten freilich auch hier mit ihrem Scharfblicke durchdringen und die edlen Umrisse schon deutlich sehn. Aus eben diesen letzteren Arbeiten und dem verwandten Buche Köppens hatte sich um 1858 Richard Wagner eine bewundernswerte Kenntnis erworben. »Ja«, sagte er, damals noch unverhutzelt, zur Wesendonk, »das ist eine Weltansicht, gegen die wohl jedes andere Dogma kleinlich und borniert erscheinen muß! Der Philosoph mit seinem weitesten Denken, der Naturforscher mit seinen ausgedehntesten Resultaten, der Künstler mit seinen ausschweifendsten Phantasien, der Mensch – mit dem weitesten Herzen für alles Atmende und Leidende, finden in ihm, diesem wunderbaren, ganz unvergleichlichen Weltmythos alle die unbeengteste Statt.« Und zwar schrieb er dies, nachdem er nicht lange vorher bekannt hatte, wie unerquicklich und widerwärtig es ihm geworden war, sich durch den ganzen breiten Wust ungeschlachter Darstellungen und Fratzen hindurchzuarbeiten: »Den Çakya-Sohn, den Buddha, mir rein zu erhalten, ist mir, trotz der chinesischen Karikatur, aber doch gelungen«, spricht er dann am Schluße naiv aus. – Jene Zerrbilder zu bevorzugen ist neuerlich gelehrte Mode geworden: aber das ist eine Welle, die bald vorüber sein wird.

In fremden Ländern, bei monogolischen Stämmen und bei den näher benachbarten dravidischen und indonesischen Völkerschaften, den ārischen Typus rein zu bewahren war allerdings schwer, sehr schwer. Es ist eben auch nur der schier übermenschlichen Mühe jener alten Gilde von Wortbehütern zu verdanken, daß die sprechenden Urkunden, vornehmlich im Süden, heute noch unverkümmert bestehn. Zeilon hat diesen Schatz emsig gehegt, [21] emsiger noch Barma und Siam. Die Ausgabe des buddhistischen Kanons, die unter der Regierung des kürzlich verstorbenen Königs Cuḷālaṉkarn 1894 vollendet wurde, erweist sich bei kritischer Vergleichung und Prüfung immer mehr und mehr als jene Urquelle der Überlieferung, aus welcher der wohlausgerüstete europäische Philologe sein Wissen und Verständnis zu schöpfen hat. Die Lesarten dieser siamesischen Ausgabe bewähren sich nach Anlegung aller kritischen Sonden, nach Verwertung des komplizierten archäologischen Apparats in der Regel durchgängig als der besser bestätigte, ja zuweilen, durch epigraphisches Material gestützt, als der sichere klassische Text, Silbe für Silbe, Satz um Satz. Jeder Vergleich, wo immer man ansetzen mag, zeigt dies sehr bald; so insbesondere auch hier, bei unserem Text, im Großen Verhör über die Erlöschung. So hoch verdienstvoll auch seiner Zeit die erste europäische Textausgabe war, die der unvergeßliche Childers auf Grundlage der siṇhalesischen Handschriften vor etwa vierzig Jahren musterhaft vorbereitet und zustande gebracht hat, kann man dieselbe, von späteren zu geschweigen, heute ebensowenig mehr ernstlich benützen, als wie etwa eine aldinische Homer-Ausgabe: ein so großes, ein so ungeheures Stück Weges haben uns die Wortbewahrer und Wortbehüter am Gestade des Menam vorwärtsgebracht.

An neueren Übersetzungen unseres Textes hat es bisher keineswegs gemangelt. Bruchstücke davon gibt Oldenberg, »Buddha«, 5. Auflage Stuttgart 1906, Pischel, »Leben und Lehre des Buddha«, Leipzig 1906, Windisch in der Studie »Māra und Buddha«, Leipzig 1895, Warren in der Sammlung »Buddhism in Translations«, Cambridge, Mass., 1896, ferner hat Kern das ganze Stück im »Buddhismus«, Leipzig 1882-1884, mehr oder weniger vollständig bearbeitet, viel genauer und sorgfältiger für seine Zeit aber Turnour vor schon über siebzig Jahren im Journal of the Asiatic Society of Bengal, Kalkutta 1838, und neuerdings hat noch Fleet im Journal of the Royal Asiatic Society, London 1906-1909 das letzte Kapitel ungemein eingehend untersucht, behandelt und zumeist übersetzt. Als erster Versuch einer unverkürzten Wiedergabe ist die Arbeit von Rhys Davids zu nennen, »The Book of the Great Decease«, Sacred Books of the East vol. XI Oxford 1881, jetzt im Verein mit Mrs. Rhys Davids wiederum erschienen in den »Dialogues of the Buddha«, Part II, London 1910. Endlich ist noch anzuführen Dutoit, »Das Leben des Buddha«, Leipzig 1906, und Samarasekera mit seiner »Singhalese Translation«, Buddhist Pali Texts, Kolombo 2448 (= 1905), zwei Übersetzer, die ebenso wie die beiden Rhys Davids schon das Ganze befassen. Alle diese sehr schätzenswerten Arbeiten haben freilich das wichtige, reiche archäologische Material gar nicht benutzt, in keiner Weise zum philologischen Verständnisse herangezogen, beruhen ausschließlich auf dem [22] siṇhalesischen Text und auf seinen Kommentaren. Diese letzteren nun, statt das Verständnis zu fördern, lenken weit davon ab, auf ödes versandetes Gebiet, wo nur mehr das Unkraut des verkrüppelten Wortkrams üppig gedeiht. Nach längerem Studium der Kommentare an Ort und Stelle in freundlichem Verkehr mit den gelehrten Mönchen der Insel habe ich mich bereits vor Jahren von dieser betrübenden Tatsache überzeugen lassen und mit ihr abfinden müssen. Aus solchen Kommentaren einer tausend und mehr Jahre späteren Zeit ist gewiß allerhand Vortreffliches zu lernen, nur kein Einblick in die alten Urkunden. Diese müssen in sich selbst zur Sprache gebracht werden, und zwar durch eine vollkommen umfassende, Wort um Wort abwägende und vergleichende Analyse, der die Synthese zu folgen hat; zugleich aber müssen die Quellen der vereinigten indischen Philologie und Altertumskunde unversieglich fließen, zur richtigen Wiederbelebung verwendet werden, aus den Schachten und Vorräten der einzelnen Disziplinen: sonst bleibt es bei dürrer verstaubter Scholastik. Unser Text ist ja ein organischer Teil der Gesamtkultur Indiens: nach allen Richtungen laufen die Röhren, Adern, Äderchen, Netzenden aus, die das Kleinste und Feinste wie auch das Grobe und Große miteinander im Zusammenhange halten. Was wir brauchen ist also ein verläßlicher Atlas, oder besser ein, so zu sagen, anatomischer und physiologischer Kommentar. Und der kann gewiß nicht aus einem isolierten Text, oder aus einer Textgruppe, nicht einmal aus dem ganzen Kanon und seinen Kommentaren und Superkommentaren zusammengestellt werden; der kann nur mit Geduld, Fleiß und Ausdauer, bei großer Muße und immer zunehmender Fach- und Sachkenntnis auch jenseits der grünen Lampe, durch vereinte Kräfte vielleicht einmal geschaffen werden.


Wien, 1. März 1911.

K.E.N.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 2, Zürich/Wien 31957, S. 17-24.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon