IV. Die Verbindung von Wille und Vorstellung

[100] In jedem Wollen wird der Uebergang eines gegenwärtigen Zustandes in einen andern gewollt. – Ein gegenwärtiger Zustand ist allemal gegeben, und wäre es selbst die blosse Ruhe; aus diesem gegenwärtigen Zustand allein könnte aber nun und nimmermehr das Wollen bestehen, wenn nicht die Möglichkeit, wenigstens die ideale Möglichkeit, von etwas anderem vorhanden wäre. Der Eine Zustand, der real und ideal nichts anderes zuliesse, wäre in sich selbst beschlossen, ohne je auch nur idealiter über sich hinauszugehen, denn dieses aus sich Herausgehen wäre dann ja eben schon sein Anderes. Auch dasjenige Wollen, welches das Beharren des gegenwärtigen Zustandes will, ist nur möglich durch die Vorstellung des Aufhörens dieses Zustandes, welches verabscheut wird, also durch eine doppelte Negation; ohne die Vorstellung des Aufhörens würde ein Wollen des Beharrens unmöglich sein. Es steht also fest, dass zum Wollen zunächst zweierlei nöthig ist, von denen eines der gegenwärtige Zustand ist, und zwar als Ausgangspunct. Das Andere, der Endpunct oder das Ziel des Wollens, kann nicht der jetzt gegenwärtige Zustand sein, denn die Gegenwart hat man ja ganz und gar inne, also wäre es widersinnig, sie noch zu wollen, sie kann höchstens Befriedigung oder Unbefriedigung erzeugen, aber nicht Willen. Es kann also nicht ein seiender, sondern bloss ein nichtseiender Zustand sein, welcher gewollt wird, und zwar als seiend gewollt wird. Aus dem Nichtsein in's Sein kann der Zustand nur durch das Werden gelangen, und wenn er durch das Werden zum Sein gekommen ist, so ist der bisher Gegenwart genannte Moment vorüber und eine neue Gegenwart eingetreten, welche von dem vorigen Moment aus betrachtet noch Zukunft ist. Dieser vorige Moment ist aber der des Wollens, mithin[100] ist es ein zukünftiger Zustand, dessen Gegenwärtigwerden gewollt wird. Dieser zukünftige Zustand muss also im Wollen als das Andere des jetzt gegenwärtigen Zustandes enthalten sein, und giebt dem Wollen seinen Endpunct oder sein Ziel, ohne das es nicht denkbar ist. Da nun aber dieser zukünftige Zustand als ein gegenwärtig noch nichtseiender in dem gegenwärtigen Actus des Wollens realiter nicht sein kann, aber doch darin sein muss, damit derselbe erst möglich wird, so muss er notwendiger Weise idealiter, d.h. als Vorstellung in demselben enthalten sein; denn das Ideelle ist eben ganz genau dasselbe wie das Reelle, nur ohne Realität, so wie umgekehrt die Realität an den Dingen das Einzige an denselben ist, was nicht durch das Denken geschaffen werden kann, was über ihren ideellen Inhalt hinausgeht (vergl. Schelling's Werke Abth. I, Bd. 3, S. 364, Z. 13-14). Ebenso kann aber auch der (positiv gedachte) gegenwärtige Zustand nur insofern Ausgangspunct des Wollens werden, als er in die Vorstellung (im weitesten Sinne des Worts) eingeht. Wir haben also im Willen zwei Vorstellungen, die eines gegenwärtigen Zustandes als Ausgangspunct, die eines zukünftigen als Endpunct oder Ziel; erstere wird als Vorstellung einer vorhandenen Realität aufgefasst, letztere als Vorstellung einer erst zu schaffenden Realität. Der Wille ist nun das Streben nach dem Schaffen der Realität, oder das Streben nach dem Uebergang aus dem durch erstere in den durch letztere Vorstellung repräsentirten Zustand. Dieses Streben selbst entzieht sich jeder Besprechung und Definition, weil wir uns doch bloss in Vorstellungen bewegen und das Streben an sich etwas der Vorstellung heterogenes ist; es kann von ihm nur gesagt werden, dass es die unmittelbare Ursache der Veränderung ist. Dies Streben ist die sich überall gleichbleibende leere Form des Wollens, welche der Erfüllung mit dem verschiedenartigsten Vorstellungsinhalt offen steht; und wie jede leere Form Abstraction ohne andere Realität ist, als die, welche sie an ihrem Inhalt hat, so auch diese. Das Wollen ist existenziell oder actuell nur an der Beziehung zwischen der Vorstellung des gegenwärtigen und zukünftigen Zustandes; nimmt man dem Begriff diese Relation, ohne welche er nicht bestehen kann, so raubt man ihm die Realität, das Dasein. Niemand kann in Wirklichkeit bloss wollen, ohne dies oder jenes zu wollen: ein Wille, der nicht Etwas will, ist nicht; nur durch den bestimmten Inhalt erhält der Wille die Möglichkeit der Existenz, und dieser (nicht mit dem Motiv zu verwechselnde) Inhalt[101] ist Vorstellung, wie wir gesehen haben. Daher: kein Wollen ohne Vorstellung, wie schon Aristoteles sagt (de an. III. 10, 433. b, 27): orektikon de ouk aneu phantasias.

