5. Die Einheit des Bewusstseins

[60] Zum Schlüsse dieses Capitels drängt sich uns die Frage auf: »was ist Einheit des Bewusstseins?« Wir können natürlich, unseren Grundsätzen gemäss, die Frage hier nur von empirischer Seite betrachten; so dürfen wir uns z.B. nicht auf die Einheit des zu Grunde liegenden individuellen Seelenwesens beziehen, weil wir von diesem Seelenwesen, seiner Individualität und seiner Einheit noch gar nichts wissen, sondern im Gegentheil erst durch Beantwortung dieser Frage etwas erfahren können. Ausserdem werden die Anhänger einheitlicher individueller Seelen zugeben müssen, dass sogar die Einheit des Bewusstseins in eine Mehrheit streng gesonderter und völlig unzusammenhängender Bewusstseine zerspalten sein kann, während sie die Einheit der diesen verschiedenen Bewusstseinen zu Grunde liegenden Seele anerkennen müssen. Ich erinnere nur an solche Beispiele, wie Jessen in seiner Psychologie eines anführt, von einem Mädchen, das nach einem soporartigen Schlafe alle Erinnerung verloren hatte ohne Schwächung der Geistesfähigkeit und des Lernvermögens. Dieselbe musste wieder mit dem Alphabet zu lernen anfangen. Die Anfälle wiederholten sich, und nach jedem war das Gedächtniss des letztvorhergehenden Lebensabschnittes[60] verschwanden, während das des nächstvorhergehenden ungeschwächt dafür wiedererschien, so dass sie stets ihre Studien so aufnahm, wie sie dieselben vor dem vorletzten Anfall verlassen hatte. Dieses Beispiel führt nur Erscheinungen in eclatanter und totaler Form vor, die man in schwächerem Maasse und partieller Weise überall beobachten kann. Nur da können wir eine Einheit des Bewusstseins zwischen einem vergangenen und gegenwärtigen Moment anerkennen, wo in der Gegenwart die Erinnerung dieses vergangenen Momentes vorhanden ist, oder wo zum mindesten die Möglichkeit dieser Erinnerung unbehindert offen steht. Streng genommen kann von einer wirklichen oder actuellen Einheit des Bewusstseins nur bei actueller Erinnerung die Rede sein, während bei bloss möglicher Erinnerung auch die Einheit des Bewusstseins eine bloss mögliche oder potentielle ist.

Sehen wir weiter zu, was wir an der actuellen Erinnerung haben, was zu einer Vorstellung dadurch hinzukommt, dass ich sie als eine bekannte Vorstellung oder Erinnerung weiss, so ist es nach Cap. B. VII. S. 265-266 ein instinctives Gefühl, welches in seine discursiven Momente zerlegt folgende Bedeutung hat: ich habe neben der Hauptvorstellung noch eine sehr viel schwächere, durch erstere angeregte Nebenvorstellung, welche ich als mit einer ihr gleichen früheren Vorstellung in causalem Zusammenhange weiss. Ort und Zeit dieser früheren Vorstellung kann durch die im Gedächtnisse auftauchenden, begleitenden Umstände derselben ebenfalls fixirt werden.

Es ist also nichts als der Vergleich einer gegenwärtigen und einer vergangenen Vorstellung, worin die Einheit des Bewusstseins zwischenzeitlich getrennten Momenten besteht; die Möglichkeit dieses Vergleiches wird dadurch erreicht, dass von zwei gegenwärtigen Vorstellungen die eine die Gegenwart, die andere die Vergangenheit darstellt, und Letzteres wird wieder dadurch möglich, dass ich die gegenwärtige Vorstellung als mit einer vergangenen ihr gleichen in causalem Zusammenhange weiss. Indem nun von den zwei Vorstellungen die eine die Vergangenheit repräsentirt, so fasst das Bewusstsein in dem einheitlichen Acte des Vergleiches die Repräsentanten des gegenwärtigen und des vergangenen Bewusstseins in Eins zusammen, und wird sich damit der Einheit des Bewusstseins für jene vergangene und die gegenwärtige Vorstellung bewusst. Wenn ich nämlich zwei bewusste Vorstellungen habe, so besteht ein Bewusstsein der einen und ein Bewusstsein der anderen Vorstellung,[61] und ich würde niemals das Recht haben, eine Einheit dieser beiden Bewusstseine zu behaupten, wenn ich sie nicht beweisen könnte. Indem ich aber nun beide Vorstellungen im Vergleich zusammenfasse, so hebe ich beide Bewusstseine in dem dritten Bewusstsein des Vergleiches auf, und habe so ihre Einheit zur unmittelbaren Anschauung gebracht. Der Vergleich ist also das Moment, welches den Gedanken einer Einheit des Bewusstseins allererst möglich macht, und mit der Möglichkeit des Vergleiches hört auch die Möglichkeit der Bewusstseinseinheit auf.

