VII. Das Unbewusste im Denken

[261] Im vorletzten Capitel (S. 245-247) hatten wir gesehen, dass jeder Eintritt einer Erinnerung zu einem bestimmten Zwecke der Hülfe des Unbewussten bedarf, wenn gerade die rechte Vorstellung einfallen soll, weil das Bewusstsein die schlummernden Gedächtnissvorstellungen16 nicht umfasst, also auch nicht unter ihnen wählen kann. Wenn eine unpassende Vorstellung auftaucht, so erkennt das Bewusstsein dieselbe sofort als unzweckmässig und verwirft sie, aber alle Erinnerungen, welche noch nicht aufgetaucht sind, sondern erst auftauchen sollen, liegen ausser seinem Gesichtskreise, also auch ausser seiner Wahl; nur das Unbewusste kann die zweckmässige Wahl vollziehen. Es könnte etwa Jemand meinen, dass die Erinnerungen absolut zufällig in Bezug auf das Interesse auftauchen, und das Bewusstsein so lange die falschen verwirft, bis endlich auch die richtige kommt. Beim abstracten Denken kommen allerdings solche Fälle vor, wo man fünf, auch mehr Vorstellungen verwirft, ehe Einem die richtige einfällt. In solchen Fällen handelt es sich aber, wie beim Rathen von Räthseln, oder Lösen von Aufgaben durch Probiren, darum, dass das Bewusstsein selbst nicht recht weiss, was es will, d.h. dass es die Bedingungen der Zweckmässigkeit nur in Gestalt abstracter Wort- oder Zahlformeln, aber nicht in unmittelbarer Anschauung kennt, so dass es in jedem einzelnen Falle erst den concreten Werth in die Formeln einsetzen muss, und zusehen,[261] ob die Sache stimmt; hiermit leuchtet aber auch ein, dass die Reaction des Unbewussten auf ein Interesse, welches sich selbst so unklar ist, dass es sich nur durch Anwendung auf den concreten Fall über sich klar werden kann, eine unvollkommenere sein muss, als da wo das Interesse sich in unmittelbar concreter und anschaulicher Weise von selbst versteht, wie beim Suchen einer passenden Theilvorstellung zu einem im übrigen fertigen Bilde, oder Verse, oder Melodie, wo ein so langes Probiren viel seltener vorkommt. Bei dem Einfall eines Witzes wird es noch weniger stattfinden; herausprobirte Witze sind vielmehr immer schlecht. Aber auch in solchen Fällen, wo die Erfahrung ein mehrmaliges Verwerfen der auftauchenden Vorstellungen zeigt, sollte man nicht vergessen, dass alle diese verworfenen Vorstellungen keineswegs in Bezug auf den Zweck des Interesses absolut zufällig sind, sondern durchaus diesem Ziele zustreben, wenn sie auch noch nicht den Nagel auf den Kopftreffen. Aber selbst wenn dieses Merkmal ihnen fehlte, wird man zugeben müssen, dass die Vorstellungen, welche, abgesehen vom Ziel des Interesses, bloss nach den anderen Gesetzen der Gedanken folge entstehen würden, geradezu zahllos sind, und dass dann in sehr seltenen Fällen schon nach fünf bis zehn verworfenen Vorstellungen die passende auftauchen würde, meistens aber eine viel grössere Anzahl Versuche erforderlich wäre; die Folge hiervon wäre die Unmöglichkeit, irgend eine geordnete Gedankenfolge zu produciren man würde diese unverhältnissmässige Anstrengung bald ermüdet aufgeben und sich nur dem willkürlosen Träumen und den Sinneseindrücken hingeben, ähnlich wie tiefstehende Thiere.

Alles kommt beim Denken darauf an, dass Einem die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt; nur hierdurch unterscheidet sich (abgesehen von der Schnelligkeit der Gedankenbewegung) das Denkergenie vom Dummen, Thoren, Narren, Blödsinnigen und Verrückten. Denn das Schliessen findet bei allen auf gleiche Weise statt; kein Verrückter und kein Träumender hat je einen falschen einfachen Schluss gedacht aus den Prämissen, die ihm gerade gegenwärtig waren, nur die Prämissen derselben sind häufig unbrauchbar; theils sind sie falsch an sich, theils sind sie zu dem Zweck, wozu der Schluss dienen soll, zu eng, theils zu weit; theils auch werden beim Schliessen gewisse hier unzulässige Prämissen gewohnheitsmässig vorausgesetzt, theils auf diesem Wege mehrere hinter einander folgende Schlüsse in einem zusammengezogen, und dabei Fehler begangen, weil nicht jeder einzelne Schluss wirklich gedacht wird,[262] auch jeder folgende Schluss stillschweigend eine neue Prämisse voraussetzt. Aber bei gegebenen Prämissen einen einfachen Schluss falsch vollziehen, das liegt nach meiner Auffassung gerade so ausser dem Bereich der Möglichkeit, als dass ein von zwei Kräften gestossenes Atom anders als in der Diagonale des Parallelogramms der Kräfte geben sollte.

Alles kommt beim Denken darauf an, dass Einem die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt. Diesen Satz wollen wir noch genauer prüfen. Man versteht unter Denken im engeren Sinne das Theilen, Vereinen und Beziehen der Vorstellungen. Das Theilen kann in räumlichem oder zeitlichem Zerschneiden oder in abstrahirendem Theilen der Vorstellungen bestehen. Jede Vorstellung kann auf unendlich viele Arten getheilt werden, es kommt also wesentlich darauf an, wie der Schnitt geführt wird zwischen dem Stück, das man behalten, und dem, welches man fallen lassen will. Wieviel und was von einer Vorstellung man aber behalten will, das hängt davon ab, zu welchem Zwecke man es braucht. Der Hauptzweck beim abstrahirenden Theilen ist das Zusammenfassen vieler sinnlicher Einzelnen zu einem gemeinsamen Begriff; dieser kann nur das in allen Gleiche enthalten, die Schnitte müssen also so geführt werden, dass man von allen Einzelvorstellungen nur das Gleiche übrig behält, und die ungleichen individuellen Reste fallen lässt. Mit anderen Worten, wenn man die vielen Einzelnen hat, muss Einem die Vorstellung des allen gemeinsamen gleichen Stückes einfallen. Dies ist ebenso gewiss ein Einfallen, was nicht erzwungen werden kann, wie in früheren Beispielen; denn Millionen Menschen starren dieselben Einzelvorstellungen an und Ein genialer Kopf packt endlich den Begriff. Wie viel reicher an Begriffen ist nicht der Gebildete, als der Ungebildete? Und der einzige Grund hiervon ist das Interesse am Begriff, welches ihm durch die Erziehung und Lehre eingeflösst wird; denn direct lehren kann man Niemandem einen Begriff, man kann ihm wohl beim Abstrahiren durch Angabe recht vieler sinnlicher Einzelner und Ausschliessung anderer ihm schon bekannter Begriffe u.s.w. behülflich sein, aber finden muss er ihn zuletzt doch selbst. Einen erheblichen Talentunterschied aber kann man zwischen Gebildeten und Ungebildeten doch im Durchschnitt gewiss nicht annehmen, also kann es nur das Interesse am Finden sein, welches den Unterschied des Begriffreichthumes bedingt. Dasselbe gut auch für den verschiedenen Begriffreichthum von Mensch und Thier, wenn auch hier allerdings die Begabung mitspricht. Die[263] grössten Erfindungen der theoretischen Wissenschaft bestehen oft bloss im Finden eines neuen Begriffes, in der Erkenntniss eines bisher unbeachtet gebliebenen gemeinsamen Stückes in mehreren anderen Begriffen, z.B. die Entdeckung des Begriffes Gravitation durch Newton. Wenn das Interesse es ist, welches die Auffindung des Gemeinsamen bedingt, so ist das erste Aufleuchten des Begriffes die zweckmässige Reaction des Unbewussten auf diesen Antrieb des Interesses.