Es ist hierbei dem Missverständniss zu begegnen, als sollte überall, wo etwas als in einem andern enthalten nachgewiesen ist, ohne doch realiter in demselben enthalten zu sein, behauptet werden, dass es idealiter darin enthalten sein müsse. Dies wäre in der That eine logisch unrichtige Umkehrung des wahren Satzes, dass das Ideale dasselbe ist wie das Reale, nur ohne die Realität. Dass ich von dieser fehlerhaften Umkehrung weit entfernt bin, habe ich schon dadurch bewiesen, dass ich Gedächtniss und Charakter durch latente Dispositionen des Gehirns zu bestimmten molecularen Schwingungszuständen zu erklären suche, und dass ich das Wollen als actuelle Aeusserung der Potenz, d.i. des Willens, ansehe; erstere sind nämlich ruhende materielle Zustände (atomistische Lagerungsverhältnisse), welche wohl als Realisation einer zukünftige Zustände implicite in sich enthaltenden Idee angesehen werden können, aber nimmermehr selbst ideal genannt werden können (vgl. Ges. philos. Abhandlungen No. II, S. 35-37); letztere hingegen (die Potenz des Wollens) ist nur das formale Vermögen der Actualität überhaupt ohne jede inhaltliche Bestimmtheit. Das Wollen, abstrahirt von seinem Inhalt, ist in der Potenz ermöglicht und im Voraus enthalten aber so ist es eben auch nur die rein formale Seite des bestimmten Willensactes. Der Inhalt selber dieses Willensactes ist niemals anders zu denken, denn als Vorstellung oder Idee: denn das Wollen ist nicht etwas Materielles, in dessen ruhenden Theilen künftige Unterschiede durch räumliche Lagerungsverhältnisse präformirt werden könnten, sondern es ist etwas Immaterielles, und das von ihm zu realisirende noch nicht seiende Zukünftige muss mithin auf immaterielle Weise in ihm enthalten sein; ferner aber ist der Willensinhalt stets ein durch und durch bestimmter, so und nicht anders zur Realisation gelangender, also nicht als Potenz zu bezeichnender, womit nur das formale Vermögen der Realisation überhaupt, aber nicht das ganz bestimmte »Was« derselben ausgedrückt wäre. Ohne die volle inhaltliche Bestimmtheit des zu realisirenden Nochnichtseienden wäre aber keine Realisation möglich, weil unendlich verschiedene Möglichkeiten offen blieben Diese inhaltliche Bestimmtheit eines real noch nicht Seienden, welche zugleich immateriell gegeben sein soll, ist nun schlechterdings nicht anders zu denken denn als ideale Bestimmtheit, d.h. als Vorstellung.[102] Aus dem bewussten Wollen ist uns dieses Verhältniss unmittelbar bekannt, und die Selbstbeobachtung kann uns jeden Augenblick von Neuem darüber belehren, dass das Gewollte vor erlangter Verwirklichung nichts anderes als Vorstellung sei. Aber die Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit dieses Verhältnisses zwischen Wille und Vorstellung (als den beiden Polen, um die sich das gesammte Geistesleben dreht), und die Unmöglichkeit, irgend einen Ersatz für die Vorstellung als Willensinhalt (d.h. als immaterielle, noch nicht real seiende Bestimmtheit des Wollens) ausfindig zu machen, zwingen uns auch zu der Annahme, dass aller Willensinhalt Vorstellung sei, gleichviel ob es sich um Wille und Vorstellung als bewusste oder als unbewusste handelt. So weit man Willen supponirt, gerade soweit muss man Vorstellung als dessen bestimmenden, ihn von andern unterscheidenden Inhalt voraussetzen, und überall, wo man sich weigert, den idealen (unbewussten) Vorstellungsgehalt als das das Was und Wie der Action Bestimmende anzuerkennen, da muss man sich folgerichtiger Weise auch weigern, von einem unbewussten Willen als dem inneren Agens der Erscheinung zu reden. Diese einfache Betrachtung legt die wunderliche Halbheit des Schopenhauerschen Systems klar, in welchem die Idee keineswegs als der alleinige und ausschliessliche Willensinhalt anerkannt, sondern derselben eine schiefe und subordinirte Stellung angewiesen ist, während der einseitige und blinde Wille allein sich durchweg so geberdet, als ob er Vorstellung oder Idee zum Inhalt hätte.9 Wer aber wie z.B. Bahnsen, bestreitet, dass der Wille als Potenz des Wollens genommen etwas rein Formales und absolut Leeres sei, wer in ihm statt eines allen Wesen gemeinsam zu Gute kommenden Attributs der all-einen Substanz eine a se und per se subsistirende und existirende Individualessenz sieht, der hat, wenn er sich nicht mit einem jedes Begreifens spottenden postulirten Unding begnügen will, nur die Wahl, entweder die charakteristische Essenz dieser individuellen Potenz selbst schon als ideelle Bestimmtheit zu definiren (also bloss die erfüllende Idee aus dem Wollen unnöthiger Weise in den[103] reinen Willen zurückzuverlegen), oder aber ganz zum Materialismus überzugehen, d.h. den Willen als metaphysisches Princip aufzugeben und mit den so und so prädisponirten Hirntheilen identisch zu setzen, deren Function alsdann das Wollen wäre.A28

