IX. Das Wesen der Zeugung vom Standpuncte der All-Einheit des Unbewussten

[202] Wir wollen nunmehr unseren neugewonnenen Standpunct zur Beleuchtung einiger Fragen benutzen, welche theils seit Jahrtausenden die Philosophen beschäftigen, theils gerade in der Gegenwart sich ein besonderes Interesse im Publikum erobert haben. Es wird sich zeigen, wie die Lösungen, welche aus unseren bis hierher gewonnenen Principien fliessen, auf's Beste mit dem übereinstimmen, was die zu erklärenden Thatsachen fordern, und was eine mühelose Kritik von Erklärungsmöglichkeiten übrig lässt.

Die erste dieser Fragen betrifft die Natur der Zeugung. Es stritten sich früher zwei Ansichten um die Zeugung, der Creatianismus und Traducianismus. Der erstere nahm eine seelische Neuschöpfung bei jeder Zeugung, der letztere eine Ueberführung von Theilen der Elternseelen in das Kind an. Ersterer statuirt also bei jeder Zeugung ein Erschaffen aus dem Nichts, ein neues Wunder, und ist schon deshalb den gesunderen Anschauungen der Neuzeit unannehmbar, letzterer aber widerspricht den Thatsachen. Denn wenn ein Mann mit der nöthigen Anzahl Frauen jährlich bequem über hundert Kinder zeugen könnte, während der Zeit seiner Zeugungsfähigkeit also viele Tausende, und doch notorisch keine Abnahme an seiner Seele sich einstellt, so muss der bei jeder Zeugung an das Kind abgegebene Theil kleiner gewesen sein, als der vieltausendste Theil von dem Minimum der Abnahme, welches als Verlust an der Seele noch eben gespürt werden würde. Mit einem so winzigen Stückchen Seele könnte sich aber offenbar das Kind auf die Dauer nicht begnügen, noch weniger seine Kinder und Kindeskinder, die in abnehmender Progression bald nur noch Billiontel-Seelen bekommen würden; demnach könnte das übertragene Stück[202] nur als Keim betrachtet werden, der eines Wachsthumes fähig ist. Unter einem Keime versteht man aber eine formelle Macht, welche fremde, materielle Elemente an sich zu ziehen und zu assimiliren, und dadurch zu wachsen im Stande ist. Wäre also die Kindesseele bei der Zeugung erst ein Keim, so fragt sich, wo sollen die fremden Elemente zu suchen sein, aus denen sie sich vergrössert. Die Materialisten antworten sehr einfach: die Seele ist ja nur ein Resultat materieller Combinationen, also mit dem Wachsen des Organismus und seiner edlen Theile wächst auch die Seele. Diese Ansicht können wir natürlich nicht acceptiren, aber sie ist wenigstens in sich klar und consequent. Fragen wir aber, wo sonst noch die anzuziehenden Elemente gesucht werden könnten, so bleibt nichts übrig, als die allgemeine Geistheit, das unpersönlich Psychische, mit einem Wort das Unbewusste; aus diesem also müsste das von den Elternseelen zur Kindesseele abgegebene Stück seinen Vergrösserungsstoff ziehen.

Wozu braucht man aber dann noch den Seelenkeim, da der organische Keim dasselbe kann? Braucht das Kind im Mutterleibe eine andere Seelenthätigkeit als die des organischen Bildens? Und wenn durch diese unbewusste Seelenthätigkeit im Gehirn ein Werkzeug zu bewusster Seelenthätigkeit geschaffen ist, braucht es dann noch eines anderen Anziehungsmittels, damit das Unbewusste auch hierauf seine Thätigkeit lenke, als das Vorhandensein dieses Organes selbst? Wozu dann noch diese widernatürliche Hypothese von den abgegebenen Seelenkeimen, bei denen man sich entweder einseitige Richtungen der Elternseelen denken muss, die zur Erklärung nichts nützen, oder gleichsam abgeschnürte, vorher ausgebrütete Diminutivseelchen – eine horrible Vorstellung!

Und wie kämen denn diese Seelenknospen dazu, gerade in die organischen Zeugungskeime hineinzufahren, da doch beide unabhängig von einander entstehend gedacht werden müssten? Wird bei jedem Samenerguss mit jedem der Millionen von Samenfäden ein Stück Seele auf gut Glück hinweggeführt, oder fährt erst dann das abgeschnürte Diminutivseelchen des Vaters in den betreffenden Samenfaden hinein, wenn derselbe das Glück gehabt hat, auf ein befruchtungsfähiges Ei seiner Gattung zu treffen? Und wie erfährt das vorräthige Diminutivseelchen des Vaters, ob und welcher Samenfaden aus einem vor Stunden oder vor Tagen erfolgten Beischlaf die Befruchtung eines Ei's herbeiführt?

Wenn die Kindesseele aus dem Borne des allgemeinen Weltgeistes[203] geschöpft ist, gleichsam das an dem neu entstandenen organischen Keime ankrystallisirte psychische Zubehör darstellt, so ist das immer schon eine wesentlich andere Vorstellung, als die des Creatianismus, wo die Seele im Moment der Zeugung von Gott aus dem Nichts geschaffen wird. Ferner raubt diese Auffassung nicht wie der Creatianismus das Verständniss für die Erblichkeit der psychischen Eigenschaften, indem der organische Keim durch die Eigenschaften der Eltern bedingt ist und der aus dem Unbewussten gleichsam anschiessende Geisteskrystall wieder sich nach den Eigenschaften des organischen Keimes modificirt; in diesem Sinne können sich durch Vererbung der Beschaffenheit des Gehirnes geistige Eigenschaften gerade so gut wie ein überzähliger Finger oder eine Krankheitsanlage von den Eltern auf die Kinder übertragen. Andererseits bleibt das Hinzutreten eines durch höhere historische Rücksichten geforderten Genius zu der Kindesseele unbenommen; denn wenn das Unbewusste besondere Werkzeuge seiner Offenbarung braucht, so bereitet es sich dieselben auch rechtzeitig zu, es wird sich also dann in einem sich als besonders geeignet darbietenden Organismus ein Bewusstseinsorgan schaffen, welches zu ungewöhnlich hohen psychischen Leistungen befähigt ist.

Wenn wir auf diese Weise auch den Hauptübelständen des Traducianismus und Creatianismus entgehen, so ist doch immerhin nicht zu läugnen, dass, so lange man die Seele des Individuums nicht bloss ihrer Thätigkeit nach, sondern auch ihrem Wesen, ihrer Substanz nach für etwas in sich Abgeschlossenes und sowohl gegen die übrigen individuellen Seelen, als auch gegen den allgemeinen Geist Abgegrenztes betrachtet, dass so lange die Lehre von der Zeugung ihre grossen Schwierigkeiten hat; denn das Losreissen einer neuen Seele vom Allgemeinen und das Fixiren derselben an den neuen organischen Keim hat sein sehr Bedenkliches, mag man nun, wie wir eben thaten, dieses Individualisiren einer neuen Seele als einen allmählichen Krystallisationsprocess ansehen, der mit der leiblichen Entwickelung des Keimes Hand in Hand geht, oder mag man denselben als einen einmaligen momentanen Act auffassen, in welchem die neue Seele fix und fertig für's ganze Leben dem Keime eingepflanzt wird.

Sowie man sich jedoch der Resultate unseres vor letzten Capitels erinnert, kommt Klarheit in die Sache, denn nun ist die Seele sowohl jedes der Eltern als auch des Kindes nur die Summe der[204] auf den betreffenden Organismus gerichteten Thätigkeiten des Einen Unbewussten.17

Jetzt sind die Seelen der Eltern keine gesonderten, für sich bestellenden Substanzen mehr, können also auch von ihrer Substanz nichts abgeben, und das Kind braucht keine besondere individualisirte Seele mehr zu bekommen, sondern seine Seele ist ebenfalls nur die Summe der in jedem Moment auf seinen Organismus gerichteten Thätigkeiten des Unbewussten. Könnten wirklich die Eltern dem Kinde von ihren Seelen nun noch etwas abgeben, so schöpften sie doch nur aus der grossen Schüssel, aus der sie so wie so alle drei gespeist werden.