Wie wir hier den Vergleich über die Einheit des Bewusstseins einer vergangenen und einer gegenwärtigen, d.h. also zeitlich getrennter Vorstellungen haben richten sehen, so richtet er auch überräumlich getrennte Vorstellungen, d. h solche, die durch verschiedene materielle Theile erregt werden. Ein Menschenhirn hat eine gewisse Grösse, und die Vorstellungen, welche an einem Ende desselben entstehen, sind viele Zolle weit von den am anderen Ende entstehenden ab; gleichwohl zweifeln wir nicht an der Einheit des Hirnbewusstseins. Der Grund ist einfach der, dass im gesunden wachenden Zustande jede irgendwo im Hirne auftauchende Vorstellung mit jeder anderswo auftauchenden verglichen werden kann. Dagegen haben die Vorstellungen des Rückenmarkes und der Ganglien, wie sie z.B. bei Reflexbewegungen u.s.w., bei Verletzungen der Eingeweide u. dgl. nothwendig existiren müssen, im Allgemeinen keine Einheit des Bewusstseins mit den Hirnvorstellungen, sie haben vielmehr jede ihre gesonderte bewusste Existenz, weil sie nicht in Einem gemeinsamen Bewusstseinsacte des Vergleiches aufgehoben werden können. Nur für einige starke Empfindungen der niederen Nervencentra tritt diese Vergleichbarkeit ein, und damit auch insoweit eine Einheit des Bewusstseins, wie sie sich im Gemeingefühl darstellt. Während für die verschiedenen Nervencentra eines Organismus diese Bewusstseinseinheit bei stärkerer Erregung des einen oder des anderen hergestellt wird, ist sie für die Nervencentra verschiedener Individuen auf keine Weise herzustellen, es sei denn bei theilweiser Verwachsung zweier Organismen durch Missgeburt, oder zwischen Mutter und Fötus, wo sich auch Anklänge solcher Bewusstseinseinheit für starke Erregungen finden.

Die Ursache dieser Erscheinungen liegt auf der Hand. Im Gehirne gehen ausser den besonderen Commissuren unzählige Nervenfasern durch die ganze Masse und stellen eine mannigfache innige Verbindung jedes Theilchens mit dem andern her; das Rückenmark[62] hat eine schon viel unvollkommenere Verbindung mit dem Gehirn, das sympathische Nervensystem ist nur durch den einzigen nervus vagus mit dem Gehirne verknüpft; bei zusammengewachsenen Individuen können nur mehr oder minder zufällige Verwachsungen von untergeordneten Nervensträngen stattfinden, bei getrennten Individuen fehlt jede Verbindung. Je vollkommener die Leitung zwischen den functionirenden Centralnervenparthien ist, desto geringerer Erregung bedarf es in diesen, um die Erregung der einen bis zu der anderen ungeschwächt und ungetrübt fortzupflanzen; je unvollkommener und länger die Leitungswege, desto grösser die Leitungswiderstände, desto stärker müssen die Erregungen sein, wenn sie bis zur anderen Centralstelle fortgepflanzt werden sollen, und desto unklarer und verwischter langen sie dort an. Für Denjenigen, welcher an das unendliche Durcheinander der physikalischen Schwingungserscheinungen ohne irgend eine gegenseitige Störung gewöhnt ist, kann diese Anschauungsweise der Nervenprocesse, wonach jeder Gedanke an einer Stelle des Hirnes nach allen anderen Stellen desselben gleichzeitig telegraphirt wird, nichts Auffallendes haben; es ist unmöglich, die anatomische Construction des Hirnes mit ihren zahllosen Faserverbindungen anders als so zu deuten. Die Leitungsfähigkeit ist es also in der That, welche die Einheit des Bewusstseins physisch bedingt, und mit welcher diese proportional geht. Wir stellen es also als Grundsatz hin: Getrennte materielle Theile liefern getrenntes Bewusstsein, ein Satz, der sich a priori ebenso empfiehlt, als die getrennten Individuen ihn empirisch bestätigen. So lange die australische Ameise Ein Thier ist, handelt ihr Vorder- und Hinterleib mit einheitlichem Bewusstsein, sobald man sie zerschnitten hat, ist die Bewusstseinseinheit aufgehoben, und beide Theile kehren sich kämpfend gegen einander. – Wir nehmen ferner an: Nur dadurch wird die Vergleichung zweier an verschiedenen Orten erzeugten Vorstellungen möglich, dass die Schwingungen des einen Ortes ungeschwächt und ungetrübt nach dem anderen hingeleitet werden; nur durch die Vergleichung beider Vorstellungen ist die Aufhebung ihrer beiden Bewusstseine in das einheitliche Bewusstsein des Vergleichungsactes möglich, mit ihr aber, können wir hinzufügen, ist sie auch eo ipso gegeben. (Die metaphysische Bedingung der Identität der psychischen unbewussten Substanz, welche erst in Cap. C. VII zur Sprache kommt, ist hierbei natürlich stillschweigend vorausgesetzt; ohne sie wäre die physische Bedingung der Nervenleitung ebenso[63] erfolglos wie jene ohne diese). Die Siamesischen Zwillinge weigerten sich, mit einander Bretspiele zu spielen, indem sie meinten, dies wäre so, als ob die rechte Hand mit der linken spielen sollte; die am untern Theile des Rückens zusammengewachsenen Negerinnen, welche sich Anfangs 1873 in Berlin unter dem Namen der zweiköpfigen Nachtigall sehen liessen, sollen in den unteren Extremitäten Mitempfindungen von ihren gegenseitigen Empfindungen haben, d.h. aber eine Einheit des Bewusstseins über ein gewisses Empfindungsgebiet trotz der Zweiheit ihrer Personen besitzen; – dächte man sich aber die Verbindung der Gehirne zweier Menschen durch eine ebenso leitungsfähige Brücke möglich, als die zwischen den beiden Hemisphären desselben Gehirnes ist, so würde hiermit sofort ein die Gedanken beider Gehirne umfassendes gemeinschaftliches und einheitliches Bewusstsein die bisher getrennten Bewusstseine beider Personen umfassen, jeder würde seine Gedanken nicht mehr von denen des anderen unterscheiden können, d.h. sie würden sich zusammen nicht mehr als zwei Ich's, sondern nur noch als Ein Ich wissen, wie meine beiden Hirnhemisphären sich auch nur als Ein Ich wissen.A8[64]

