Zum oberen Halbhundert 101.–152. Rede

[38] Der dritte Band der Mittleren Sammlung ergänzt in mehrfacher Hinsicht die ersten beiden, und diese ihn. Er bestätigt zunächst noch genauer was in den früheren Vorreden über die Ordenszucht gesagt worden: daß nämlich eine solche ursprünglich nicht als eigener Kanon zusammengefaßt sondern in den Reden inbegriffen war; Ansprachen wie z.B. die hundertdritte und hundertvierte lösen wohl jeden billigen Zweifel. Freilich wird man eine Aufzählung der einzelnen Punkte vermissen: aber die war, etwa nach dem Muster der siebenundzwanzigsten oder einundfünfzigsten Rede u.a.m., als ekantaparipuṇṇam ekantaparisuddhaṃ saṉkhalikhitam brahmacariyam längst gegeben und allbekannte Basis, bedurfte keiner weiteren Entwickelung.

Ferner mag bemerkt sein, wie gerade in das Obere Halbhundert manche feinere geistige Beobachtungen und Erläuterungen aufgenommen wurden, namentlich in die letzten beiden Dekaden: als ob die alten Ordner der Texte das Zartere und zugleich gern Schwierigere erst gegen Ende hätten darbieten wollen, nachdem man eine gute Vorschule bereits durchgemacht hatte. In diesem Sinne könnte man vielleicht mit einiger Berechtigung sagen, die drei Bände der Mittleren Sammlung stellten der Reihe nach vinayo, suttam und abhidhammo dar: indem das Untere Halbhundert Mūlapaṇṇāsam gleichsam den Grund legt, das Mittlere Halbhundert Majjhimapaṇṇāsam, meist in Zwiegesprächen, die Säulen emporführt, das Obere Halbhundert Uparipaṇṇāsam endlich die Kuppel aufsetzt. Doch darf man so eine mehr bildlich und schematisch geplante Einteilung nicht zu ernst nehmen: weil, wie oft betont, jede der Reden als für sich bestehendes Ganze sich gibt; was die Ordner sehr wohl erkannt und daher einen systematischen Aufbau nicht beabsichtigt haben.

Es wäre lohnend nun auf wichtigere Einzelheiten von Form und Gehalt auch dieser letzten fünf Bücher näher einzugehn: etwa auf die vedischen Grundlagen, wie sie z.B. in der hundertzwanzigsten und hundertvierzigsten Rede offen zutage treten; oder auf die unverkennbare geistige Verwandtschaft mit dem ewigen Griechentume; oder auf die zahlreichen Urbilder zu unseren eigenen Kunstwerken aus tüchtiger Zeit, dann zur transzendentalen Philosophie, also recht eigentlich zu Schopenhauer, dessen Gedanken in [38] den Hauptzügen wirklich erst die letzte Vollendung erfahren, e.g. in der Lehre vom vollkommenen Wohlbefinden bei Lebzeiten, und wieder über den klassischen Selbstmord, hundertvierzigste Rede, passim, bzw. hundertvierundvierzigste in fine; oder auf die so tiefe Einmütigkeit mit unseren besten Illuministen, die keine Mystiker sind, insbesondere mit San Francesco und Meister Eckhart, wie etwa im hundertfünfundvierzigsten Gespräch; oder auf den donquijoteschen Humor gar mancher Gleichnisse, wie zumal im hundertsechsundzwanzigsten Bericht; oder auch auf nebensächliche Ergebnisse, wie zum Teil die geschichtliche Ableitung der Christologie aus dem hundertdreiundzwanzigsten, der Thebais aus dem hundertvierundzwanzigsten Stücke, ferner auf beiläufig entdeckbare ruti-Spuren im Lao: alles Dinge von ziemlichem Gewichte zwar, deren Fechsung aber dem bloßen Übersetzer kaum zukommen, vielmehr den Berufenen als reiche Mahd hinterlassen bleiben kann. Sind doch über die Blüte und Frucht einiger Jahrzehnte nahezu dritthalb Jahrtausende des Verfalls, der Zerstörung und üppig aufschießender Verwilderung dahingegangen bis aus dem Schutte die verborgen fortkeimenden ungewöhnlichen Gedanken unserer Texte nach und nach wieder dem entgegenreifenden Verständnisse erschlossen werden. Dieses Verständnis leise fördern und anbauen und nur gelegentlich obenhin, wie von den Trümmern der Zinne, auch auf historische Kuriositäten, Paritäten, Quidditäten etc. herabdeuten wird noch lange Zeiten hindurch der bescheidene Zweck philologischer Arbeit sein.