Nun ist auch nichts Wunderbares mehr daran, dass die Kindesseele nur allmählich nach Maassgabe des Leibes wächst, denn je entwickelter der Organismus wird, um so mannichfaltiger, reicher und edler wird die Summe der auf ihn gerichteten Thätigkeiten des Unbewussten. Es verliert sich mit unserem Princip nicht nur das Wunderbare, sondern auch das in seiner Art Einzige, was sonst die Zeugung hat, sie wird zu einem mit der Erhaltung und Neubildung wesensgleichen Acte auch in geistiger Beziehung, wie sie als solcher in materieller Beziehung von der Physiologie längst anerkannt ist. Würde das Unbewusste in einem beliebigen Moment aufhören, seine Thätigkeit (als Empfindung, Vorstellung, Wille, organisches Bilden, Instinct, Reflexwirkung u.s.w.) auf irgend einen bestehenden Organismus zu richten, so würde derselbe in demselben Augenblicke der Seele beraubt, d.h. todt sein, und schonungslos von den Gesetzen der Materie zermalmt werden, ebenso wie die Materie dieses Organismus aufhören würde zu sein, sobald das Unbewusste die Willensacte unterliesse, in denen seine Atomkräfte bestehen. Gerade so gut aber, wie das Unbewusste jeden beseelbaren Organismus in jedem Moment beseelt, wird es auch den neu entstehenden Keim nach Maassgabe seiner Beseelbarkeit beseelen. Dazu kommt noch, dass der Moment durchaus nicht zu bestimmen ist, wo der Keim aus einem Theile des mütterlichen zum[205] selbstständigen Organismus wird, wenn man nicht etwa die Loslösung bei der Geburt als solchen gelten lassen will. So lange aber der Kindesorganismus ein Theil des mütterlichen ist und von diesem ernährt wird, so lange hat man es noch mit einem Vorgange zu thun, der sich von allem anderen organischen Bilden in seinem Wesen nicht unterscheidet. Dies wird am deutlichsten werden, wenn wir auf den allmählichen Fortgang von den niederen Arten der Fortpflanzung bis zu der geschlechtlichen Zeugung einen Blick werfen.

Die einfachste Artist die Theilung, ein gewöhnlicher Fall der Vermehrung von Zellen, aber auch nicht selten bei Infusorien und anderen Thieren. Dass bei einer Theilung eines Thieres in zwei Thiere nicht von einer Theilung der Substanz der Seele die Rede sein kann, ist schon mehrfach erwähnt worden. Von der Theilung führt ein allmählicher Uebergang zur Knospenbildung, denn auch die Knospe entwickelt sich als Theil des mütterlichen Organismus, bis sie, zur selbstständigen Existenz befähigt, sich ablöst (Polypen u.s.w.).

Einen principiellen Unterschied in dem Vorgänge des Bildens kann man nicht behaupten, sei es nun, dass ein Thier verloren gegangene Körpertheile neu ersetzt, sei es, dass es Knospen zur Vermehrung bildet. In den Fällen jedoch, wo die Knospen sich charakteristisch als solche darstellen, und nicht mehr mit einfacher Theilung an verwechseln sind, lässt sich stets ihre Entwickelung aus einer in das mütterliche Gewebe an irgend einer Körperstelle eingelagerten einzelnen Zelle – Keimzelle – erkennen. Offenbar kann es nun keinen wesentlichen Unterschied machen, an welcher Stelle des mütterlichen Organismus sich die Keimzelle befindet, aus der der neue Organismus sich entwickelt, ob diese Stelle an der Längsseite, oder an einem Ende, oder an den Armen, oder in der Bauchhöhle des Thieres, oder in einer besonderen Bruthöhle liegt. Letztere beiden Fälle unterscheidet man von der Vermehrung durch Knospenbildung als Vermehrung durch Keimzellen im engeren Sinne. Die Keimzellen, die in der Bauchhöhle oder in einer besonderen Bauchhöhle sich entwickeln, zeigen meistens schon eine entschiedene äussere Aehnlichkeit in Gestalt und Grösse mit den Eiern der höheren Thiere, ja man kann geradezu behaupten, sie unterscheiden sich morphologisch gar nicht von diesen.

Bei manchen Thieren (z.B. Blattläusen) wechselt bereits die Vermehrung durch Keimzellen mit der geschlechtlichen Fortpflanzung[206] ab, oder genügt auch eine Begattung, um mehreren auf einander folgenden Generationen hindurch die Keimzellen (oder Eier) zu befrachten. Ein zu den Dipteren gehöriges Insect, Cecidomyia, erzeugt durch geschlechtliche Fortpflanzung Larven, welche, unter der Rinde kranker Apfelbäume lebend, in einem, Keimstock genannten, nach Analogie des Eierstocks gebildeten Organ ohne Begattung eine Nachkommenschaft bis zu dem Grade entwickeln, dass dieselbe als lebende Junge in einer der Mütter gleichenden Gestalt zur Welt kommt. Auch bei einigen Schmetterlingen findet die merkwürdige Erscheinung der jungfräulichen Zeugung oder Parthenogenesis statt, ebenso bei einer ganzen Reihe niederer Krustenthiere; bei beiden sind die ohne Befruchtung geborenen Nachkommen ausschliesslich Weibchen, bei den Erdhummeln, Wespen und Bienen hingegen entstehen grade umgekehrt die Männchen aus unbefruchteten, die Weibchen aus befruchteten Eiern. Während bei den Bienen nur die Königin Eier legt, welche sie nach Willkür mit den von einer früheren Begattung her vorräthigen Spermatozoiden in Berührung bringen kann oder nicht, sind bei den Hummeln und Wespen die Gebärerinnen der männlichen und weiblichen Nachkommenschaft getrennte Individuen; die überwinterten Weibchen nämlich, welche sich im Herbst begattet hatten, bringen weibliche Junge hervor, diese im Frühling geborenen und unbegatteten Weibchen aber produciren erst die Männchen für die Herbstbegattung. – Die Keimzelle oder das unbefruchtete Ei entwickelt sich ganz analog dem befruchteten Ei, nur dass ersteres nicht des Anstosses der Befruchtung bedarf; doch hat man auch beglaubigte Beispiele, dass Eier von nur geschlechtlich sich vermehrenden Thieren, die notorisch unbefruchtet waren, in den Dotterfurchungsprocess eintraten, als ob sie befruchtet wären (solche Fälle wurden z.B. bei Schweineeiern vom Anatomen Bischof in München schon vor Jahren beobachtet); freilich reichte ihre Kraft nicht weit, und sie blieben auf den ersten Stadien der embryonalen Entwickelung stehen. Unter Umständen kann jedoch selbst hier der Wachsthumsprocess des Ei's bis zu einer ziemlich hohen Stufe gehen; so z.B. ist es seit lange bekannt, dass Hühner ohne Berührung mit einem Hahn bisweilen unbefruchtete Eier legen, die also von ihren mikroskopischen Anfangsstadien her einen ziemlich weiten Weg der Entwickelung zurückgelegt haben.

Das mit seiner Kopfspitze sich in die Dotterhaut einbohrende und dort wahrscheinlich seinen Inhalt mit dem Dotter endosmotisch austauschende Samenkörperchen bewirkt also zunächst nichts Anderes,[207] als dass es der Dottermasse einen nachhaltigen Impuls zum Eintritt in den Furchungsprocess verleiht, einen Impuls, der unter günstigen Umständen bei Eiern, unter allen Umständen bei Keimzellen entbehrlich ist. Die Erblichkeit der Eigenschaften auch von väterlicher Seite beweist hingegen, dass die Vereinigung der Zeugungsstoffe bei höherer Ausbildung der geschlechtlichen Zeugung allerdings noch eine tiefergreifende Bedeutung gewinnt, indem durch die Mischung der Zeugungsstoffe eine wirkliche Mischung der elterlichen Eigenschaften bewirkt wird. Es liegt nahe hierbei als Prototyp dieses Vorganges die Copulation gewisser Schwärmsporen anzusehen, in welcher zunächst nichts als die vereinigte Kraft zweier Zellen der entscheidende Punct zu sein scheint, so lange ein Unterschied der sich vereinigenden Elemente weder nach ihrer eigenen Beschaffenheit, noch nach ihrer Entstehung zu constatiren ist.

