Vorrede zur Ersten Auflage (1905)

Den uns neben den vier Hauptsammlungen noch erhaltenen Bestand an Bruchstücken der Reden Gotamo Buddhos, den Suttanipāto, eine Reihe mehr oder minder zusammenhängender Rhapsodien, ordnet man dem althergebrachten sinnreichen Schema gemäß vor den Liedern der Mönche und Nonnen dem Khuddakanikāyo, der Kürzeren Sammlung des Pāli-Kanons, ebenso nüchtern bescheiden als gemessen folgerichtig ein. Was in der Vorrede zur Übersetzung der Lieder über Form und Inhalt angedeutet worden gilt auch von den vorliegenden Denkmalen. Hier aber finden wir mittelbar doch wohl füglich mehr von den ursprünglichen Meisterworten, ein paar Interpolationen einer jüngeren Periode ausgenommen, überliefert: wir verstehn also warum von einem Pathos, von dem in jenen Liedern hie und da ein leiser Schimmer beinahe merkbar sein mochte, kaum eine Spur sich entdecken läßt. Denn Gotamos Anschauung mit dem innigen, klaren, stahlhellen Blicke ist frei von jeder solchen Färbung; sowie es ja auch seine reifen Nachfolger auszeichnet an pathetischen, das ist aufdringlichen, unkünstlerischen Tönen vorbeizugehn, schreienden Firnis als ihren Fresken nicht zugehörig zu meiden. Der indischen Männlichkeit, die aus diesen Gemälden spricht, war Pathetik wie Pose als frivol zuwider: die erhaltenen klassischen Urkunden beginnen erst wo die Gestikulation überstanden ist.

Der Titel Bruchstück, nipāto, sagt uns, es sei freilich kein quer durchgespannter Plan zu erwarten. Die lose verbundenen Strophen der einzelnen größeren oder kleineren Selbstgespräche oder Zwiegespräche oder auch einiger dramatischer Gänge setzen eine gewisse Vertrautheit mit den Reden der anderen Sammlungen voraus, namentlich mit den Reden der Mittleren Sammlung. Man mag diese Strophen so zu sagen als den Kranz oder die Krone der Reden bezeichnen, insofern sie getragen werden und nicht selber tragen; oder auch als das Gesims, das eben ohne die Säulen der Reden keinen Halt hätte, recht unverständlich bliebe. Wie schon im letzten und vorletzten Buche der Reden der Mittleren Sammlung zu Beginn einer Rede oft ein sogenannter Stempel, uddeso, gegeben ist, dessen Abzeichen dann ausführlich erklärt werden, so treffen wir auch hier vielfach auf solche Stempel, und zwar in der sehr geeigneten Form eines Spruches, der den Inhalt, oder ein bestimmtes Stück, oder auch nur eine gewisse Stelle, einen denkwürdigen Ausspruch, ein Merkwort einer der großen Reden wiedergibt, oder nach verjüngtem Maße genau übernommen bis zur feinsten Linie richtig kennzeichnet. Beiweitem [3] die überwiegende Anzahl dieser Stempel behandelt den Stoff der Reden der Mittleren Sammlung, nur wenige sind der Angereihten Sammlung Aṉguttaranikāyo und der Zusammengestellten Sammlung Saṃyuttakanikāyo und kaum einer der Längeren Sammlung Dīghanikāyo, der im ganzen verhältnismäßig späteren und oft apokryphen, gewidmet.

So blieben denn allerdings die Sprüche ohne die dazu gehörigen ursprünglichen Reden einstweilen ziemlich ungenießbar. Es ist zwar in den Anmerkungen meist auf die zugrunde liegenden Stücke hingewiesen: die betreffenden Stellen konnten aber nicht wieder abgedruckt werden, da man sonst zu jeder Akoluthie seitenlange Auszüge darbieten hätte müssen. Wer sich die Mühe nicht verdrießen läßt, die zum vollkommenen Verständnisse erforderlichen Sockel und Pfeiler von Spruch zu Spruch einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehn, also zumal die drei Bände der Mittleren Sammlung immer zur Hand zu haben, um die dort mit ungemeiner Sauberkeit und Schärfe dargestellten Profile und Prospekte und Abzeichen still zu betrachten, mag dann allmählich etwa zu einer wirklichen Kenntnis gelangen. Er wird vielleicht wieder jener zart verborgenen Deutung zum heiteren Ziele mit dem geradehin lächelnden sonnigen Auge auf die Spur kommen, umso lichter als leichter sie entdecken und ausfinden, bald mutig erkunden und je kühner desto kräftiger zu Ende denken, pünktlich rein zustande bringen.

Meine Übersetzung fußt auf dem barmanisch (B)-siṉhalesischen Texte Fausbølls, London [1885], der Ausgabe des Königs von Siam (S) und auf den verschiedenen Lesarten, die uns im Mahāniddeso und Cūḷaniddeso, ebenfalls in der siamesischen Ausgabe [Bangkok 1894], überliefert sind; verglichen wurde auch noch ein siṉhalesischer Nachdruck aus Titthagāmo 1891 (T), der mir durch die Güte der Herren Wetthasinha und Dahlke sowie meines Freundes De Lorenzo zugekommen ist. Vor mir wurden Übersetzungen versucht von Gogerly, im Ceylon Friend, Colombo 1839, mit No. 8, No. 13, No. 16, im Journal asiatique, Paris 1872, mit No. 6; von Spiegel, Anecdota Pâlica, Leipzig 1845, mit No. 1; von Childers, Journal Royal Asiatic Society, London 1870, mit No. 8, No. 13, No. 16; von D'Alwis, Buddhist Nirvána, Colombo 1871, mit No. 7 und No. 35; von Feer, Journal asiatique, Paris 1871, mit No. 6, No. 8, No. 16; von Coomára Swámy, Sutta Nipáta, London 1874, mit No. 1-26, No. 33-35, No. 29; von Fausbøll, The Sutta Nipâta, Oxford 1881, 2. Aufl. 1898, Glossary, London [1894], mit No. 1-72; von Windisch, Māra und Buddha, Leipzig 1895, mit No. 27-28; von Rhys Davids, Buddhism, New York 1896, mit No. 2 und No. 22.


Wien, im Juli 1905.

K.E.N.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 3-5.
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