A8

S. 64 letzte Z. In pathologischen Zuständen kann innerhalb desselben Gehirns die Leitung zwischen verschiedenen Centren unterbrochen, oder so herabgesetzt sein, dass die Vorstellungen des einen für die des andern unter der Schwelle bleiben. Indem nun abwechselnd die eine Bewusstseinsregion die Herrschaft über den Organismus, speciell über dessen willkürliche Muskeln und Sprechwerkzeuge an sich reisst und dadurch die andern zur zeitweiligen Passivität und Latenz verurtheilt, kann der Schein einer alternirenden Persönlichkeit mit ganz verschiedenen Kenntnissen und Interessen entstehen. Eine ähnliche Folge ergiebt sich, wenn abwechselnd bestimmte Hirncentra ausser Function gesetzt werden; der Unterschied ist nur der, dass die passiv und latent ohne Herrschaft über den Organismus weiterfunktionirenden Centra dem Thun und Erleben der Gesammtpersönlichkeit als Zuschauer beiwohnen und ihre Erfahrungen über dieselben ebenso wie ein fremder Zeuge im Gedächtniss aufspeichern, während ein zeitweilig ausser Function gesetztes Centrum keine Eindrücke mehr aufnimmt, also auch nachher keine Erinnerung von dem Thun und Erleben der Gesammtpersönlichkeit entfalten kann, es sei denn, dass sie nachträglich dem wieder in Function getretenen Centrum durch Leitung aus einem andern in Function verbliebenen zugeführt werden. Immerhin bleibt in allen solchen Fällen die Einheit der Persönlichkeit wenigstens potentiell bestehen, selbst wenn die Functionsaufhebung beide Centra abwechselnd betrifft, da der individuelle Organismus einerseits und die Einheit des unbewussten Subjects andrerseits fortbesteht und mit ihnen die Möglichkeit einer Ueberwindung der krankhaften Störung, welche die actuelle Einheit der geistigen Persönlichkeit aufhebt. In der That pflegt nach der Genesung, d.h. nach Wiederherstellung der gestörten Leitung und des gleichzeitigen Functionirens beider Centra auch das einheitliche Bewusstsein den Gedächtnissinhalt beider vorher getrennten Bewusstseinskammern wieder zu umspannen. Wo das eine der beiden Centra fortdauernd functionirt und nur die Function des andern zeitweilige Unterbrechungen erleidet, besteht auch ununterbrochene Umspannung der zweiten Bewusstseinssphäre durch die erste (z.B. der wachen Bewusstseinssphäre durch die sonnambüle. Vgl. »Moderne« 2. Aufl. S. 254-262; »Neuk., Schop. u. Heg.« S. 298-309).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 60-65.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
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Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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