Wir können nach alle dem in dem Bilden neuer Organismen durch ein Mutterthier, sei es nun mit oder ohne Hülfe eines väterlichen Organismus, nichts weiter sehen, als ein organisches Bilden, welches sich von anderem organischen Bilden, z.B. der Neuentwickelung gewisser, vorher nicht bestehender Organe zu gewissen Zeiten des Lebens, nicht in dem Wesen des Vorganges, sondern nur durch den Zweck unterscheidet, welchem das Neugebildete dient, indem dieser Zweck bei allem anderen organischen Bilden (mit Ausnahme der Milchbildung bei Säugethieren) innerhalb und nur bei der Zeugung ausserhalb des bildenden Individuums liegt. Ist nun die, gleichviel aus welchen Anfängen, entsprossene Neubildung zu einem Grade gediehen, der sie zu seiner Existenz als selbstständiger Organismus befähigt, so erfolgt die Loslösung vom mütterlichen Organismus, ein Act, dem man kaum wohl geneigt sein möchte, irgend eine psychische Bedeutung zuzuschreiben, welche über die reflectorisch-instinctive Accommodation an die veränderten Lebensbedingungen (z.B. bei Säugethieren Eintritt der Athmung) hinausgeht.

So bestätigt sich auch empirisch, dass der Organismus des Embryo, des Fötus und des Kindes gerade so gut wie jeder andere Theil eines fertigen Organismus, in jedem Stadium und jedem Moment seines Lebens genau so viel Seele hat, als er für seine leibliche Erhaltung und Fortentwickelung braucht und als seine Bewusstseinsorgane zu fassen im Stande sind. Dass aber das Unbewusste das Leben überall packt, wo es dasselbe nur packen kann, und dass auch in dieser Beziehung, ganz abgesehen von seinem Zusammenhange mit dem mütterlichen Organismus, die Beseelung[208] des neuen Keimes nach Maassgabe seiner Beseelbarkeit nur der specielle Fall einer allgemeinen Naturerscheinung ist, mag noch durch einige Beispiele erläutert werden.

In Autenrieth's »Ansichten über Natur- und Seelenleben« finden sich S. 265-266 folgende Notizen: »So haben auch Lister (Kirby und Spence, Einleitung in die Entymologie aus dem Engl. übers. Bd. 2. S. 506), Bonnet und Stickney gesehen, wie Raupen und Puppen von Schmetterlingen und Larven der Tipula oleracea zu Eisklumpen froren und beim Aufthauen wieder lebten. – Nach den genaueren Beobachtungen von Spallanzani (Opuscoli di fisica animale e vegetabile, Modena, vol. 2, p. 236) leben die Räderthierchen, Furcularia rediviva Lamarck, die im Sumpfwasser und im Sande von Dachrinnen angetroffen werden, wenn sie nur nicht an freier Luft, sondern bedeckt in einem Sandhäufchen und mit diesem austrockneten, zum Theil noch nach drei, selbst vier Jahren, innerhalb welcher der nebst ihnen ganz trocken gewordene Sand in einem Glase oder einer Schachtel aufbewahrt wird, wieder auf, sobald der dürre Sand auf's Neue mit Wasser befeuchtet wird, nur dass, je längere Zeit sie in ausgedörrtem Zustande aufbewahrt wurden, eine desto kleinere Zahl von ihnen wieder lebendig wird und alle seine gewöhnlichen Lebensverrichtungen auf's Neue vollbringt. Sie lebten aber wieder auf, obschon sie durch das Austrocknen in so erhärteten Zustand kamen, da sie sonst lebend bloss einen gallertartigen Körper haben, dass, wenn man einige von ihnen mit einer Nadelspitze anstach, der Körper wie ein Körnchen Salz in viele Stücke zersprang. So können diese Thierchen bis zum elften Male abwechselnd eingetrocknet und leblos gemacht werden, und in Wasser aufgeweicht ihr Leben wieder erhalten. Sie verlieren auch diese ihre Fähigkeit, wieder belebt zu werden, nicht, wenn sie mit dem Wasser einfrieren, und dann selbst einer Kälte von 19 Grad R. unter dem Eispuncte ausgesetzt werden; sowie sie in ihrem ausgetrockneten Zustande einer Hitze bis auf 49, selbst zum Theil bis auf 54 Grad über dem Gefrierpuncte ausgesetzt werden können, ohne jene Fähigkeit, mit Hülfe von Wasser wieder aufzuleben, zu verlieren, während, wenn sie im Zustand des Lebens sind, sie schon bei 26 Grad Wärme des Wassers für immer sterben.«

Ebend. S. 20: »John Franklin (erste Reise an den Küsten des Polarmeeres, in neuer Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen, Bd. 36. S. 302) sah im Winter von 1820-1821 auf seiner ersten Reise an die nordamerikanischen Küsten des Eismeeres Fische,[209] unmittelbar nachdem sie aus dem Wasser an die Luft gekommen, gefrieren, die zu einer so festen Eismasse wurden, dass man sie mit der Axt in Stücke schlagen konnte und dass selbst ihre Eingeweide bloss einen festen, gefrorenen Klumpen darstellten. Dessenungeachtet erhielten einige solcher Fische, welche man, ohne sie vorher zu verletzen, am Feuer aufthaute, ihr Leben wieder. Ein Karpfen erholte sich, ungeachtet er sechsunddreissig Stunden lang vollkommen gefroren gewesen war, so vollkommen wieder, dass er sich mit vieler Kraft umherwerfen konnte.

Als Ellis (voyage à la baye de Hudson, trad. de l'angl. p. 236) am Nelsonflusse an der Hudsonsbay überwinterte, fand man einen völlig zusammengefrorenen Klumpen schwarzer Stechfliegen; dem Feuer genähert, lebten sie wieder auf. Er berichtete, dass man dort häufig an den Ufern der Seen Frösche findet, die so fest als das Eis selbst gefroren seien, und welche doch, in massiger Temperatur aufgethaut, wieder bis zu dem Grade auflebten, dass sie von einem Orte zum andern krochen.

Auch durchaus gefrorene Bäume können nach langsamem Aufthauen sich wieder beleben und frische Blätter treiben18.

Hunter fand aber bei seinen Versuchen, dass ein Fisch nur langsamer in der Kälte sterben und dann gefrieren dürfe, um durch Aufthauen nicht wieder in's Leben zurückgerufen werden zu können, weswegen es auch nicht gelingt, ein ganzes warmblütiges Thier gefrieren und durch Aufthauen sich wieder beleben zu lassen, und wir der Hoffnung entsagen müssen, etwa einen der im Polar-Eise ganz unverdorben aufbewahrten Elephanten der Vorwelt, oder ein dortiges Nashorn unter günstigen Umständen wieder lebendig werden zu sehen, wie man Kröten mitten im Felsen fand, in welchen sie Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende müssen eingeschlossen gewesen sein, und die dann doch, befreit, lebend umherhüpften.«

Wenn neuere Autoritäten das Wiederaufleben gefrorener Warmblüter wegen einer durch den Frost herbeigeführten Blutzersetzung[210] für unmöglich erklären, so stehen dem die neuesten Untersuchungen Schenk's entgegen, nach welchen eine Temperatur von – 3° von weissen Blutkörperchen, Speichelkörperchen, Spermatozoiden, und selbst von befruchteten Eiern unbeschadet ihrer späteren Lebens-, Bewegungs- und Entwickelungsfähigkeit ganz gut, zum Theil sogar eine kürzere Abkühlung auf – 7° vertragen wird. (Pockenlymphe büsst sogar durch längere Abkühlung auf – 78° nichts von ihrer Kraft ein.)A45 Wenn schon die Acten über die hierher gehörigen Fragen noch nicht geschlossen sind, so genügen doch die angeführten Beispiele im Allgemeinen, um die a priori einleuchtende Wahrheit plausibel zu machen, dass aus einem Organismus jede Spur von Leben entwichen sein kann, und dass trotzdem demselben die Fähigkeit, unter günstigen Umständen eine neue Lebensthätigkeit zu beginnen, erhalten bleiben kann, wenn nur keine derartigen Veränderungen in demselben vorgegangen sind, welche die Wiederaufnahme der Lebensfunctionen nach Wiederherstellung normaler Umstände anatomisch oder physiologisch unmöglich machen. Hierzu gehört, dass sowohl während des leblosen Zustandes (durch die eingetrocknete oder gefrorene Beschaffenheit, oder durch allseitig hermetischen Abschluss), als auch beim Uebergange aus dem normal lebendigen in den leblosen Zustand (z.B. durch die Geschwindigkeit des Erfrierens) eine die zukünftige Lebensfähigkeit bedrohende chemische oder histologische Veränderung verhindert ist; dagegen sind solche Veränderungen für das Wiederaufleben gleichgültig, welche nur die Normalität der zukünftigen Lebensfunctionen vernichten, und den Organismus bloss noch zu einem pathologischen Leben erwachen lassen, welches doch bald wieder von selbst erlischt.