Es dürfte zweckmässig sein, hier einige Puncte wenigstens andeutend zu berühren, welche geeignet sind, den Satz zu bestätigen, dass keine Art von Willensthätigkeit ohne ideellen Vorstellungsinhalt möglich sei

Zunächst wäre es ein grober Irrthum, den idealen Inhalt des Wollens deshalb zu leugnen, weil das Wollen ein streng necessitirtes ist. Dieses Argument würde vor allen Dingen zu viel beweisen: denn es würde erstens die Activität des Wollens ganz ebenso wie die Idealität des Inhalts zerstören, wenn es den necessitirten Vorgang in der That zu einer todten rein äusserlich bestimmten und jeder Selbstbestimmung von innen heraus entbehrenden Passivität herabsetzte, – und würde zweitens für das bewusste Wollen ganz dieselben Consequenzen nach sich ziehen wie für das unbewusste Wollen eines fallenden Steins, da einerseits das erstere ebenso streng determinirt und necessitirt ist wie das letztere, andrerseits aber auch der fallende Stein, wenn er Bewusstsein hätte (schon nach dem bekannten Ausspruch Spinoza's), frei zu handeln glauben würde. Jener Einwand lässt eben ausser Acht, dass es gar keine rein passive Necessitation giebt, dass vielmehr jede Necessitation eines Dinges eine autonome Activität desselben einschliesst, – autonome deshalb, weil es in der Art, wie es gegen die auf es einwirkenden Kräfte reagirt, den ihm immanenten Gesetzen seiner eigenen Natur folgt. Dies gilt für die auf die Nähe der Erdmasse reagirende Gravitationskraft des Steins oder für die auf den Trägheitswiderstand der Bande reagirende Elasticität der Billardkugel gerade so gut wie für den auf die bewusst gewordenen Motive reagirenden menschlichen Charakter. Betrachtet man nun die physikalischen Kräfte als Willenskräfte, so kann man nicht umhin, die innere Bestimmtheit derselben durch die immanenten Gesetze der eigenthümlichen Natur der betreffenden Objectivationsstufe des Willens, welche das nothwendige Prius der realen Activität in jedem bestimmten Falle ist, als ideale Bestimmtheit, d.h. den Inhalt des Wollens vor vollendeter Realisation auch hier als Vorstellung anzusehen (vergl. Cap. C. V).