Wenn dies schon für Begriffe gilt, die nur in dem Ausscheiden eines vielen gegebenen Vorstellungen gemeinsamen Stückes bestehn, um wie viel mehr um solche, die Beziehungen verschiedener Vorstellungen aufeinander enthalten, z.B. Gleichheit, Ungleichheit, Einheit, Vielheit (Zahl), Allheit, Negation, Disjunction, Causalität u.s.w.; denn hier ist der Begriff eine wahrhafte Schöpfung, allerdings aus gegebenem Material, aber doch Schöpfung von etwas als solchem in den gegebenen Vorstellungen gar nicht Liegendem. – Z.B.: Die Gleichheit als solche kann nicht den Würfeln A und B inhäriren, denn wenn B noch nicht ist, so kann A nicht die Gleichheit mit B haben; wenn aber B entsteht, so kann dies die Beschaffenheit von A nicht verändern, also kann A nicht durch das Entstehen von B eine Eigenschaft bekommen, die es vorher nicht hatte, also auch nicht die Gleichheit mit B. Der Begriff der Gleichheit kann also in den Dingen nicht liegen, ebenso wenig in den durch die Dinge erzeugten Wahrnehmungen als solchen, denn für diese lässt sich derselbe Beweis führen, folglich muss der Begriff der Gleichheit erst von der Seele geschaffen werden; aber die Seele kann auch nicht willkürlich zwei Vorstellungen für gleich oder ungleich erklären, sondern nur dann, wenn die Vorstellungen, abgesehen von Ort und Zeit, identisch sind, d.h. wenn die beiden Vorstellungen, an einem Orte des Gesichtsfeldes ohne Zeitintervall sich ablösend, den Eindruck einer einzigen unverändert bleibenden Vorstellung machen würden. Da diese Bedingung realiter nie erfüllt werden kann, so kann der Process nur der sein, dass die Seele das identische Stück beider Vorstellungen begrifflich ausscheidet; erkennt sie dann, dass die individuellen Reste nur in Ort und Zeit der Vorstellungen bestehen und den Inhalt derselben nicht mehr berühren, so nennt sie dieselben gleich, und hat so den Begriff der Gleichheit gewonnen. Es ist aber leicht zu sehen, dass, wenn dieser ganze Process im Bewusstsein vollzogen werden sollte, die Seele die Fähigkeit der Abstraction und mithin den Begriff der Gleichheit, um das[264] beiden Vorstellungen gemeinsame gleiche Stück ausscheiden zu können, schon besitzen müsste, um zu ihnen zu gelangen, was ein Widerspruch ist; es bleibt also, da jede Menschen- und Thierseele diesen Begriff wirklich hat, nichts als die Annahme übrig, dass dieser Process sich in seinem Haupttheile unbewusst vollzieht, und erst das Resultat als Begriff der Gleichheit, oder als Urtheil: »A und B sind gleich« in's Bewusstsein fällt.


Wie unentbehrlich die Fähigkeit der Abstraction und der in ihr enthaltene Gleichheitsbegriff selbst zu den ersten Grundlagen alles Denkens sei, will ich kurz an der Erinnerung zeigen.


Jeder Mensch und jedes Thier weiss, wenn in ihm eine Vorstellung oder eine Wahrnehmung entsteht, ob es den Inhalt derselben kennt oder nicht, d.h. ob ihm die Wahrnehmung neu ist, zum ersten Male entsteht, oder ob es dieselbe früher schon gehabt hat. Eine blosse Vorstellung, die auftaucht, verbunden mit dem Bewusstsein, dass sie schon früher als Sinneswahrnehmung dagewesen sei, heisst Erinnerung. Das Wiedererkennen sinnlicher Wahrnehmungen wird nicht mit diesem Namen bezeichnet, ist aber mindestens ebenso wichtig. Es fragt sich, wie kommt die Seele zu dem Merkmal des Bekanntseins, welches doch in der Vorstellung selbst nicht liegen kann, da jede Vorstellung an und für sich als etwas Neues auftritt. Die nächstliegende Antwort ist: durch die Ideenassociation, denn eine Haupthervorrufung derselben ist die Aehnlichkeit. Wenn also eine Wahrnehmung neu eintritt, welche schon früher dagewesen war, so wird die schlummernde Erinnerung wach gerufen, und die Seele hat nun statt eines Bildes zwei, ein lebhaftes und ein schwaches, und letzteres einen Moment später, während sie bei neuen Wahrnehmungen nur eins vorfindet. Da sie von dem zweiten schwachen Bilde sich nicht als Ursache weiss, so nimmt sie das der Zeit nach frühere lebhafte als Ursache desselben an, da aber andererseits die Ursache davon, dass das schwache Bild in einigen Fällen erscheint, in anderen nicht, in den Wahrnehmungen nicht wohl liegen kann, so setzt sie die Ursache dieser Erscheinung in eine verschiedene Disposition des Vorstellungsvermögens. Hätte die Seele bei der schwachen Vorstellung ohne Weiteres das Bewusstsein, dass sie schon früher dagewesen sei, so wäre die Sache erklärlich, aber das ist eben nicht zu begreifen, wie sie zu diesem Bewusstsein aus dem bisher Angeführten kommen soll; die Frage wäre damit nicht gelöst, sondern nur ihr Object eine Stufe zurückgeschoben.[265] Hier hilft nun aber die Betrachtung von gleichen Sinneseindrücken aus, die so schnell auf einander folgen, dass das Nachbild des ersten beim Eintreten des zweiten noch nicht verklungen ist. Hier weiss nämlich die Seele 1) das Nachbild des ersten Eindruckes mit demselben vermöge der Stetigkeit des Abklingens als eins; 2) weiss sie aus dem Grade der Abschwächung, dass das äussere Object aufgehört hat zu wirken, und nur sein Nachbild übrig ist; 3) weiss sie, dass die unmittelbar nach dem zweiten Eindruck eintretende plötzliche Verstärkung des Nachbildes eine Wirkung jenes ist; 4) erkennt sie die Inhaltsgleichheit des zweiten Eindruckes mit dem verstärkten Nachbilde des ersten. Aus diesen Prämissen schliesst sie, dass die Disposition des Vorstellungsvermögens, welche die Entstehung des schwachen Bildes nach dem zweiten Eindruck bedingte, das Vorhandensein des Nachbildes des ersten war, und dass der zweite Eindruck derselbe war, wie der erste. Indem nun solche Beispiele sich bei verschiedenen Graden des Abgeklungenseins wiederholen, wird nach Analogie geschlossen, dass auch da, wo das Nachbild des ersten beim Eintreten des zweiten Eindruckes nicht mehr vorhanden ist, die fragliche Disposition des Vorstellungsvermögens in einem schlummernden Nachbilde bestehe, und somit ergiebt sich das Bewusstsein des Bekanntseins jedesmal, wenn eine Vorstellung eine ihr gleiche schwächere hervorruft. So z.B. wenn beim wachen Träumen Einem Bilder aufsteigen, so müssen dieselben erst bis zu einem gewissen Grade der Vollständigkeit gediehen sein, ehe sie durch Association für einen Moment das Ganze der erlebten Situation als zweites Bild vor die Seele führen, und erst in diesem Moment springt plötzlich das Bewusstsein hervor, dass man ja die Sache erlebt hat, erst dann wird die aufgestiegene Erinnerung als Erinnerung bewusst.