Bei Räderthierchen könnte man annehmen, dass die Vertrocknung immer noch nicht zu dem Grade gelangt sei, um nicht irgend einen Stoffaustausch zuzulassen, so dass man es streng genommen nicht mit einer absoluten Sistirung der Lebensfunctionen, sondern nur mit deren Reduction auf ein Minimum zu thun hätte (ähnlich wie beim Winterschlaf), aber auch diese Annahme wird hinfällig, wo es sich um steinhart gefrorene Körper in der Winterkälte der Polargegenden oder um Kröten handelt, welche Jahrhunderte oder gar noch länger im Felsen eingeschlossen waren. Bei letzteren müsste auch ein Minimum von Stoffaustausch, den man sich etwa durch das den Felsen durchsickernde Wasser vermittelt zu denken hätte, in der enorm langen Zeit zur Verzehrung des Thieres geführt haben;[211] bei gefrorenen Organismen aber kann nur noch eine geringe Oberflächenverdunstung Statt haben, Lebensfunction jedoch ist unmöglich gemacht sowohl durch das Fehlen der allgemeinsten physikalischen Bedingungen des organischen Stoffwechsels, der Endosmose, als auch durch die Unentbehrlichkeit eines flüssigen Zustandes für jede chemische Reaction.A46

Giebt man nun zu, dass im durch und durch gefrorenen Körper jede organische Function, d.h. jede Lebensthätigkeit unmöglich ist, so entbehrt derselbe jeder Spur des Lebens, d.h. er ist absolut leblos; sein Zustand ist also von allen Zuständen der deprimirten Lebensfunctionen, wie Schlaf, Winterschlaf, Ohnmacht, Starrkrampf, Scheintod, specifisch und total verschieden; der Körper verhält sich zum Leben während der Dauer dieses Zustandes nicht anders als ein unorganischer Körper.

Es ist natürlich an sich gleichgültig, ob man dem Körper das Wort todt beilegen will, denn das kommt nur auf die Bestimmung des Begriffes todt an; identificirt man absolut leblos und todt, wie das wohl natürlich ist, so wird man es thun; unterscheidet man aber beide Begriffe, und nennt todt nur dasjenige Leblose, was nicht wieder lebendig werden kann, so wird man es nicht thun. Letztere Auffassung dürfte aber wohl nur aus dem Vorurtheil hervorgehen, dass, was todt ist, nicht wieder lebendig werden kann, ein natürlich nicht a priori zu beweisender, sondern nur aus der Erfahrung zu inducirender Satz, der lange Zeit für richtig gelten konnte. Kommen aber nun solche Thatsachen zum Vorschein, die da zeigen, dass etwas Todtes unter Umständen doch wieder lebendig werden kann, so sollte man lieber die Ausnahme von der bisher als allgemein gültiger Grundsatz angenommenen Induction als solche anerkennen, als um des alten Vorurtheils willen den Begriff todt willkürlich beschränken. Diese Bemerkung wäre gewiss müssig, wenn nicht jene vorurtheilsvolle Einschränkung des Begriffes todt auch das Vorurtheil nach sich ziehen könnte, als ob das absolut Leblose nicht auch seelenlos zu sein brauche, was doch so selbstverständlich als möglich sein sollte, denn die Seele eines Körpers ist ja nur die Summe der auf ihn bezüglichen Functionen oder Thätigkeiten des Unbewussten, welche kurzweg seine Lebensfunctionen genannt werden.

Daraus nun, dass ein Organismus, so lange er gefroren ist, weder des Lebens, noch einer Seele theilhaftig ist, folgt, dass wenn nach einer gewissen Zeit Leben und Seele in ihn zurückkehrt, diese Seele nicht mehr als ein und dieselbe mit der vor dem Uebergange[212] in den gefrorenen Zustand ihm einwohnenden betrachtet werden kann, da zur Dieselbigkeit zweier zeitlich getrennter Seelen die zeitliche Continuität der Thätigkeiten der ersteren mit den Thätigkeiten der letzteren erforderlich ist, keineswegs aber die Dieselbigkeit des bezüglichen Organismus und die auf demselben beruhende gleiche Beschaffenheit der Seelen als ausreichend erachtet werden kann; es könnte ja, um mit der gemeinen Vorstellung zu reden, wenn beim Aufhören des Lebens die alte Seele ausgefahren ist, beim Wiedereinziehen des Lebens gerade so gut wie dieselbe auch eine eben solche andere Seele in ihn hineingefahren sein. Die Schiefheit der Fragestellung leuchtet indess sofort ein, wenn man an die All-Einheit des Unbewussten denkt und berücksichtigt, dass alte wie neue Seele auf denselben Organismus gerichtete Thätigkeiten desselben Wesens des All-Einigen sind, welches eben das Leben sofort wieder in diesen Organismus hineinschickt, sowie es nach den Gesetzen der Materie möglich ist.

Man sieht an diesen Beispielen, dass es der Natur keinen Unterschied macht, ob wie gewöhnlich die lebensfähigen Organismen in einer Continuität ihrer Lebensfunctionen stehen, oder ob ein noch lebensunfähiger Körper in diesem Moment lebensfähig wird; sowie die Möglichkeit des Lebens gegeben ist, durchseelt ihn das Unbewusste, indem es die seiner Constitution angemessenen psychischen Functionen auf ihn richtet. Nehmen wir also den Fall an, dass der Keim eines jungen Organismus, den wir in der Regel als integrirenden Bestandtheil in dem Lebenslauf des mütterlichen Organismus haben entstehen sehen, dass solch' ein Keim, losgelöst von jeder Anlehnung an ein schon bestehendes Leben, plötzlich entstände, so müsste er eben so unfehlbar wie der wieder aufgethaute Fisch oder das wieder aufgeweichte Räderthierchen im ersten Moment seiner organischen Lebensfähigkeit vom Unbewussten durchseelt werden, und es würde nunmehr eine solche Erscheinung nicht mehr als einzelstehender Ausnahmefall angesehen werden dürfen.

Auf diese Anschauung verweise ich denjenigen, der etwa behaupten wollte, dass das unbefruchtete Ei noch unbeseelt sei, und erst im Moment der Befruchtung, die ja bei niederen Thieren meist ausserhalb des mütterlichen Organismus stattfindet, seine Seele empfinge, obwohl diese Auffassung sowohl unserer Ansicht von der Beseeltheit jeder Zelle, als auch der Analogie mit der Entwickelung der Keimzelle ohne Befruchtung zuwiderläuft. Jedenfalls aber findet dieselbe eine zutreffende Anwendung bei dem Begriffe[213] der Urzeugung, oder Entstehung organischer Wesen aus unorganisirter Materie ohne Mutterorganismus. Eine solche Urzeugung muss stattgefunden haben; denn die Geologie weist nach, dass die Erde ebenso wie alle anderen Himmelskörper aus einer feurig-flüssigen Masse allmählich bis zu ihrer jetzigen Temperatur erkaltet sei; da nun bei einer höheren als der Gerinnungstemperatur des Eiweisses keine Organismen bestehen können, so muss die Erde die längste Zeit ihres Bestehens unbewohnt gewesen sein, und da sie jetzt factisch von Organismen bevölkert ist, so muss es nothwendig einen Zeitpunct gegeben haben, wo das oder die ersten Wesen entstanden19, während vor diesem Zeitpuncte nur unorganische Materie vorhanden war. Hier ist der Begriff der Urzeugung erfüllt.