Ein zweiter Punct ist der, dass der Begriff der Necessitation oder der Nothwendigkeit des Geschehens den subjectivistischen Leugnern[104] einer objectiv-realen Nothwendigkeit gegenüber nur aufrecht zu erhalten ist, wenn man die reine äusserliche Facticität als durch einen inneren logischen Zwang bestimmt und herbeigeführt betrachtet, was auch der alleinige Sinn einer mit der Logik conformen Naturgesetzmässigkeit sein kann (vgl. den Schluss von Nr. 3 des Cap. C. XV). Ist aber alle Notwendigkeit des Geschehens eine logisch gesetzte, so kann diese (unbewusste) Logik nur dann die Aeusserung des blinden und an und für sich unlogischen Willens durchdringen, wenn sein Inhalt nicht selbst wieder unlogischer Wille, sondern logische Idee ist.

Der dritte Punct, den ich zur Erwähnung bringen wollte, führt uns in das Gebiet der Erkenntnisstheorie. Das Denken kann nicht aus der Haut des Denkens fahren, es kann wohl sich als bewusstes Denken negiren, aber es erreicht dadurch so wenig etwas Positives, dass ihm sogar das Recht zu dieser Negation seiner selbst fehlt, so lange es jenseits der Sphäre seines Bewusstseins nicht etwas Positives anzugeben vermag. Das Denken kommt also entweder niemals über sich selbst hinaus, oder der wahre positive Inhalt von dem Jenseits seiner Bewusstseinssphäre muss selbst wieder Gedanke, Vorstellung, ideeller Inhalt sein. Da nun die den Empfindungsact hervorrufende Causalität das einzige, allereinzigste directe Verbindungsglied zwischen dem Bewusstsein und seinem Jenseits ist, so muss speciell der Inhalt dieses causalen Afficirens, dem die Empfindung folgt, ein idealer sein. Hier kommen wir aus erkenntnisstheoretischem Erklärungsbedürfniss auf dieselbe Wahrheit, wie vorher aus metaphysischen Erwägungen, dass nämlich die causale Necessitation oder die reale Causalität eine inhaltlich ideale sein muss, wenngleich diess hier bloss für den Act des Sinneseindrucks gezeigt ist (vgl. »Das Ding an sich und seine Beschaffenheit«. – Berlin, C. Duncker 1871 – speciell S. 74-76A29).