Man sieht, welch' ein ungeheuerer Apparat von complicirter Ueberlegung erforderlich ist, um ein scheinbar so einfaches Fundamentalphänomen zu erzeugen, und dass ganz unmöglich in jenen Zeiten der Kindheit von Mensch und Thier, wo diese Begriffe sich bilden, ein solcher Process sich im Bewusstsein vollziehen könnte zumal da alle hier angewandten Schlüsse die Fähigkeit, die Vorstellungen als bekannt anzuerkennen, längst voraussetzen. Darum bleibt nichts übrig, als dass auch dieser Process sich im Unbewussten vollzieht und nur sein Resultat instinctiv in's Bewusstsein lallt. Auch die Gewissheit des Bekanntseins, welche bei nicht zu grosser Zwischenzeit beider Eindrücke[266] die Erinnerung bietet, könnte bei diesem künstlichen Gebäude von Hypothesen und Analogien nie erreicht werden.

Ein anderes Beispiel bietet die Causalität. Allerdings ist dieselbe logisch zu entwickeln, nämlich aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung, welche mit der blossen Voraussetzung des absoluten Zufalls, d.i. der Causalitätslosigkeit rechnet. Wenn nämlich unter den und den Umständen ein Ereigniss n Mal eingetroffen ist, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass es unter denselben Umständen das nächste Mal wieder eintrifft (n + 1) / (n + 2); gesetzt nun, wir nennen den Eintritt des Ereignisses nothwendig, wenn die Wahrscheinlichkeit desselben = 1 wird, so lässt sich hieraus die Wahrscheinlichkeit davon entwickeln, dass der Eintritt des Ereignisses nothwendig, oder nicht nothwendig sei. Weiter liegt aber, wie schon Kant nachwies, keine Bedeutung in der Causalität, als die Notwendigkeit des Eintretens unter den betreffenden Umständen, da der Begriff der Erzeugung ein willkürlich hineingelegter, und am Ende doch nur ein unpassend gebrauchtes Bild ist.

Also können wir die Wahrscheinlichkeit zeigen, dass diese oder jene Erscheinung von diesen oder jenen Umständen verursacht sei, und weiter geht in der That unser Erkennen nicht. Gewiss wird Niemand glauben, dass dies die Art sei, wie Kinder und Thiere zum Begriff der Causalität kommen, und doch giebt es keine andere Art, über den Begriff der blossen Folge hinaus, zu dem der nothwendigen Folge oder Wirkung zu gelangen, folglich muss auch dieser Process im Unbewussten vor sich gehen, und der Begriff der Causalität als sein fertiges Resultat in's Bewusstsein treten.

Derselbe Nachweis lässt sich auch für die anderen Beziehungsbegriffe führen, sie alle lassen sich logisch discursiv entwickeln, aber diese Entwickelungen sind alle so fein und zum Theil so complicirt, dass sie ganz unmöglich im Bewusstsein der Wesen vollzogen werden können, die diese Begriffe zum ersten Male bilden; darum treten sie als etwas Fertiges vor das Bewusstsein. Wer nun auf die Unmöglichkeit, diese Begriffe von aussen zu erhalten, und die Nothwendigkeit, sie selbst zu bilden, sieht, der behauptet ihre Apriorität; wer dagegen sich darauf stützt, dass solche Bildungsvorgänge im Bewusstsein gar nicht Platz greifen können, sondern diesem vielmehr die Resultate als etwas Fertiges gegeben werden, der muss ihre Aposteriorität behaupten. Plato ahnte Beides, indem er alles Lernen Erinnerung nannte, Schelling sprach es aus in dem[267] Satz: »Insofern das Ich Alles aus sich producirt, ist alles... Wissen a priori; aber insofern wir uns dieses Producirens nicht bewusst sind, insofern ist... Alles a posteriori... Es giebt also Begriffe a priori, ohne dass es angeborene Begriffe gäbe.« (Vgl. oben S. 15.) So ist alles wahrhaft Apriorische ein vom Unbewussten Gesetztes, das nur als Resultat in's Bewusstsein fällt. Insofern es das Prius des Gegebenen, des unmittelbaren Bewusstseinsinhalts ist, insofern ist es noch unbewusst; indem das Bewusstsein auf den vorgefundenen Inhalt reflectirt, und aus demselben auf das ihn erzeugende Prius zurückschliesst, erkennt es a posteriori das unbewusst wirksame Apriorische. (Vgl. hierzu »Das Ding an sich« S. 66-73, 83-90.)A63 Der gewöhnliche Empirismus verkennt das Apriorische im Geiste; die philosophische Speculation verkennt, dass alles Apriorische im Geiste nur a posteriori (inductiv) erkennbar ist.

Das Vereinen von Vorstellungen kann wiederum ein räumliches oder zeitliches Aneinanderfügen, wie bei bildenden oder musikalischen Compositionen sein, dann fällt es unter die künstlerische Production, oder ein Zusammensetzen von Begriffen zu einer einheitlichen Vorstellung, wie beim Bilden von Definitionen, oder ein Vereinen von Vorstellungen durch Beziehungsformen, wo man also zur Folge den Grund, zur Form den Inhalt, zu dem Gleichen das Gleiche, zur einen Alternative die andere, zum Besonderen das Allgemeine sucht oder umgekehrt. In allen Fällen hat man die eine Vorstellung und sucht eine andere, welche die gegebene Beziehung erfüllt. Entweder man hat die gesuchte als schlummernde Erinnerung in sich oder nicht. Im letzteren Falle hat man sie erst direct oder indirect zu erfinden, im ersteren kommt es nur darauf an, dass Einem von den vielen Gedächtnissvorstellungen gerade die rechte einfällt. Beidesfalls ist eine Reaction des Unbewussten erforderlich.

Die Beziehung des Allgemeinen zum Besondern hat ihren einfachsten sprachlichen Ausdruck im Urtheil, wo das Subject das Besondere, das Prädicat das Allgemeine repräsentirt. Zu jedem Besonderen giebt es aber sehr viele Allgemeine, die alle in ihm enthalten sind, darum kann jedes Subject mit Recht viele Prädicate annehmen; welches aber gerade passt, das hängt nur von dem Ziele des Gedankenganges ab; es kommt also auch beim Urtheilen wieder darauf an, dass Einem gerade die rechte Vorstellung einfällt, ebenso wenn man zum Subject das Prädicat, als wenn man zum Prädicat das Subject sucht, denn von einem Allgemeinen sind ja auch wieder viele Besondere umfasst.[268]