Ich sage nicht, dass in jenem Zeitpuncte keine organische, sondern nur, dass keine organisirte Materie vorbanden gewesen sei; im Gegentheil glaube ich annehmen zu müssen, dass unter dem Einflüsse einer feuchten und sehr kohlensäurereichen Atmosphäre so wie der höheren Wärme, des Lichtes und starker electrischer Einflüsse sich wohl schon auf unorganischem Wege Verbindungen höherer Ordnung aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff gebildet hatten, welche die heutige Chemie wegen ihres vorzugsweisen Vorkommens in organischen Wesen mit dem uneigentlichen Namen organische Stoffe bezeichnet.

Den neuesten chemischen Forschungen ist es gelungen, die frühere Annahme, dass organische Stoffe nicht auf unorganischem Wege darstellbar seien, durch so schlagende Thatsachen zu widerlegen, dass es nur noch als eine Frage der Zeit erscheint, wann der Mensch die absolute Herrschaft auch im Gebiete der organischen Chemie erobern wird. Die synthetische Chemie ist auf organischem Gebiete bereits als ebenbürtige Schwester an die Seite der analytischen getreten; ein Theil der genialsten Forscher (z.B. Berthelot) widmet ihr seine Kräfte, und fast monatlich hat sie neue überraschende Triumphe zu verzeichnen. Die Aufgabe der Darstellung der zu der sogenannten Fettreihe gehörigen Säuren, Aldehyde und Alkohole aus den unorganischen Elementen ist im Princip als gelöst zu betrachten, und die Erfolge in der sogenannten aromatischen Reihe[214] (wohin die meisten flüssigen Brennstoffe, die organischen Farbstoffe, Essenzen und Parfüms gehören) schreiten so rapide und mit solcher Sicherheit vor, dass man jetzt fast nur noch die organisch-chemische Constitution solcher Körper genau zu ermitteln braucht, um ihrer Synthese im Voraus sicher zu sein. Aber schon dringt der scharfe Blick des Chemikers weiter; die Gummi- und Zuckerstoffe beginnen sich seinem Verständniss zu erschliessen, und erwecken für die Zukunft der organischen Synthese unbegrenzte Hoffnungen.

Wenn so die Grenze zwischen unorganischer und organischer Materie längst gefallen ist, so beginnt auch die von anorganischer und organischer Form mehr und mehr zu wanken. Freilich zeigen die zusammengesetzten organischen Typen Formen, zu denen sich (mit Ausnahme des radiären Typus) in der anorganischen Natur keine Analogie findet; aber man darf nicht vergessen, dass das Leben auch schon in dem grossen Reiche der einzelligen Organismen wohnt, und die Zelle findet in der That ihr Analogen in der anorganischen Natur. Zunächst besitzen nämlich die meisten Flüssigkeiten an ihrer Oberfläche eine erheblich grössere Dichtigkeit und Zähigkeit als im Innern, ein Unterschied, der bei keiner stärker hervortritt, als beim Eiweiss und seinen Lösungen. Bietet sich hier an jedem Tropfen eine Analogie mit der oft unendlich zarten Zellmembran, so wird die Aehnlichkeit zur überraschenden morphologischen Identität mit Stärkemehlkörnern bei den mikroskopischen Körperchen aus kohlensaurem Kalk, welche Famintzin durch Zusammenbringen gesättigter Lösungen von Chlorcalcium und kohlensaurem Kali niederschlug. Hier zeigt sich derselbe Kern, dieselbe Schichtung, dieselbe Verwachsung mehrerer Körner, dieselbe erhöhte Widerstandsfähigkeit der äussersten Schicht gegen Essigsäure, wie bei den Stärkemehlkörnern. Hieraus ergiebt sich zunächst, dass Stärkemehlkörner keine lebendigen Zellen sind, sondern leblose Secrete derer lebendiger Elemente, ein Vorrathsspeicher zum künftigen Wiederverbrauch bestimmten Materials. Es ergiebt sich aber auch, dass die Zellenform mit Kern und Membran an sich noch gar nichts für das Vorhandensein von organischem Leben beweist, selbst dann nicht, wenn sie organische Materie zum Inhalt hat, sondern dass zum Leben noch etwas ganz anderes gehört, als organischer Stoff und organische Form, etwas Ideales, das sich in der Erhaltung und Fortbildung der Form durch den Wechsel des Stoffes offenbart, während jede Conservation der Form durch passive Conservation des Stoffes sich zum Leben wie eine Mumie[215] verhält, die höchstens das blöde Auge mit dem Schein des Lebens äfft.A47

Ich sagte also: es ist wahrscheinlich, dass vor der Entstehung des einfachsten Organismus schon sogenannte organische Verbindungen niederer Stufe vorhanden gewesen seien, die den Aufbau eines Organismus aus ihnen wesentlich leichter machten, als Wasser, Kohlensäure und Ammoniak, aus denen fertige Organismen sich nähren. Es würden dann diese organischen Stoffe für den zu bildenden Urkeim mindestens die Rolle des Düngers gespielt haben, der jetzt aus dem Rückbildungsprocesse von Organismen entsteht. Die Wahrscheinlichkeit, dass jene ersten Organismen im Wasser lebten, ist allgemein anerkannt; dass es sehr einfache Wesen, einfache, auf dem Indifferenzpunct von Pflanze und Thier stehende Zellen sein mussten, ist schon Cap. C. IV. gezeigt worden. Wie nun auch der Vorgang selbst in seinen Einzelheiten gedacht werden möge, so muss das festgehalten werden, dass das Unbewusste die erste eingetretene Möglichkeit des organischen Lebens erfasste und verwirklichte. Wenn wir bisher bei der Elternzeugung den Moment der Beseelung des entstehenden Keimes so aufgefasst hatten, als wenn das Unbewusste das erst an den gebildeten Keim mit der Beseelung Herantretende wäre, so war dies nur darum zulässig, weil wir im Anschluss an die herkömmliche Anschauungsweise die zur Bildung des Keimes erforderlichen unbewusst-psychischen Thätigkeiten stillschweigend als von den elterlichen Organismen ausgehend voraussetzen; da nun aber eine solche Unterscheidung bei der All-Einheit des Unbewussten ganz hinfällig ist, so müssen wir jetzt uns daran erinnern, dass die Beseelung des Keimes der Entstehung des Keimes nicht folgt, sondern vorangeht, d.h. dass der Keim erst dadurch entstehen kann, dass das Unbewusste zu seiner Entstehung eine besondere Thätigkeit wirken lässt, welche seine typische Form im Anschluss an die durch die vorhandenen Bedingungen gegebenen Möglichkeiten prädestinirt, gerade so, wie beim organischen Bilden der Naturheilkraft die typische Form des dem Salamander wieder wachsenden Beines durch die Thätigkeit des Unbewussten prädestinirt wird. Hier wie dort wird keinem anorganischen Naturgesetze widersprochen, keines auch nur auf einen Moment ausser Wirksamkeit gesetzt, sondern sie werden nur zu einem höheren Zwecke benutzt; es wird etwas gebildet, was durch das Zusammenwirken der anorganischen Naturgesetze allein nicht zu Stande kommen könnte, und was erst dadurch möglich wird, dass[216] der Wille des Unbewussten eingreift und Verhältnisse herbeiführt, in welchen nunmehr durch das normale Wirken der anorganischen Naturgesetze eine neue, zu neuen Leistungen fähige Form geschaffen wird.