Wir wissen also nunmehr, dass, wo immer wir einem Wollen begegnen, Vorstellung damit verbunden sein muss, allermindestens diejenige, welche das Ziel, Object oder Inhalt des Wollens ideell vergegenwärtigt; die andere Vorstellung, der Ausgangspunct, könnte möglicherweise eher einmal gleich Null werden, wenn der Wille sich aus dem Nichts erhebt; indess haben wir bei empirischen Erscheinungen mit diesem Fall nichts zu thun, vielmehr ist hier der Ausgangspunct allemal als positive Empfindung eines gegenwärtigen Zustandes gegeben. Demnach muss auch jedes unbewusste Wollen, das wirklich existirt, mit Vorstellungen verbunden sein, denn in unserer obigen[105] Betrachtung kam nichts vor, was auf den Unterschied von bewusstem oder unbewusstem Wollen Bezug gehabt hätte. Die positive Empfindung des gegenwärtigen Zustandes wird auch beim unbewussten Wollen immer für das Nervencentrum bewusstsein müssen, auf welches das Wollen sich bezieht, da eine materiell erregte Empfindung, wenn sie vorhanden ist, stets bewusstsein muss; dagegen wird beim unbewussten Wollen die Vorstellung des Zieles oder Objectes des Wollens natürlich auch unbewusst sein. Also auch mit jedem wirklich vorhandenen Wollen in untergeordneten Nervencentris muss eine Vorstellung verbunden sein, und zwar je nach der Beschaffenheit des Willens eine relativ auf das Gehirn, oder absolut unbewusste. Denn wenn der Ganglienwille den Herzmuskel in bestimmter Weise contrahiren will, so muss er zunächst die Vorstellung dieser Contraction als Inhalt besitzen, denn sonst könnte weiss Gott was contrahirt werden, nur nicht der Herzmuskel; diese Vorstellung ist jedenfalls für das Hirn unbewusst, für das Ganglion aber wahrscheinlich bewusst. Nun muss aber die Contraction dadurch bewirkt werden, dass, analog wie wir es im zweiten Capitel bei den willkürlichen Bewegungen des Hirnwillens gesehen haben, ein Wille zur Erregung der betreffenden centralen Endigungen der bewegenden Nervenfasern im Ganglion entsteht; dazu gehört aber wiederum eine Vorstellung der Lage dieser centralen Nervenden, und diese Vorstellung muss, analog mit der unbewussten Vorstellung der Lage der motorischen Nervenendigungen im Gehirn, absolut unbewusst gedacht werden. Entsprechend diesen Vorstellungen wird auch der Wille zur Contraction des Herzmuskels überhaupt als ein relativ unbewusster, der seine Verwirklichung vermittelnde Wille zur Erregung der betreffenden Nervenendigungen in den Herzganglien als ein absolut unbewusster zu denken sein.

Wir haben gesehen, dass das Wollen eine leere Form ist, die erst an der Vorstellung den Inhalt findet, an welchem sie sich verwirklicht, dass diese Form aber selbst etwas der Vorstellung Heterogenes, und darum nicht durch Begriffe zu Bestimmendes, in seiner Art Einziges ist, nämlich das, was zwar an sich noch unreal seiend, in seinem Wirken den Uebergang vom Idealen zum Wirklichen oder Realen macht. Das Wollen ist also die Form der Causalität von Idealem auf Reales, es ist nichts als Wirken oder Thätigsein, reines aus sich Herausgehen, während die Vorstellung reines Beisichsein und Insichbleiben ist. Wenn aber in der nach aussen wirkenden Causalität und dem aus sich Herausgehen[106] der Grundunterschied der Form des Willens von der Vorstellung liegt, so muss diese als in sich Beschlossenes einer nach Aussen wirkenden Causalität entbehren, wenn nicht der eben gesetzte Unterschied wieder aufgehoben werden soll. Denn beim Wollen ist immer Vorstellung und wenn nun die Vorstellung auch die Causalität nach Aussen besässe, so wäre der Unterschied zwischen Wille und Vorstellung in der That aufgehoben, während wir innerhalb eines jeden von ihnen die beiden verschiedenen Momente wieder finden würden und von Neuem zu bezeichnen hätten. Darum behalten wir lieber gleich für diese polarischen Momente die Worte Wille und Vorstellung bei, und nehmen eine Verknüpfung beider an, wo wir sie beide vereint finden. So haben wir es beim Willen bereits gemacht; es bleibt noch übrig, in Zukunft in der Vorstellung überall da einen Willen anzuerkennen, wo dieselbe eine Causalität nach Aussen zeigt. Auch dies hat schon Aristoteles ausgesprochen (de an. III. 10. 433. a. 9): kai hê phantasia de, hotan kinê, ou kinei aneu orexeôs, d.h.: »aber auch die Vorstellung, wenn sie nach Aussen wirkt, wirkt nicht ohne einen Willen.«

Wie wir oben sahen, dass die strengen Schopenhauerianer zwar den unbewussten Willen einseitig anerkennen wollen, aber nicht die Notwendigkeit seiner Erfüllung mit unbewusster Vorstellung oder Idee, so erkennen die Hegelianer und Herbartianer, wenn sie ihre Meister recht verstehen, wohl die unbewusste Idee oder Vorstellung willig an, wollen aber die Nothwendigkeit des unbewussten Willens nicht zugeben. Wie erstere die Vorstellung im Willensinhalt implicite mitdenken, ohne es zu merken, so denken letztere den Willen in dem Selbstrealisirungs-Trieb und -Vermögen der Idee resp. in den gegeneinander wirkenden Kräften der psychologischen Vorstellungen mit, ohne sich diesen wichtigen Gedankeneinschluss explicite klar zu machen. Vielleicht durch Herbart'sche Einflüsse beirrt lassen auch einige unserer neueren Physiologen die Vorstellung als solche ohne Weiteres physiologische Wirkungen auf den Körper hervorbringen.