Besondere Wichtigkeit für das Denken hat noch die Beziehung von Grund und Folge. Dieselbe wird stets durch den Syllogismus vermittelt, welcher in seiner einfachen Form, wenn er vollzogen wird, immer richtig vollzogen werden muss, und durch den Satz vom Widerspruch bewiesen werden kann. Nun zeigt sich aber sehr bald, dass der Syllogismus durchaus nichts Neues bietet, wie von John Stuart Mill u. A. dargethan worden ist, denn der allgemeine Obersatz enthält implicite den besonderen Fall schon in sich, der im Schlüsse nur explicirt wird; da nun Jedermann von dem Obersatze als Allgemeinem nur dadurch überzeugt sein kann, dass er von allen seinen besonderen Fällen überzeugt ist, so muss er auch von dem Schlusssatze schon überzeugt sein, oder er ist es auch nicht vom Obersatze; und hat der Obersatz keine gewisse, sondern nur wahrscheinliche Geltung, so muss auch der Schlusssatz denselben Wahrscheinlichkeitscoefficienten, wie der Obersatz tragen. Hiermit ist dargethan, dass der Syllogismus die Erkenntniss auf keine Weise vermehrt, wenn einmal die Prämissen gegeben sind, was damit völlig übereinstimmt, dass kein vernünftiger Mensch sich bei einem Syllogismus aufhält, sondern mit dem Denken der Prämissen eo ipso schon den Schlusssatz mitgedacht hat, so dass der Syllogismus als besonderes Glied des Denkens niemals in's Bewusstsein tritt. Demnach kann der Syllogismus für die Erkenntniss keine unmittelbare, sondern nur eine mittelbare Bedeutung haben. In Wahrheit handelt es sich in allen besonderen Fällen (wo also der Untersatz gegeben ist) um das Auffinden des passenden Obersatzes; ist dieser gefunden, so ist auch sofort der Schlusssatz im Bewusstsein, ja sogar der Obersatz bleibt oft unbewusstes Glied des Processes. Natürlich kann derselbe Untersatz zu vielen Obersätzen stehen, wie ein Subject zu vielen Prädicaten, aber wie für den vorliegenden Zweck eines Urtheils immer nur Ein Prädicat diejenige Bestimmung des Subjects giebt, welche zur Fortsetzung der Gedankenfolge auf das vorgesteckte Ziel hin dienen kann, so kann auch nur ein bestimmter Obersatz denjenigen Schlusssatz erzeugen helfen, welcher diese Gedankenfolge fördern kann. Es handelt sich also darum, unter denjenigen allgemeinen, im Gedächtniss aufbewahrten Sätzen, mit denen der gegebene Fall sich als Untersatz verbinden lässt, gerade den Einen in's Bewusstsein zu rufen, welcher gebraucht wird, d.h. unsere allgemeine Behauptung bestätigt sich auch hier. Z.B. wenn ich beweisen will, dass in einem gleichschenkeligen Dreieck die Winkel an der Grundlinie einander gleich sind, so brauche ich[269] mich bloss des allgemeinen Satzes zu erinnern, dass in jedem Dreieck gleichen Seiten gleiche Winkel gegenüber liegen; sobald mir dieser früher klar geworden ist und ich mich seiner erinnere, ist eo ipso auch die Conclusion fertig. Ebenso wenn mich Jemand fragt, was ich vom Wetter halte, und dabei die Bemerkung macht, dass das Barometer stark gefallen sei, so brauche ich mich bloss des allgemeinen Satzes zu erinnern, dass nach jedem starken Fallen des Barometers das Wetter umschlägt, so bin ich selbstverständlich mit der Conclusion fertig: »das Wetter wird morgen umschlagen«; hier wird sogar zweifelsohne der allgemeine Obersatz unbewusst bleiben, und die Conclusion ohne Weiteres eintreten.

Fragen wir aber, wie wir (mit Ausnahme der Mathematik) zu den allgemeinen Obersätzen kommen, so zeigt die Untersuchung, dass es auf dem Wege der Induction geschieht, indem aus einer grösseren oder geringeren Anzahl wahrgenommener besonderer Fälle die allgemeine Regel mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit abgeleitet wird. Diese Wahrscheinlichkeit steckt wirklich implicite in dem Wissen vom Obersatze darin, und man kann sie bei gebildeten und denkgewohnten Menschen durch Markten und Feilschen um die Bedingungen einer für den nächsten besonderen Fall proponirten Wette als Zahlenausdruck herausholen; natürlich aber hat man für gewöhnlich von dieser Zahlengrösse des Wahrscheinlichkeitscoefficienten nur eine unklare Vorstellung, die mithin auch eine grosse Ungenauigkeit enthält, so dass z.B. eine einigermassen hohe Wahrscheinlichkeit stets mit der Gewissheit verwechselt wird (siehe religiösen Glauben). Nichtsdestoweniger werden sich durch den Vorschlag einer Wette sehr bald Grenzen nach oben und unten finden lassen, durch welche die Grösse der Wahrscheinlichkeit immerhin bis zu einem gewissen Grade bestimmt wird, und bei feinen Köpfen werden diese Grenzen durch fortgesetztes Handeln um die Bedingungen der Wette ziemlich nahe an einander gerückt werden können.

Die Frage, wie kommt man zu dem Glauben an die allgemeine Regel, theilt sich also in die zwei Fragen: 1) wie kommt man überhaupt dazu, vom Besonderen auf das Allgemeine überzugehen, und 2) wie kommt man zu dem Coefficienten, welcher die Wahrscheinlichkeit einer realen Geltung des gefundenen allgemeinen Ausdruckes vorstellt. – Ersteres erklärt sich nur durch das practische Bedürfniss allgemeiner Regeln, ohne welche der Mensch im Leben ganz rathlos wäre, da er nicht wüsste, ob die Erde seinen nächsten[270] Schritt aushält, oder der Baumstamm das nächste Mal wieder auf dem Wasser mit ihm schwimmt; es ist also auch dies ein glücklicher Einfall, der durch die Dringlichkeit des Bedürfnisses hervorgerufen worden, denn in den besonderen Fällen selbst liegt nicht das Mindeste, was zu ihrer Zusammenfassung in eine allgemeine Regel hintriebe. Das Zweite aber wird durch die inductive Logik erklärt, insofern dadurch die Induction als logische Deduction eines Wahrscheinlichkeitscoefficienten begriffen wird. Hiermit ist zwar der objective Zusammenhang erklärt, aber der subjective Vorgang des Bewusstseins kennt diese künstlichen Methoden nicht; der natürliche Verstand inducirt instinctiv, und findet das Resultat als etwas Fertiges im Bewusstsein, ohne über das Wie nähere Rechenschaft geben zu können. Daher bleibt nichts übrig, als die Annahme, dass das unbewusste Logische im Menschen dem bewusst Logischen diesen Process abnimmt, der für das Bestehen des Menschen erforderlich ist, und doch die Kräfte des unwissenschaftlichen Bewusstseins übersteigt. Denn wenn ich Bei den und den Anzeichen am Himmel so und so oft habe Regen oder Gewitter eintreten sehen, so bilde ich die allgemeine Regel mit einer von der Anzahl der Beobachtungen abhängigen Wahrscheinlichkeitsgrösse der realen Gültigkeit, ohne dass ich Etwas von Mill's Inductionsmethoden der Uebereinstimmung, des Unterschiedes, der Rückstände oder der sich begleitenden Veränderungen weiss, und dennoch stimmt mein Resultat mit dem wissenschaftlichen überein, soweit die Unklarheit meines Wahrscheinlichkeitscoefficienten eine Uebereinstimmung bestätigen kann, und wenn man die etwa einwirkenden positiven Quellen des Irrthums, wie Interesse u.s.w., dabei in Betracht zieht.

Bisher haben wir immer nur ziemlich einfache Processe des Denkens, gleichsam seine Elemente betrachtet; es bleiben uns nun aber die Fälle zu berücksichtigen, wo mitten in einer bewussten Gedankenkette mehrere logisch nothwendige Glieder vom Bewusstsein übersprungen werden, und doch fast immer das richtige Resultat eintritt. Hier wird sich uns das Unbewusste wieder einmal recht deutlich als Intuition, intellectuelle Anschauung, unmittelbares Wissen, immanente Logik offenbaren.

Betrachten wir zuerst in diesem Sinne die Mathematik, so zeigt sich, dass in derselben zwei Methoden sich durchdringen, die deductive oder discursive und die intuitive. Erstere führt ihre Beweise durch stufenweise Schlussfolgerungen nach dem Satze vom Widerspruch aus zugegebenen Prämissen, entspricht also überhaupt dem[271] bewusst Logischen und dessen discursiver Natur; sie wird in der Regel für die einzige und ausschliessliche Methode der Mathematik gehalten weil sie allein mit dem Anspruch auf Methode und Beweisführung hervortritt. Die andere Methode muss sich jedes Anspruches auf Beweisführung begeben, ist aber nichtsdestoweniger Begründungsform, also Methode, weil sie an das natürliche Gefühl, an den gesunden Menschenverstand appellirt, und durch intellectuelle Anschauung in einem Blicke dasselbe, ja sogar mehr lehrt, als die deductive Methode nach einem langweiligen Beweise. Sie tritt mit ihrem Resultat als etwas logisch Zwingendem vor's Bewusstsein, und zwar ohne Schwanken und Ueberlegung, sondern momentan, hat also den Charakter des unbewusst Logischen. Z.B. wird kein Mensch, der ein gleichseitiges Dreieck ansieht, wenn er erst verstanden hat, um was es sich handelt, einen Augenblick zweifeln, ob die Winkel gleich sind; die deductive Methode kann es ihm allerdings aus noch einfacheren Prämissen beweisen, aber die Gewissheit seiner intuitiven Erkenntniss wird damit sicherlich keinen Zuwachs bekommen, im Gegentheil, wenn man es ihm z.B. ohne Anschauung der Figur durch Rechnung vollkommen bündig beweist, so wird er weniger haben, als durch einfache Anschauung, er weiss dann nämlich bloss, dass es so sein muss, und nicht anders sein kann, aber hier sieht er, dass es wirklich so ist, und doch noch, dass es nothwendig so ist, er sieht gleichsam als lebendigen Organismus von Innen, was ihm durch die Deduction bloss als Wirkung eines todten Mechanismus erscheint, er sieht so zu sagen das »Wie« der Sache, nicht bloss das »Dass«, kurz er fühlt sich viel mehr befriedigt.

Es ist Schopenhauer's Verdienst, den Werth dieser intuitiven Methode gebührend betont zu haben, wenn er auch die deductive Methode darüber ungebührlich zurücksetzt. Alle Grundsätze der Mathematik stützen sich auf diese Form der Begründung, obwohl sie sich ebenso gut wie complicirtere Sätze aus dem Satze vom Widerspruch deduciren lassen; nur wirkt der Einfachheit des Gegenstandes wegen die Anschauung hier so schlagend für die Ueberzeugung, dass man den fast als Narren betrachtet, der solche Grundsätze deduciren will; daher kommt es, dass noch Niemand den nöthigen Scharfsinn aufgeboten hat, um alle Grundsätze der Mathematik wirklich auf den Satz vom Widerspruch in Anwendung auf gegebene Raum- und Zahlenelemente zurückzuführen, und daher die bei vielen Philosophen (z.B. bei Kant) festgesetzte Meinung, dass diese Zurückführung nicht möglich sei. Aber so gewiss diese Grundsätze[272] logisch sind, so gewiss ist ihre Deduction vom alleinigen Grundgesetz der Logik, dem Satze vom Widerspruch, möglich.A64

Schon die Grundsätze der Mathematik sind für helle Köpfe sehr unnütz für solche könnte man die Mathematik mit Grundsätzen viel complicirterer Natur anfangen; aber unsere Mathematik ist für Schulen bearbeitet, wo auch die Dümmsten sie begreifen sollen, und diese haben Noth, die Grundsätze als logisch nothwendig zu begreifen. Die discursive oder deductive Methode schlagt bei Jedem an, weil sie eben nur Schritt für Schritt geht, aber die Intuition ist Sache des Talents; für den Einen versteht sich von selbst, was der Andere erst auf langen Umwegen einsieht. Kommt man ein wenig weiter, so kann man allerdings durch Umformung der geometrischen Figuren, Umklappen Aufeinanderlegen und andere Constructionshülfen die Anschauung unterstützen, aber bald kommt man doch an einen Punct, wo auch der helle Kopf nicht weiter kann und zur deductiven Methode seine Zuflucht nehmen muss. Z.B. am gleichschenkelig rechtwinkeligen Dreiecke ist durch Umklappen des Hypothenusenquadrats der pythagoräische Lehrsatz noch anschaulich zu machen, aber beim ungleichschenkeligen ist er nur deductiv zu begreifen.A65


VII. Das Unbewusste im Denken

Hieraus geht hervor, dass unsere befähigtsten Mathematiker die Fähigkeit der Intuition viel zu schnell im Stiche lässt, um irgend wie damit vorwärts zu kommen, dass es aber eben nur von dem Grade der Befähigung abhängt, wie weit dies gehen könne, und dass der Möglichkeit nichts im Wege steht, sich einen höheren Geist zu denken, der so vollkommen Herr der intuitiven Methode ist, dass er die deductive völlig entbehren kann. Die Schwierigkeit der Intuition zeigt sich namentlich sehr bald bei der Algebra und Analysis; nur monströse Talente, wie Dahse, bringen es hier zu einer Anschauung, welche grosse Zahlen einheitlich aufzufassen und zu behandeln im Stande ist. Häufiger findet man bei Mathematikern die Fähigkeit, in einer geordneten Schlusskette intuitive Sprünge zu machen und[273] eine Menge Glieder geradezu auszulassen, so dass aus den Prämissen des ersten Schlusses gleich der Schlusssatz des Dritt- oder Fünftfolgenden in's Bewusstsein springt. Alles dies lässt schliessen, dass die discursive oder deductive Methode nur der lahme Stelzengang des bewusst Logischen ist, während die logische Intuition der Pegasusflug des Unbewussten ist, der in einem Moment von der Erde zum Himmel trägt; die ganze Mathematik erscheint aus diesem Gesichtspuncte wie ein Werkzeug und Rüstzeug unseres armseligen Geistes, der mühsam Stein auf Stein thürmen muss, und doch nie mit der Hand an den Himmel fassen kann, wenn er auch über die Wolken hinausbaut. Ein mit dem Unbewussten in näherer Verbindung stehender Geist als wir würde von jeder gestellten Aufgabe die Lösung intuitiv und doch mit logischer Nothwendigkeit momentan erfassen, wie wir bei den einfachsten geometrischen Aufgaben, und ebenso ist es hiernach kein Wunder, dass die verkörperten Rechnungen des Unbewussten, ohne demselben Mühe gemacht zu haben, im Grössten wie im Kleinsten so mathematisch genau stimmen, wie z.B. in der Bienenzelle der Winkel, in dem die Flächen zu einander geneigt sind, so genau es sich nachmessen lässt (auf halbe Winkelminuten), mit dem Winkel stimmt, welcher bei der Gestalt der Zelle das Minimum von Oberfläche, also von Wachs, für den gegebenen Rauminhalt bedingt. (Vgl. auch S. 163 über die Construction des Oberschenkels.)

Bei alledem können wir nicht zweifeln, dass bei der Intuition im Unbewussten dieselben logischen Glieder vorhanden sind, – nur in einem Zeitpunct zusammengedrängt, was in der bewussten Logik nach einander folgt; dass nur das letzte Glied in's Bewusstsein fällt, liegt daran, weil nur dieses Interesse hat, dass aber alle anderen im Unbewussten vorhanden sind, kann man erkennen, wenn man die Intuition absichtlich in der Weise wiederholt, dass erst das vorletzte, dann das vorvorletzte Glied u.s.w. in's Bewusstsein fällt. Das Verhältniss zwischen beiden Arten ist also so zu denken: das Intuitive durchspringt den zu durchlaufenden Raum mit einem Satze, das Discursive macht mehrere Schritte; der durchmessene Raum ist in beiden Fällen ganz derselbe, aber die dazu gebrauchte Zeit ist verschieden. Jedes zu-Boden-Setzen des Fusses bildet nämlich einen Ruhepunct, eine Station, welche in Hirnschwingungen besteht, die eine bewusste Vorstellung erzeugen und hierzu Zeit brauchen (1/4-2 Secunden). Das Springen resp. Schreiten selbst ist dagegen in beiden Fällen etwas Momentanes, Zeitloses, weil erfahrungsmässig[274] in's Unbewusste Fallendes; der eigentliche Process ist also immer unbewusst, der Unterschied ist nur, ob er zwischen den bewussten Haltestationen grössere oder kleinere Strecken durchläuft. Bei kleinen Schritten fühlt sich auch der schwerfällige und ungeschickte Denker sicher, dass er nicht fehltritt; bei grösseren Sprüngen aber wächst die Gefahr des Strauchelns und nur der gewandte und leicht bewegliche Kopf wendet sie mit Vortheil an. Der schwerfällige Kopf hat bei seiner grösseren Discursivität des Denkens einen doppelten Zeitverlust; erstens ist der Aufenthalt auf der einzelnen Station bei ihm grösser, weil die einzelne Vorstellung längere Zeit braucht, um mit derselben Klarheit bewusst zu werden, und zweitens muss er mehr Stationen machen. – Dass aber wirklich der eigentliche Process in jedem, auch dem kleinsten Schritte des Denkens intuitiv und unbewusst ist, darüber kann wohl nach dem bisher Gesagten kein Zweifel obwalten.

Aber auch ausser der Mathematik können wir das Ineinanderwirken der discursiven und intuitiven Methode verfolgen. Der geübte Schachspieler überlegt wohl den Erfolg dieses und jenes Zuges nach drei oder vier Zügen, aber hundert Tausend andere mögliche Züge zu überlegen, fällt ihm gar nicht ein, von denen der schlechte Schachspieler vielleicht noch fünf oder sechs überlegt, ohne auf die beiden zu verfallen, welche allein die Aufmerksamkeit des guten Spielers in Anspruch nehmen. Woher kommt es nun, dass letzterer diese fünf bis sechs Züge gar nicht beachtet, die sich wahrscheinlich doch auch erst nach Verlauf von zwei bis drei anderen Zügen als minder gut herausstellen? Er sieht das Schachbrett an, und ohne Ueberlegung sieht er unmittelbar die beiden einzig guten Züge. Es ist dies das Werk eines Momentes, auch wenn er als Zuschauer an eine fremde Partie herantritt. So sieht der geniale Feldherr den Punct für die Demonstration oder den entscheidenden Angriff, auch ohne Ueberlegung. (Vgl. oben S. 20 den Hinweis auf Heine). Uebung ist ein Wort, welches hier gar nicht die Frage berührt, Uebung kann die Ueberlegung erleichtern, aber nie die fehlende ersetzen, ausser bei mechanischen Arbeiten, wo ein anderes Nervencentrum für das Gehirn vicarirend eintritt Aber hier, wo davon nicht die Rede sein kann, fragt es sich: was vollzieht die zweckmässige Wahl momentan, wenn die bewusste Ueberlegung es nicht ist? Offenbar das Unbewusste. –

Betrachten wir die Sprünge eines jungen Affen. Cuvier erzählt von einem jungen Bhunder (Macacus Rhesus) (s. Brehm's illustr.[275] Thierleben I. 64): »Etwa nach vierzehn Tagen begann dieses sich von seiner Mutter loszumachen und zeigte gleich in seinen ersten Schritten eine Gewandtheit, eine Stärke, welche alle in Erstaunen setzen musste, weil beidem doch weder Uebung, noch Erfahrung zu Grunde liegen konnte. Der junge Bhunder klammerte sich gleich Anfangs an die senkrechten Eisenstangen seines Käfigs und kletterte an ihnen nach Laune auf und nieder, machte wohl auch einige Schritte auf dem Stroh, sprang freiwillig von der Höhe seines Käfigs auf seine vier Hände herab, und dann wieder gegen die Gitter, an welche er sich mit einer Behendigkeit und Sicherheit anklammerte, die dem erfahrensten Affen Ehre gemacht hätte.« Wie kommt dieser zum ersten Male aus dem Fell seiner Mutter, unter deren Brust er bisher gehangen, sich losmachende Affe dazu, die Kraft und Richtung seiner Sprünge richtig zu bemessen. Wie berechnet der zwölf Fuss weit nach seinem Raube springende Löwe die Wurfcurve mit Anfangswinkel und Anfangsgeschwindigkeit, wie der Hund die Curve des Bissens, den er so geschickt auf jede Entfernung und in jedem Winkel fängt? Die Uebung erleichtert nur die Wirkung des Unbewussten auf die Nervencentra, und wo diese schon ohne Uebung genügend dazu vorbereitet sind, sehen wir auch diese Uebung nicht erforderlich, wie bei jenem Affen; aber das, was die fehlende mathematische Berechnung ersetzt, kann, wie bei dem Zellenbau der Biene, nur die mathematische Intuition sein, verbunden mit dem Instinct der Ausführung der Bewegung.

Was das Ueberspringen von Schlüssen beim gewöhnlichen Denken betrifft, so ist dasselbe eine ganz bekannte Erfahrung; das Denken würde ohne diese Beschleunigung so schneckenlangsam sein, dass man, wie es denklangsamen Menschen jetzt noch häufig geht, bei vielen practischen Ueberlegungen mit dem Resultat zu spät kommen würde, und die ganze Arbeit des Denkens ihrer Beschwerlichheit wegen so hassen würde, wie sie jetzt bloss von besonders Denkfaulen gehasst und gemieden wird. Der einfachste Fall des Ueberspringens ist der, wo man aus dem Untersatze sofort den Schlusssatz erhält, ohne sich des Obersatzes bewusst zu werden. Aber auch ein oder mehrere wirkliche Schlüsse werden bisweilen fortgelassen, wie wir es in der Mathematik schon gesehen haben. Dies geschieht gewöhnlich nur beim eigenen Denken, bei der Mittheilung nimmt man Rücksicht auf das Verständniss des Anderen und holt die hauptsächlichen der vorher unbewusst gebliebenen Zwischenglieder nach; Frauen und ungebildete Menschen versäumen dies häufig, und dann[276] entsteht das Springende in ihrem Gedankengange, das für den Sprechenden zwar Begründungskraft hat, wo der Hörer aber gar nicht weiss, wie er von Einem zum Anderen kommen soll. Jeder, der gewohnt ist, Selbstbeobachtungen anzustellen, wird sich über einem stark springenden Gedankengange und Schlussfolge ertappen können, wenn er sich dieselbe nach einer solchen Ueberlegung recapitulirt, welche einem ihm neuen und sehr interessanten Gegenstande mit Eifer und glücklichem Erfolge nachging.