Wie das Unbewusste stündlich in Millionen Keimen das Leben zu realisiren und festzuhalten sucht, die doch aus Ungunst der Verhältnisse durch die unerbittliche Notwendigkeit der anorganischen Gesetze bald wieder, oft schon im Entstehen, zermalmt werden, so mögen auch damals, als zuerst das Leben an der Erdoberfläche gährte, Millionen von Urkeimen schon in der Entstehung verunglückt sein, ehe es dem Leben gelang, gleichsam festen Fuss auf Erden zu fassen, war es aber einmal gelungen, einen oder einige wenige Organismen herzustellen, so hatte das Unbewusste von dieser eroberten Operationsbasis aus leichteres Spiel, es konnte nun die Elternzeugung zu Hülfe nehmen und mit Hülfe dieser das eroberte Terrain mit verhältnissmässig geringer Anstrengung behaupten und erweitern. Denn es ist offenbar sehr viel leichter, die im Wasser verdünnt und vertheilt vorhandenen organischen Stoffe um einen vorhandenen Organismus, als um einen idealen Punct herum zusammen zu ziehen, es ist sehr viel leichter, die an denselben noch erforderlichen chemischen Umbildungen und Modificationen durch Assimilation mit Hülfe der Contactwirkung von einem gegebenen Organismus aus, als ohne solche zu bewirken, und es ist sehr viel leichter, die typische Form der Zelle mit ihrer immerhin schon reicheren inneren Gliederung durch den einfachen Kunstgriff der Zellentheilung mit Hülfe von Einschnürung, als aus formlosem Stoffe herzustellen.

Es bedarf also jedenfalls einer unendlich viel geringeren Anstrengung20 des Willens, um Organismen mit Hülfe von schon bestehenden[217] zu bilden, als ohne dieselbe, gerade so, wie es bei einem höheren Thiere einer weit geringeren Anstrengung bedarf, um mit Hülfe der Nerven auf Gewebe zu wirken, als ohne dieselbe. Man kann also annehmen, dass derselbe Kraft- oder Willens-Aufwand, durch welchen eine Zelle vermittelst Urzeugung zu Stande kommt, hinreicht, um viele Millionen von Zellen durch Theilung vorhandener zu bilden.

Nun haben wir aber gefunden, dass die Natur durchweg darauf ausgeht, ihre Ziele bei möglichst geringem Kraftaufwande zu erreichen, dass sie es überall vorzieht, sich mechanische Vorrichtungen herzustellen zur Benutzung der doch einmal vorhandenen anorganischen Molecularkräfte, als dass sie selbst auf directe Weise eingreift; wenigstens aber sucht sie diese Eingriffe, da sie letzten Endes doch nicht ganz entbehrlich werden, auf ein Minimum von Kraftaufwand zu beschränken.

So sahen wir (Cap. A. VII. 1. a), dass das Nervensystem der Thiere nichts anderes als eine solche kraftersparende Maschine ist, die mit den leisen Drückern und Hebeln des Gehirnes Centnerlasten in den Gliedmaassen überwindet; wir sahen (Cap. A. III. V. VI. VIII. u. C. IV.) eine Menge von Einrichtungen bei Thieren und Pflanzen so getroffen, dass die aus diesen Vorkehrungen hervorgehenden Reize oder auch ihre rein mechanische Wirkungsweise besondere Instincte überflüssig machten; wir sahen ferner umgekehrt Instincte benutzt, um umfassende Anstrengungen im organischen Bilden entbehrlich zu machen, z.B. (Cap B. II. u. V.) den Instinct der geschlechtlichen Auswahl, um eine Veredelung der Gattung in Hinsicht der Schönheit und anderweitig zu erzielen; das nächste Capitel wird uns noch mehr solcher Beispiele bringen, welche beweisen, mit welcher Feinheit das Unbewusste überall bemüht ist, seine Ziele auf möglichst mechanische, d.h. mühelose Weise zu erreichen.[218]

Von diesem Gesichtspuncte aus stellt sich uns nun auch die Elternzeugung bloss als ein die Urzeugung mit ungeheuerer Kraftersparniss ersetzender Mechanismus dar.

So wenig wie ein vernünftiger Mensch querfeldüber fährt, wenn die Chaussee ihm zur Seite liegt, so wenig wie das Unbewusste nach Herstellung eines Nervensystemes in einem Thiere noch die Muskelcontraction durch directe Einwirkung des Willens auf die Muskelfasern bewirkt, so wenig wird es sich bei der offenstehenden Elternzeugung noch der Urzeugung bedienen.

Dieser hier aus dem Wesen der Urzeugung abgeleitete Satz hat in der neuesten Zeit seine volle empirische Bestätigung gefunden, indem das Mikroskop überall, wo man früher Urzeugung vermuthet hatte, Elternzeugung nachgewiesen hat, und heutigen Tages kein einziger Fall einer wirklichen Urzeugung beobachtet worden ist, trotzdem dass das Mikroskop dieses Gebiet des kleinsten Lebens schon nach allen Richtungen recht sorgfältig durchschweift hat.

Ich bestreite nicht nur keineswegs, dass bis jetzt jeden Augenblick die Möglichkeit offen steht, eine Urzeugung in der Gegenwart zu constatiren, sondern ich gebe sogar zu, dass der negative Nachweis, dass es jetzt keine Urzeugung mehr geben könne, seiner Natur nach für die Empirie ewig eine Unmöglichkeit bleiben muss; nichts desto weniger aber kann man wohl annehmen, dass eine Behauptung, in der rationelle Betrachtung und empirische Beobachtung übereinstimmen, eine grosse Wahrscheinlichkeit für sich habe.

Für den mit den hierher gehörigen interessanten Thatsachen nicht vertrauten Leser füge ich eine kurze Notiz über dieselben bei.

Aristoteles glaubte noch, dass die meisten niederen Thiere durch Urzeugung entstehen. Vor einigen Jahrzehnten nahm man noch die Urzeugung für die Eingeweidewürmer und Infusorien an, obwohl schon seit längerer Zeit Stimmen laut wurden, die an ein mögliches Uebersehen elterlicher Keime erinnerten. Zuerst wurden die Einwanderungswege und verschiedenen Zustände der Eingeweidewürmer wissenschaftlich festgestellt; dann zeigte man, dass länger als fünf Stunden hindurch gekochte Aufgüsse, die nur mit geglühter Luft in Berührung kamen, keine Organismen entstehen Hessen. Die Vertreter der Urzeugung beriefen sich aber mit Recht darauf, dass das Glühen der Luft auch die Fähigkeit zur Erzeugung von Organismen benehmen müsse.

Schröder und Dusch zeigten zuerst, dass ein zwanzig Zoll langer[219] Baumwollenpfropf die Luft so filtrirt, dass sie keine Organismen mehr zu Stande kommen lässt. – Pasteur untersuchte die in der Luft schwebenden Keime, indem er sie durch Schiessbaumwolle auffing und diese in Aether und Alkohol löste. Er fand dieselben in jeder Hinsicht den sonst bekannten Keimen der niedrigsten Thiere entsprechend. Er wies auch positiv nach, dass sie die Ursache der Entwickelung von Organismen in den Aufgüssen sind, indem er mit der geglühten Luft einen kleinen Baumwollenpfropf mit Keimen einführte, und jedesmal entstanden die Organismen, als ob die Luft freien Zutritt gehabt hätte. Pasteur verglich sogar durch eine sinnreiche Methode die relativen Mengen der an verschiedenen Localitäten in der Luft enthaltenen Keime. Neuerdings hat Crace-Calvert durch seine genauen Untersuchungen ermittelt, dass Temperaturen von 100° C. die in Frage kommenden kleinsten Organismen21 nicht wesentlich afficiren, dass durch 149° nur die in Gelatinelösung sich entwickelnden keimunfähig werden, dass aber zur Zerstörung der Keimfähigkeit der in den übrigen Versuchslösungen sich entwickelnden Organismen eine Temperatur von 204° C. erforderlich ist. Hiermit ist die Annahme einer Urzeugung in Aufgüssen ein für allemal wissenschaftlich erledigt.