Die Anwendung, die wir hier zunächst von diesem Satze zu machen hätten, wäre die Rückwärtsbestätigung, dass die unbewusste Vorstellung von der Lage der centralen Endigungen motorischer Nervenfasern nicht wirken kann ohne den Willen, diese Stellen zu erregen, und dass die blosse unbewusste Vorstellung eines Instinctzweckes nichts nützen kann, wenn der Zweck nicht auch gewollt wird; denn nur durch das Wollen des Zweckes kann das Wollen[107] des Mittels hervorgerufen werden, und nur durch das Wollen des Mittels dieses selbst. Was hier für den Instinctzweck gesagte gilt natürlich ganz ebenso für jede andere, in den folgenden Capiteln sich ergebende unbewusste Zweckvorstellung.

Wir können endlich nunmehr auch der Frage nach dem Unterschiede des bewussten und unbewussten Willens näher treten. Ein Wille, dessen Inhalt durch eine unbewusste Vorstellung gebildet wird, könnte höchstens noch nach seiner leeren Form des Wollens vom Bewusstsein percipirt werden, und verschiedene solche Willensacte könnten sich dann für das Bewusstsein höchstens dem Grade nach unterscheiden; dagegen kann er nicht mehr als dieser bestimmte Wille vom Bewusstsein percipirt werden, da seine Besonderheit erst durch den Inhalt bestimmt wird. Demnach ist für einen solchen Willen die Anwendung des Wortes »bewusst« unbedingt ausgeschlossen, da man keinenfalls mehr sagen kann, dass dieser bestimmte Wille bewusst werde. Ausserdem lehrt uns auch die Erfahrung, dass wir von einem Willen um so weniger wissen, je weniger von den ihn begleitenden Vorstellungen oder Empfindungen zum Hirnbewusstsein gelangt. Hiernach scheint es fast, als ob der Wille als solcher überhaupt dem Bewusstsein nicht zugänglich wäre, sondern dies erst durch seine Vermählung mit der Vorstellung würde. (Dies wird Cap. C. III. in der That nachgewiesen.) Wie dem auch sei, so können wir schon jetzt behaupten, dass ein unbewusster Wille ein Wille mit unbewusster Vorstellung als Inhalt sei; denn ein Wille mit bewusster Vorstellung als Inhalt wird uns immer bewusst werden. Wenn hiermit der Unterschied von bewusstem und unbewusstem Willen auch nur auf den ebenso schwierigen Unterschied von bewusster und unbewusster Vorstellung zurückgeführt ist, so ist damit doch schon eine wesentliche Vereinfachung des Problems erreicht.[108]

9

Wenn Dr. J. Frauenstädt meinen Erörterungen zustimmt (Sonntagsbeilage der Voss. Ztg. 1870 Nr. 8 und »Unsere Zeit« Novbr. 1869 S. 705). und dadurch einräumt, dass das Schopenhauer'sche System nur nach einer Umbildung in diesem Sinne lebensfähig sei, so kann mich das nur freuen; wenn er aber behauptet, dass dasselbe nicht an der genannten Halbheit leide, so setzt er sich mit den historischen Thatsachen in Widerspruch, und sind geschichtlich vielmehr diejenigen Anhänger Schopenhauer's im Recht, welche der Lehre ihres Meisters treu zu bleiben glauben, indem sie die von mir vertretene unbewusste Vorstellung als unmöglich verwerfen.

A28

S. 104 Z. 4. Ebenda S. 175-257 und »Phil. Fragen der Gegenwart« Nr. XII.

A29

S. 105 Z. 11 v. u. »Kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus« 3. Aufl., speciell S. 90-94.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 100-109.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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