Interessant ist eine dies Gebiet nahe berührende Bemerkung des Psychiatrikers Jessen (Psychologie S. 235-236), welche ich mir hierher zu setzen erlaube: »Wenn wir mit der ganzen Kraft des Geistes über etwas nachdenken, so können wir dabei in einen Zustand von Bewusstlosigkeit versinken, in welchem wir nicht nur die Aussenwelt vergessen, sondern auch von uns selber und den in uns sich bewegenden Gedanken gar nichts wissen. Nach kürzerer oder längerer Zeit erwachen wir dann plötzlich, wie aus einem Traume, und in demselben Augenblick tritt gewöhnlich das Resultat unseres Nachdenkens klar und deutlich im Bewusstsein hervor, ohne dass wir wissen, wie wir dazu gekommen sind. – Auch bei einem weniger angestrengten Nachdenken kommen Momente vor, in welchen sich mit dem Bewusstsein der eigenen Geistesanstrengung eine völlige Gedankenleere verbindet, worauf alsdann in dem nächsten Augenblicke ein lebhafteres Zuströmen von Gedanken nachfolgt. Es gehört freilich einige Uebung dazu, um ein ernsthaftes Nachdenken mit gleichzeitiger Selbstbeobachtung zu vereinigen, indem das Bestreben, die Gedanken bei ihrem Entstehen und in ihrer Aufeinanderfolge zu beobachten, sehr leicht Störungen des Denkens und Stockungen in der Gedankenentwickelung hervorbringt; fortgesetzte Versuche setzen uns aber in den Stand, deutlich wahrzunehmen, dass eigentlich bei jedem angestrengten Nachdenken gleichsam ein stetiges innerliches Pulsiren oder eine wechselnde Ebbe und Fluth der Gedanken stattfindet: ein Moment, in welchem alle Gedanken aus dem Bewusstsein verschwinden, und nur das Bewusstsein einer innerlichen geistigen Spannung bleibt, und ein Moment, in welchem die Gedanken in grösserer Fülle zuströmen und deutlich im Bewusstsein hervortreten. Je tiefer die Ebbe war, desto stärker pflegt die nachfolgende Fluth zu sein; je stärker die vorhergehende innere Spannung, desto stärker und lebhafter die Fülle der hervortretenden Gedanken.« – Die rein empirischen Bemerkungen dieses feinen Seelenbeobachters sind[277] eine um so unverfänglichere Bestätigung unserer Anschauungsweise als derselbe unseren Begriff des unbewussten Denkens gar nicht kennt, und trotzdem durch die reine Gewalt der Thatsachen zur wörtlichen Anerkennung unserer Behauptungen (in den gesperrt gedruckten Stellen) gezwungen wird, obwohl seine nachherigen Erklärungsversuche die im Wesentlichen (dem hirnlosen Denken) ganz richtig sind, nur deshalb den Nagel nicht auf den Kopf treffen, weil sie nicht den Begriff des unbewussten als Princip des hirnlosen Denkens erfassen. Das bei diesen Vorgängen beobachtete Bewusstsein geistiger Anstrengung ist nur das Gefühl der Spannung des Hirnes und der Kopfhaut (durch Reflexwirkung). Die beschriebenen Momente der Leere des Bewusstseins, welchen das Resultat folgt, ohne dass man weiss, wie man dazu gekommen ist, sind eben die Momente, wo im productiven Denken eines mit Eifer verfolgten Gegenstandes ein Ueberspringen einer längeren Schlussfolge stattfindet.

Freilich ist der Mensch so sehr an das Finden von Resultaten in seinem Bewusstsein gewöhnt, von denen er nicht weiss, wie er dazu gekommen ist, dass er sich in jedem einzelnen Falle nicht im mindesten darüber zu wundern pflegt, und darum ist es auch natürlich, dass ein Forscher von diesem Ausgangspuncte nicht zuerst zum Begriffe des Unbewussten kommen konnte. Wie aber überhaupt die Reaction des Unbewussten gerade dann am liebsten ausbleibt, wenn man sie absichtlich hervorrufen will, so dürfte auch beim eifrigen und absichtlichen Nachdenken über einen Gegenstand dieses wirkungsreiche Eingreifen des Unbewussten den Meisten weniger leicht zu constatiren sein, als bei sogenanntem geistigen Verdauen und Verarbeiten der eingenommenen Nahrungselemente, welches nicht auf bewussten Antrieb, sondern zu nicht zu bestimmender Zeit stattfindet, und sich nur durch die bei Gelegenheit hervortretenden Resultate ankündigt, ohne dass man sich bewussterweise mit der Sache beschäftigt hätte. (Schopenhauer nennt dies unbewusste Rumination, vgl. oben S. 25). So geht es mir z.B. regelmässig, wenn ich ein Werk gelesen habe, das wesentlich neue Gesichtspuncte meinen bisherigen Ansichten gegenüberstellt. Die Beweise solcher genialen Ideen sind oft ziemlich schwach, und selbst wenn sie gut und scheinbar unwiderleglich sind, lässt sich doch kein Mensch so schnell von seinen alten Ansichten abbringen, denn er kann für letztere eben so gute Gründe aufstellen, oder wenn er das selbst nicht kann, so traut er sich und dem neuen Autor nicht und glaubt: Gegenbeweise wird[278] es schon geben, wenn ich sie auch jetzt noch nicht weiss. Dann kommen andere Geschäfte dazwischen, die Sache ist Einem nicht wichtig genug, um sich nach den Gegenbeweisen umzuthun, wozu man oft Wochen, ja Monate lang in Büchern suchen müsste; kurz, der erste Eindruck schwächt sich ab, und die ganze Geschichte wird mit der Zeit vergessen. Bisweilen ist es aber auch anders. Haben die neuen Ideen auf das Interesse einen wirklich tiefen Eindruck gemacht, so kann man sie wohl vorläufig unangenommen als schwebende Frage zu den Gedächtnissacten reponiren, kann auch durch anderweitige Beschäftigung verhindert sein, oder, noch besser, absichtlich unterlassen, wieder daran zu denken. Trotzdem schläft die Sache nur scheinbar, und nach Tagen, Wochen oder Monaten, wo die Lust und die Gelegenheit erwacht, über diese Frage eine Meinung zu äussern, findet man zu seinem grössten Erstaunen, dass man in dieser Beziehung eine geistige Wiedergeburt durchlebt hat, dass die alten Ansichten, die man bis zu dem Augenblicke für seine wirkliche Ueberzeugung gehalten hatte, völlig über Bord geworfen sind, und die neuen sich schon ungenirt einquartiert haben. Diesen unbewussten geistigen Verdauungs- und Assimilationsprocess habe ich mehreremals an mir selbst erlebt, und habe von jeher einen gewissen Instinct gehabt, diesen Process bei wirklichen Principienfragen der Welt- und Geistesanschauung nicht vorzeitig durch bewusste Ueberlegung zu stören.

Ich bin der Ansicht, dass die Bedeutung des geschilderten Processes auch bei unbedeutenderen Fragen, sobald sie nur das Interesse lebhaft genug berühren, also bei allen practischen Lebensfragen, allemal die eigentliche und wahre Entscheidung giebt, und dass die bewussten Gründe erst hinterher gesucht werden, wenn die Ansicht schon fertig gebildet ist. Der gewöhnliche Verstand aber, der auf diese Vorgänge nicht achtet, glaubt wirklich durch die aufgesuchten Gründe in seiner Meinung bestimmt zu sein, während die schärfere Selbstbeobachtung ihm sagen würde, dass diese in den hierher gehörigen Fällen erst kommen, wenn seine Ansicht schon fixirt, sein Entschluss gefasst ist. Hiermit ist keineswegs gesagt, dass das Unbewusste nicht durch logische Gründe bestimmt werde, dies ist sogar zweifellos der Fall, nur ist es für die Sicherheit der Entscheidung, wenigstens die erste Zeit nach derselben, ziemlich gleichgültig, ob die nachher vom Bewusstsein herausgesuchten Gründe mit diesen Gründen, welche das Unbewusste bestimmt haben, übereinstimmen oder nicht. Bei scharfdenkenden Köpfen wird Ersteres, bei der[279] grossen Mehrzahl das Letztere überwiegend der Fall sein, und daher erklärt sich die Erscheinung, dass die Menschen oft aus so schlechten Gründen so sichere Ueberzeugung zu schöpfen scheinen und von dieser sich durch die besten Gegengründe so schwer abbringen lassen; es liegt eben darin, dass die eigentlichen unbewussten Gründe ihnen gar nicht bekannt und darum auch nicht zu widerlegen sind. Hierbei ist es gleichgültig, ob ihre Ueberzeugung Wahrheit enthält oder nicht auch von den Irrthümern (die wie gesagt nie aus falschen Schlüssen, sondern aus der Unzulänglichkeit und Falschheit der Prämissen entstehen) sind diejenigen am schwersten auszurotten, welche das Resultat eines unbewussten Denkprocesses sind (z.B. in der politischen Meinung die, welche unbewusst in Standes- und Berufsinteressen wurzeln).

Wollte man nun aber durch diese Betrachtung sich zu einer Geringschätzung der bewussten Ratiocination hinreissen lassen, so würde man dennoch einem sehr grossen Irrthum verfallen. Eben weil bei sprunghaften Schlüssen leicht Irrthümer unterlaufen, ist es dringend erforderlich, in wichtigen Fragen die einzelnen Glieder durch discursives Denken klar zu stellen, und bis auf so kleine Denkschritte herabzusteigen, dass man vor Irrthümern in den Schlüssen sich möglichst geschützt weiss. Eben weil bei den Ansichten, deren wahre Begründung im Unbewussten liegt, die Verfälschung des Urtheils durch Interessen und Neigungen sich jeder Controle entzieht und ungenirt breit macht, ist es doppelt nöthig, die subjective Begründung an's Licht zu ziehen, und mit den Resultaten discursiv-logischer Schlussfolgerungen zu confrontiren, da nur in den letzteren eine gewisse, wenn auch immer noch sehr mangelhafte Garantie der Objectivität liegt. Ist auch für den Augenblick das subjective Vorurtheil stärker, mit der Zeit gewinnt die bewusste Logik doch an Boden, und ist es nicht in Einer Generation, so ist es im Laufe vieler. Aber auch in diesem Hervortreten gewisser Wahrheiten an das Licht des Bewusstseins und in ihrem Kampf und Sieg gegen herrschende Zeitanschauungen waltet, wie wir später sehen werden, selbst wieder eine unbewusste Logik, eine historische Vorsehung, die von Keinem klarer erschaut worden ist als von Hegel.[280]

16

Ich erinnere hier nochmals daran, dass der Ausdruck: »schlummernde Gedächtnissvorstellungen« ein uneigentlicher ist, da es sich hier weder um bewusste noch um unbewusste Vorstellungen, also um gar keine Vorstellungen handelt, sondern um moleculare Hirndispositionen zu gewissen Schwingungszuständen, auf welche das Unbewusste eintretenden Falls mit gewissen bewussten Vorstellungen reagirt.

A63

S. 268 Z. 12. (»Krit. Grundlegung des transcendentalen Realismus« 3. Aufl. S. 99-106, 85-90.)

A64

S. 273 Z. 2. Es ist in völkerpsychologischer Hinsicht höchst charakteristisch, dass die Behandlung der Geometrie bei den Hellenen nach möglichst scharfer discursiver Beweisführung strebt, und die naheliegendsten intuitiven Demonstrationen geflissentlich ignorirt, während diejenige bei den Indern trotz ihrer den Hellenen weit überlegenen Begabung für Arithmetik doch ganz auf unmittelbare Anschauung gestützt ist, und sich gewöhnlich mit einer die Intuition unterstützenden Hilfsconstruction begnügt, der das einzige Wort: »siehe!« beigefügt wird. Die Griechen sind stets darauf aus, den kleinsten Gedankenschritt streng zu beweisen, und reihen oft zum Beweise der einfachsten Sätze künstliche discursive Schlussketten an einander, um nur nicht auf die ihnen nicht als Begründung geltende unmittelbare Anschauung sich stützen zu müssen; dafür haben sie aber auch ein imponirendes System der Geometrie zu Stande gebracht, welches zugleich in sich die methodische Anleitung zur Lösung aller nicht direct behandelten Probleme enthält. Bei den Indern hingegen ist jeder Beweis eines geometrischen Satzes ein glücklicher Einfall, und die verschiedenen Sätze stehen zusammenhangslos neben einander; darum sind sie auch, trotz ihrer grossen Phantasie und Intuitionskraft und trotz ihrer die griechischen weit überflügelnden Leistungen in der Arithmetik und Algebra, in der Geometrie nicht weit gekommen und haben nur eine sehr unvollständige Einsicht in die Elemente derselben erlangt. Wunderbar aber muss es genannt werden, dass Schopenhauer, der von diesen geschichtlichen Thatsachen keine Kenntniss hatte, durch seine eigenthümliche Wahlverwandtschaft mit dem indischen Geist auch in Bezug auf die Behandlung der Geometrie zu Forderungen geführt wurde, die als eine Wiedererweckung der indischen Denkweise bezeichnet werden müssen. Wie unsere gesammte moderne Mathematik aus einer Synthese der Euklidischen Geometrie mit der von den Indern entlehnten arabischen Algebra erwachsen ist, so wird gegenwärtig auch die Nothwendigkeit, dem indischen Element der Intuition innerhalb der Geometrie Rechnung zu tragen, immer mehr von Seiten der Pädagogik anerkannt. Aber wenn auch damit manche Vereinfachung, Erleichterung und Verdeutlichung zu erzielen ist, so ist doch der Vorschlag Schopenhauer's, die Geometrie ganz auf Anschauung zu basiren, seiner Natur nach unausführbar, und wird die discursive Begründung als Controle der Anschauung immer mit dieser Hand in Hand gehen müssen.

A65

S. 273 Z. 25. Als Beispiel des über die indische Behandlungsweise der Geometrie Gesagten diene die Anführung des indischen Beweises für den pythagoräischen Lehrsatz, von welchem die Figur Schopenhauer's nur ein Specialfall ist. Derselbe beruht darauf, dass sowohl das Hypothenusenquadrat als auch die Summe der Kathetenquadrate einer dritten Grösse gleich ist, nämlich dem vierfachen Dreieck plus dem Quadrat aus dem Unterschied der Katheten. Indem letzteres beim gleichschenkligen Dreieck gleich Null wird, verwandelt sich der allgemeine Beweis in den für das gleichschenklige Dreieck. (Vergl. Hankel »Zur Geschichte der Mathematik im Alterthum und Mittelalter«, Leipzig 1874, S. 209.) Ohne Zweifel ist dieser älteste Beweis von allen den zahllosen, die nach ihm aufgestellt sind, bei weitem der beste, weil er der anschaulichste, einfachste und instructivste ist. Dass er aber auf unmittelbarer Anschauung beruhe, wird man streng genommen kaum sagen können, da die zu beweisende Gleichheit der zwei fraglichen Grössen doch immerhin erst erschlossen wird aus ihrer angeschauten Gleichheit mit einer dritten, welche letztere noch dazu sich der Anschauung in beiden Figuren verschieden präsentirt, und nur im Begriff identisch ist.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 261-281.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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