Einen anderen Fall will ich noch erwähnen, die Entstehung der Monas amyli. Man sah in Stärkemehlkörnern ein Gewimmel von einzelligen Infusorien entstehen und glaubte, darin eine Urzeugung zu erkennen. Als man aber die Geschichte dieser Wesen weiter verfolgte, sah man dieselben beim endlichen Zerfallen des Stärkemehlkornes frei werden, jedes von ihnen ein frisches Stärkemehlkorn aufsuchen, und dieses, nach Art der Amoeben sich ausdehnend, völlig überziehen. Dieses dünne Häutchen auf der Oberfläche des Kornes, das Thier, welches gleichsam das Korn verschlungen hat und nun langsam schichtweise verdaut, war vorher der Beobachtung entgangen. Nun war natürlich die Entstehung der Brut als endogene Vermehrung erkannt.

Das Gesetz der Elternzeugung ist in der Natur so allgemein durchgeführt, dass uns nicht nur kein Fall der elternlosen Entstehung eines Thieres oder einer Pflanze, sondern selbst nicht einmal ein Fall der elternlosen Entstehung einer Zelle in einem bestehenden Organismus bekannt ist.[220]

Wenn irgendwo noch eine Urzeugung vorkäme, so sollte man doch gewiss erwarten, sie in einer spontanen Entstehung von Zellen in den Säften eines vorhandenen Organismus zu finden, wo sowohl die Temperatur, als die chemische Zusammensetzung der organischen Materie die denkbarst günstigsten Voraussetzungen liefert; aber vergeblich – auch innerhalb des Organismus entsteht nur aus der Zelle die Zelle.

Alle besonnenen Naturforscher geben zu, dass aus den negativen Resultaten der sorgfältigsten Forschungen bei unsern gegenwärtig so vollkommenen Instrumenten eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme resultirt, dass eine Urzeugung in der Gegenwart nicht vorkommt. Aus der Wahrscheinlichkeit dieser Annahme muss man aber darauf zurückschliessen, dass die Urzeugung selbst der einfachsten Moneren doch keine so leichte und einfache Sache sein muss, und dass zur Herstellung derselben denn doch noch ganz andere Bedingungen erforderlich sind als eine bloss mechanische Individuation vorhandener Proteinstoffe. Wäre dem so, so müsste die Urzeugung von Moneren aus proteinhaltigen Flüssigkeiten bei richtiger Temperatur, Beleuchtung, Ozongehalt der Luft u.s.w. unter dem Mikroskop zu beobachten sein; aber selbst den Fall gesetzt, dass dies gelänge, würde es doch nimmermehr glaublich erscheinen, dass ein solches Moner, das immer schon einer durch Ernährungs- und Fortpflanzungsmodus genau bestimmten Art angehört, durch blosses Spiel der unorganischen Atomkräfte entstehen und functionirend bestehen könnte (vgl. auch S. 146-47 und 216-217), ohne dass psychische Eingriffe des Unbewussten die Art dieses Verhaltens ideell regulirten.[221]

17

Wir brauchen wohl kaum daran zu erinnern, dass überall, wo in den ersten beiden Abschnitten des Buches das Wort »Seele« vorkommt, es nach den Auseinandersetzungen des vorigen Capitels nun nicht mehr anders als im Sinne der hier gegebenen Definition verstanden werden darf. Wenn in den früheren Abschnitten die monistische Auffassung der Seele hervorzukehren unterlassen worden ist, so geschah dies nur, weil für das Verständniss des dort Behandelten der landläufige Begriff der Seele ausreichte, und durch vorzeitiges Urgiren des monistischen Gesichtspunctes dem philosophisch ungeschulten Leser das Eindringen in die Sache nur unnütz erschwert worden wäre.

18

Helleborus niger und Bellis perennis gefrieren beim Eintritt der Kälte in allen Stadien der Blüthenentwickelung und wachsen erst nach dem Aufthauen weiter, was sich in Wintern von veränderlicher Temperatur öfter wiederholt. Goeppert hat halb geöffnete Blüthen wochenlang in diesem Zustande gesehen. Allerdings giebt es für jede Pflanzenart, selbst für diejenigen, welche die Kälte am besten ertragen, ein bestimmtes Maass, dessen Ueberschreitung den Tod veranlasst. Nach Cohn's directen mikroskopischem Beobachten sterben z.B. Zellen von. Nitella syncarpa bei einer Abkühlung unter 3° C., indem der protoplasmatische Inhalt des Primordialsehlauchs durch Ausfrieren des Wassers desorganisirt wird. Andere Pflanzen hingegen sterben schon einige Grade über dem Gefrierpunct.

A45

S. 211 Z. 8. Hefe erwies sich nach Abkühlung von – 113° C. noch als lebensfähiger Gährungserreger (Naturforscher 1874 Nr. 37, S. 351).

A46

S. 212 Z. 6. Wenn gerade diese naturwissenschaftlichen Thatsachen zu denjenigen gehören, welche von den in meinem Buche angeführten die meiste Anfechtung erfahren haben, so gereicht es mir zu um so grösserer Genugthuung, auf die Schrift eines modernen exacten Naturforschers hinweisen zu können (Prof. W. Preyer »Ueber die Erforschung des Lebens«, Jena, bei Mauke, 1873), welcher nicht nur eine zusammenhängende Geschichte der betreffenden Entdeckungen (von Leuwenhoek's Entdeckung im Jahre 1701 an) giebt (S. 25-31 und 49-64), sondern auch ganz mit meiner Auffassung übereinstimmt, dass der fragliche Zustand die absolute Cession alles Lebens im Gegensatz zu allen Zuständen versteckter minimaler Lebensfunction darstellt. Er sagt S. 31: »Und noch heute möchten sehr Viele alle die Beobachtungen und Versuche, die ich anführte, auch die von mir angestellten, für Täuschungen erklären. Da derartige Experimente sich aber leicht anstellen lassen (ich demonstrire sie in meinem Laboratorium und Hörsaal seit Jahren sehr häufig), so werden wohl nach und nach die Zweifel schwinden und die alten Ansichten vom Leben für immer verlassen werden.« – Ich bitte also jeden, der die betreffenden Angaben zu bestreiten beabsichtigt, sich zunächst mit den oben angegebenen Stellen der genannten Brochüre bekannt zu machen. Preyer dürfte von naturwissenschaftlicher Seite um so weniger als Gewährsmann beanstandet werden, als er ausgesprochener Materialist ist, und sogar aus der Thatsache, dass das Leben in einem Organismus eine Zeit lang völlig cessiren und dann wieder erwachen kann, in voreiliger, Weise Capital für seinen Materialismus schlagen zu können glaubt.

19

Wenn Thomson (Rede in der engl. Naturforsch. Vers. in Edinbourgh 1871) eine Uebertragung anderswo entwickelter Keime durch Meteorsteine auf die Erde supponirt, so steht dem entgegen, dass solche durch die beim Durchschneiden der Atmosphäre erzeugte Hitze vor Erreichung des Erdbodens allemal zerstört werden müssten, wenn sie nicht schon vorher durch die Kälte im Weltenraum getödtet worden wären.