Nicht als ob es gälte späterhin Sendboten heranzubilden, den Erdball rings zu bekehren und, wenn es hoch kommt, noch ein paar Planeten dazu. Es müßte ja für die meisten empfindsamen Gemüter eine arge Aussicht sein, wenn this goodly frame, the earth, wie Hamlet bewundernd sagt, veröden und – o Graus – aussterben, etwa in ein far niente der Ewigkeit, um einen Ausdruck Jean Pauls zu gebrauchen, einmünden sollte, so da alle Menschen veritable Buddhisten, d.h. leibhaftige Heilige, würden: ein schnackischer Angstschrei, den man hin und wieder, nicht in Indien, vernimmt; oder wie unser Poeta poetarum mit lächelndem Auge spricht:


If all were minded so, the times should cease,

And threescore years would make the world away.


Davor brauchen wir, verehrte Anwesende, keine Furcht zu haben. Die buddhistische Lehre wird ihrer außerordentlichen Dichte wegen in Wirklichkeit immer doch nur einer kleinen Schar, immer nur einem oder dem anderen abseit gegründeten, ungeselligen, beharrlichen Erzgrübler nicht undurchdringlich erscheinen, nicht lästig und beschwerlich fallen. Die Hunderte und die Tausende werden sich nach wie vor zu eigener und fremder Aufklärung mit [39] den astralen Weltproblemen weiterbeschäftigen, die himmlischen Progressionen zu berechnen suchen, das Ewige und das Zeitliche trennen und versöhnen, Freiheit und Notwendigkeit scheiden und verbinden, Geheimwissenschaft und Gemeinnützigkeit enträtseln und verhäkeln, ganze Realität und halbe Evolution oder umgekehrte Ethik und Ästhetik sowie Kulturpragmatik und Religionsphilosophie sub specie professoritatis und verwandte allerangelegentlichste Fragen, sabbasāmukkaṃsikā pañhā, behandeln und festzustellen hoffen »Dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes«, wie eben die gewöhnlichen Meister und Altmeister, Büßer und Pilger, Asketen und Priester schon zu Gotamos Zeiten je nach ihrer Art behauptet, gelehrt, bewiesen, erläutert und ausgelegt haben; von den Hunderttausenden nicht zu reden, denen die heiligen Fußspuren, Knochen, Zähne, Nägel, Hostien, Fetische, Inkarnationen, Folklorisierungen usw. ungekränkt überlassen seien: und auch nicht von den Dutzenden, denen Abrakadabrahuitzilopochtligelehrsamkeit und Beckmesserpoesie, oder blaublumige Düfte und faselnde Flöten schon genügen. An einzelne wenige aber, die mit den mehr oder minder spröden oder mürben Allotria nicht recht umzugehn wissen, denen unsere eigenartige Dichte allmählich ohne Beschwer vertrauter wird, sogar anziehend, einladend, wie beim gediegenen Golde von selbst verständlich erscheint, oder wie dem Grafen Russell seine dreißig Jahre inniger Lauterkeit an den höchsten Gipfeln der Pyrenäen, ist heute wie einst ein oft wiederholter Nachhall im vorletzten Buche, der Spruch vom »Stillen Denker« gerichtet.


Wien, Anfang April 1901.

K.E.N.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 38-41.
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