2. Das Bewusstwerden der Unlust und der Lust

[42] Wenn wir bisher immer nur vom Bewusstwerden der Vorstellung gesprochen haben, so war dies nicht so gemeint, als ob die Vorstellung das einzige Object des Bewusstseins sei; vielmehr war der ausschliessliche Grund für diese Beschränkung das Bestreben, das Eindringen in dies schwierige Gebiet nicht durch vorzeitige Vermehrung der Objecte und Complication der Gesichtspuncte noch mehr zu erschweren. Nur aus diesem Grunde haben wir, statt vom allgemeinen »Objecte des Bewusstwerdens« zu reden, das Problem von seiner besonders charakteristischen Seite behandelt. Soll nun aber das so gewonnene Princip der Bewusstseinsentstehung richtig sein, so muss es für jeden möglichen Inhalt des Bewusstwerdens passen; es muss sich aus ihm logisch deduciren lassen, welche Elemente in's Bewusstsein eintreten können, welche nicht, indem man sie eins nach dem[42] andern in die Formel einsetzt. Dies wollen wir jetzt mit Unlust, Lust und Willen thun, welche ausser der Vorstellung als mögliche Objecte des Bewusstseins übrig bleiben. Was wir so a priori als Consequenz unseres Principes ableiten, das muss sich dann a posteriori vor der Erfahrung als richtig ausweisen; an dieser aposteriorischen Bestätigung haben wir dann die Rechnungsprobe des Principes, dass Alles das, was die Erfahrung uns als zu Erklärendes bietet, auch wirklich aus ihm fliegst, während wir das Princip selbst ursprünglich a priori durch Elimination der unrichtigen Annahmen aus allen möglichen gewonnen haben, wo uns zuletzt nur die eine übrig blieb.

Wollte man alsdann wenn das Princip a priori und a posteriori gerechtfertigt sein wird, etwa noch verlangen, dass ich zeigte, wie und auf welche Weise aus dem dargelegten Processe gerade Dasjenige resultirt, was wir in der inneren Erfahrung als Bewusstsein kennen, so wäre diese Anforderung so unbillig, als die an den Physiker, zu zeigen, wie aus den Luftwellen und der Einrichtung unseres Ohres das resultirt, was wir in der inneren Erfahrung als Ton kennen. Der Physiker zeigt uns nur, und kann nur zeigen, dass das, was subjectiv als Ton empfunden wird, objectiv betrachtet in einem Processe besteht, welcher sich aus den und den Schwingungen zusammensetzt; so kann ich nur zeigen, dass das, was wir in subjectiver Auffassung als Bewusstsein kennen, objectiv betrachtet ein Process ist, der sich aus den und den Gliedern und Momenten so und so aufbaut. Mehr zu erfahren halte ich für unmöglich, und darum mehr zu fordern für unbillig, denn man würde, um das Wie der Verwandlung des objectiven Processes in subjective Empfindung zu verstehen, einen dritten Standpunct müssen einnehmen können, der weder subjectiv noch objectiv, oder was dasselbe sagen will, Beides mit einem Schlage ist; diesen Standpunct besitzt aber nur das Unbewusste, während das Bewusstsein eben die Spaltung in Subject und Object ist.

Das Gefühl kann Lust oder Unlust, Befriedigung oder Nichtbefriedigung des Willens sein; alles Andere sind, wie im Cap. B. III. gezeigt ist, nähere Bestimmungen, welche dem Gebiete der Vorstellung angehören. Die Nichtbefriedigung des Willens muss immer bewusst werden, denn der Wille kann nie seine eigene Nichtbefriedigung wollen, folglich muss ihm die Nichtbefriedigung von aussen aufgezwungen sein, folglich ist die Bedingung zur Entstehung des Bewusstseins, das Stutzen des Willens über etwas nicht von ihm[43] Ausgehendes und doch real Existirendes und sich fühlbar Machendes, das theilweise Zurückweichenmüssen beim Zusammentreffen mit einem andern Willen und der Contrast dieses Rückstosses mit dem erstrebten Ziel, erfüllt, und die Erfahrung entspricht dem völlig, indem nichts nachdrücklicher zum Bewusstsein spricht, als der Schmerz, der Schmerz auch abgelöst gedacht von den näheren, der Vorstellung angehörigen Bestimmungen.

Das Gefühl der Lust oder die Befriedigung des Willens kann an und für sich nicht bewusst werden, denn indem der Wille seinen Inhalt verwirklicht und dadurch seine Befriedigung herbeiführt, ereignet sich nichts, was mit dem Willen in Opposition käme, und da jeder Zwang von aussen fehlt, und der Wille nur seinen eigenen Consequenzen Raum giebt, kann es zu keinem Bewusstsein kommen. Anders stellt sich die Sache, wo sich bereits ein Bewusstsein etablirt hat, das Beobachtungen und Erfahrungen sammelt und vergleicht. Dieses lernt bald aus den vielen Nichtbefriedigungen die Widerstände kennen, welche sich jedem Willen in der Aussenwelt entgegen stellen, sowie die äusseren Bedingungen, welche nöthig sind, wenn die Verwirklichung des Willens gelingen soll. Sobald es diese äusseren Bedingungen des Gelingens und damit die Befriedigung als etwas theilweise oder ganz von aussen Bedingtes anerkennen muss, tritt auch für die Lust das Bewusstsein ein. – Alles dies bestätigt die Erfahrung auf das Beste.

Zunächst sieht man an Säuglingen, dass sie Wochen lang schon sehr nachdrückliche Aeusserungen des Schmerzes von sich geben, ehe die leiseste Spur von Lust in ihren Mienen und Geberden zu lesen ist; auch an verhätschelten Kindern, denen stets der Wille gethan wird, bestätigt es sich sehr deutlich, dass sie gar nicht wissen, wie es ist, wenn ihr Wille ihnen einmal nicht befriedigt wird. Dieselben haben factisch so gut wie gar keinen Genuss von ihren Willensbefriedigungen, weil dieselben eben grösstentheils unbewusst bleiben. Ziemlich den einzigen Genuss haben sie von sinnlichen Befriedigungen (Genäsch), weil ihnen hier die Sorgfalt der Umgebung die unangenehmen Vergleiche nicht ersparen kann. Wie sehr aber unsere Behauptung auch bei Erwachsenen zutrifft, wird wohl jeder Menschenkenner zugeben; denn jede Art von Befriedigungen, welche ohne Unterbrechung durch Nichtbefriedigungen dauernd wiederkehrt, hört auf, eine bewusste Befriedigung, d.h. ein bewusster Genuss zu sein, sobald man anfängt zu denken: es muss ja so und kann gar nicht anders sein. Dagegen tritt auch eine kleine Befriedigung um[44] so lebhafter als Lust in's Bewusstsein, je deutlicher man erkennt, dass man sie äusseren Umständen verdankt, weil man sie sich trotzdem, dass man sie immer gewollt hat, so selten hat verschaffen können.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 42-45.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
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