A47

S. 216 Z. 2. Das Nämliche wie den Famintzin'schen Schichtungskörnern gegenüber gilt auch in Betreff der interessanten Versuche von Moritz Traube (Tageblatt der Naturforscherversammlung in Breslau 1874 S. 191), welcher durch Einführung von Leimtropfen in verdünnte Gerbsäure den chemischen Niederschlag einer colloiden Membran erzielte. Die so erlangte Imitation einer organischen Zelle zeigte durch Einsaugung von Wasser das Analogen des organischen Wachsthums. Bei richtiger Concentration der beiden Agentien ist nämlich die Dichtigkeit der Aneinanderlagerung der Molecule in der Membran eine solche, dass der Durchgang der chemisch differenten Molecule verwehrt, da gegen die Endosmose von Wassermoleculen in das Innere der Zelle unbehindert bleibt. In Folge dessen schwillt der Tropfen und wird die Membran durch den Druck von Innen gleich einer Seifenblase ausgedehnt. Sie würde bald platzen, wenn nicht der im Innern befindliche noch ungelöste Leim ein Reservoir bildete, aus welchem sie ergänzt werden kann. Das eingetretene Wasser löst nämlich etwas Leim auf, und sobald die Zwischenräume zwischen den Moleculen der Membran durch die Dehnung derselben so gross werden, dass die Molecule des Leims und der Gerbsäure durch dieselbe hindurch mit einander communiciren können, bilden sich aus diesem chemischen Contact neue Niederschlagsmolecule, welche sich in das Gewebe der Membran einordnen, und diese dadurch verstärken. Ist der Leimtropfen an dem ihn tragenden Glasstabe hängend befestigt, so ist die Concentration der Leimlösung in der Zelle überall ziemlich dieselbe, und das Wachsthum daher an allen Stellen ziemlich gleichmässig, so dass die Kugelgestalt bei der Vergrösserung im Ganzen beibehalten wird. Ist dagegen der Tropfen liegend oder stehend auf dem oberen Ende des Glasstabes befestigt, so ordnet sich die Leimlösung durch den Einfluss der Schwere in horizontalen Schichten, die nach oben zu (von dem Leimreservoir entfernt) immer verdünnter werden. In Folge dessen sind die am Gipfel der Zelle gelegenen Stellen der Membran in Bezug auf das Ernährungsmaterial ungünstiger situirt; sie werden dünner als die andern, und geben darum dem gleichmässigen hydrostatischen Druck mehr nach. Das Resultat ist, dass die Dehnung der Membran am Gipfel der Zelle am stärksten, also auch der Anlass zum Wachsthum am grössten ist, d.h. dass die Zelle sich in der der Schwere entgegengesetzten Richtung am meisten ausdehnt, also zu einem senkrechten Schlauch emporwächst. – Diese Versuche sind wohl geeignet, die elementarsten Vorgänge des organischen Zellenwachsthums und die theilweise Abhängigkeit der bevorzugten Wachsthumsrichtung von der Richtung der Schwere nach ihrer mechanischen Seite zu verdeutlichen, indem sie analoge, aber auch freilich nur analoge Verhältnisse herstellen. Denn zunächst springt der Unterschied in die Augen, dass beim organischen Zellenwachsthum der Nährstoff von aussen aufgenommen wird, während er hier als innerer Vorrath von Leimsubstanz der Zelle mitgegeben wird, und die Zelle sich nur durch Wasseraufnahme aufbläht. Die lebende Zelle enthält die Phasen der Jugend, des Alters und des Todes morphologisch in sich präformirt; die Leimzelle ist mit ihrem Wachsthum lediglich an die Grösse ihres mitgegebenen Nahrungsvorraths gebunden, sie stirbt nicht an Altersschwäche, sondern weil sie ihr Nahrungsreservoir geleert hat (falls die Membran so lange hält). Die organische Zelle lebt durch morphologische und chemische Mauserung, d.h. durch Stoffwechsel; dazu gehört aber nicht bloss Stoffaufnahme, sondern auch Stoffausscheidung. Die Leimzelle hat keine Stoffausscheidung und darum keinen Stoffwechsel, d.h. kein Leben; es geht in ihr gar kein chemischer und noch weniger ein morphologischer Mauserungsprocess vor sich. Die einzige chemische Reaction, die sich in ihr findet, ist der erste Niederschlag und die spätere allmähliche Verstärkung der Membran; dieser Process gehört aber bei den organischen Zellen nur insofern zum Lebensprocess, wie die Secretion zum Lebensprocess eines Organismus gehört und das Secret als solches kann sowenig mehr lebendig genannt werden, wie man das Haus der Schnecke, das Netz der Spinne oder den Urin des Menschen einen lebendigen Theil dieser Organismen nennt. Gleich den Moneren verleben die meisten Zellen ihre Jugendzeit, wo sie am meisten lebendig sind und den Haupttheil ihrer Leistungen vollbringen, ohne Niederschlagsmembran, und beginnt mit der Secretion einer solchen bereits ein Stadium der Einkapselung, in welchem der lebendige Verkehr mit der Aussenwelt beschränkt oder ganz aufgehoben ist. Diese absperrende Niederschlagsmembran ist also so wenig wie die Kalkkapsel der Finne oder Trichine als ein lebendiger Theil des Organismus, sondern höchstens als ein caput mortuum vorhergegangener Lebensbethätigung anzusehen. Jene Lebensbethätigung war die Secretion; aber die Secretion kann nur dann als Lebensfunction anerkannt werden, wenn sie als Resultat des Stoffwechsels oder der Mauserung eines lebendigen Organismus auftritt, und niemals kann von der äusseren Aehnlichkeit eines chemischen Oberflächenniederschlags mit der Oherflächensecretion lebendiger Zellen rückwärts auf einen Lebensprocess geschlossen werden, wo das Merkmal eines solchen, der gesetzmässig präformirte Stoffwechsel, ersichtlich fehlt. – Es erschien nöthig, an diese durchgreifenden unterschiede zwischen der organischen Zelle und der unorganischen Leimzelle zu erinnern, um voreilige Schlüsse abzuwehren, welche von materialistischer Seite aus diesen an und für sich höchst interessanten Versuchen gezogen werden könnten, obwohl der Urheber derselben gewiss am wenigsten geneigt sein dürfte, über der Aehnlichkeit die principielle Verschiedenheit beider Phänomene zu übersehen.

20

Es könnte der oberflächlichen Betrachtung scheinen, als wäre der Widerstand, den das Unbewusste bei seiner organisirenden Thätigkeit an der unorganischen Materie findet, eine Instanz gegen die All-Einheit des Unbewussten. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Wir haben schon oben gesehen, dass der Streit und Kampf der individualisirten Naturkräfte als Functionen des Unbewussten nothwendige Bedingung für das Zustandekommen der objectiven Erscheinungswelt und für die Entstehung des Bewusstseins insbesondere ist (vgl. S. 159-160); hier liegt nur ein besonderer Fall dieser allgemeinen Wahrheit vor. So wenig aus blosser unorganischer Materie ohne ein organisirendes Princip jemals ein Organismus hervorgehen könnte, so wenig könnte das organisirende Princip sich in Organismen realisiren, wenn es nicht als Stoff dazu die Materie vorfände. Das Unbewusste muss also, um Organismen, die Träger des Bewusstseins, schaffen zu können, zuvor eine Materie schaffen, und zwar eine ausnahmslosen Gesetzen unterworfene Materie, weil nur bei einer solchen die Herstellung von Hülfsmechanismen möglich ist, die immer dieselben Leistungen vollbringen. Dass aber eine solche nach eigenen Gesetzen sich verhaltende Materie, welche an sich nicht zur Organismenbildung tendirt, der Thätigkeit des Unbewussten, welche sie zur Organismenbildung zwingt, einen gewissen Widerstand entgegensetzt, ist selbstverständlich, und es ist kein Wunder, dass dieser nach der zufälligen Configuration der an jeder Stelle thätigen Naturkräfte in seiner Grösse variirende Widerstand unter Umständen ein Maass annehmen kann, wo das nur auf das Allgemeine, nicht auf den einzelnen Fall, gerichtete Interesse des Unbewussten die Bewältigung der vorliegenden Schwierigkeiten unterlässt, da es denselben Zweck auf anderm Wege leichter erreicht, oder doch an andern Stellen noch oft genug für die Zwecke des ganzen Processes erreicht. (Dies erklärt z.B. die Missgeburten in Folge von materiellen Störungen der embryonalen Entwickelung.) – Nach diesen Bemerkungen dürfte der Ausdruck »Anstrengung«, wofern man nur jeden anthropopathischen Nebenbegriff davon fernhält, nicht mehr unstatthaft erscheinen zur Bezeichnung des Maasses der Willensintensität, dessen Aufwendung behufs der Organisation zur Bewältigung des jeweiligen Widerstandes der Materie erforderlich ist.

21

Die widerstandsfähigen gegen höhere Temperatur sind nach Ferd. Cohn die Penicilliumkeime, während die Bacterienkeime nach demselben Forscher schon bei 80° C. getödtet werden.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 202-222.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Klein Zaches

Klein Zaches

Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.

88 Seiten, 4.20 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon