1. Möglichkeit und Vermittelung der Individuation

[252] Wenn das in der Welt erscheinende Wesen ein einziges, untheilbares ist, woher kommt dann die Vielheit der erscheinenden Individuen, woher die Einzigkeit eines jeden derselben, wozu ist sie da, wie ist sie möglich?

Die Beantwortung dieser Fragen ist von jeher eine Hauptschwierigkeit für jede ausgesprochen monistische Philosophie gewesen. Das von der Hand Weisen oder ungenügende Beantworten derselben war es hauptsächlich, was stets dem Rückschlage des Monismus in einen realistischen Polyïsmus oder Pluralismus den Weg bahnte (z.B. Leibniz nach Spinoza, Herbart nach Schelling und Hegel, Bahnsen nach Schopenhauer). Spinoza lässt obige Fragen ebenso wie die Alten unberücksichtigt, er erklärt dogmatisch die Individuen für modi der Einen Substanz, aber die Entwickelung des modus aus der Substanz, oder den Nachweis, warum jeder modus sich vom anderen unterscheide und eine in seiner Art einzige Existenz bilde, bleibt er gänzlich schuldig. Der subjective Idealismus (Kant, Fichte, Schopenhauer) glaubt genug gethan zu haben, wenn er die Vielheit in der Welt als subjectiven Schein erklärt, entstehend durch die Formen der subjectiven Anschauung: Raum und Zeit, unbekümmert darum, dass erstens die Schwierigkeit nur aus dem objectiven in's subjective Gebiet hinübergespielt ist, aber hier gerade so ungelöst fortbesteht, als sie dort bestand, und dass zweitens die Frage unbeantwortet bleibt, wie denn dieses in seiner Art einzige, von jedem ihm ähnlichen sich unterscheidende anschauende Individuum nach monistischen Principien möglich sei, da entweder, wenn es als eines unter Vielen gefasst wird, die unverständliche reale Vielheit inconsequenter Weise wieder eingeführt wird, oder[252] aber im anderen Falle bei Annahme des Solipismus wiederum die Beschränktheit dieses selbsteinzigen anschauenden Subjects unbegreiflich bleibt.

Letztere Seite der Frage erkennt Schelling allerdings an (Werke I. 3. S 483): »Die Aufgabe ist nun aber diese, wie aus einem Handeln des absoluten Ich's die absolute Intelligenz, und wie wiederum aus einem Handeln der absoluten Intelligenz das ganze System der Beschränktheit, welche meine Individualität constituirt, sich erklären lasse.« Die Antwort folgt auf der nächsten Seite: »Bliebe nun die Intelligenz Eins mit der absoluten Synthesis, so würde zwar ein Universum, aber es würde keine Intelligenz sein. Soll eine Intelligenz sein, so muss sie aus jener Synthesis heraustreten können, um sie mit Bewusstsein wieder zu erzeugen, aber dies ist abermals unmöglich, ohne dass in jene erste Beschränktheit eine besondere oder zweite kommt, welche nun nicht mehr darin bestehen kann, dass die Intelligenz überhaupt ein Universum, sondern dass sie das Universum gerade von diesem bestimmten Puncte aus anschaut.«

Ich gestehe, dass ich denjenigen beneiden würde, der aus dieser Stelle in ihrem Zusammenhange die Wahrheit herauszulesen im Stande ist, wenn er sie nicht schon vorher besitzt.

Für das Hegel'sche System ist unsere Frage geradezu eine der schlimmsten Blössen. Nach Hegel ist der Begriff die alleinige Substanz, es ist nichts ausser dem Begriffe, und der Naturprocess eine objective Begriffs-Dialektik. Andererseits giebt er selbst zu, dass der Begriff so wenig wie das Wort im Stande ist, das einzelne Dieses in seiner Einzigkeit zu erfassen, dieses Individuum, welches man als solches nur noch zeigen, nicht mehr beschreiben kann. Die individuelle Einzigkeit steht ausserhalb der Tragweite des Begriffes und damit ausser der des Hegel'schen Systemes, wenn dieses sich selbst consequent bleiben will. Schon die Vielheit als reale Erscheinung kann dasselbe nicht erklären, denn es ist kein Grund abzusehen, warum bei der Entlassung der absoluten Idee zur Natur jede Entwickelungsstufe des logischen Processes mehr als eine entsprechende Entwickelungsstufe des Naturprocesses haben solle. Die dialektische Selbstzersplitterung des Eins in die Vielen giebt zwar die Vielheit als reinen Begriff, aber nicht die Vielheit als Accidenz realer Erscheinungen, denn nie würde Hegel die Selbstzersplitterung eines Thalers in viele Thaler oder Groschen behauptet haben, und so wenig wie auf diesen realen Fall wäre die Selbstzersplitterung des Eins auf eine Selbstzersplitterung einer Weltseele in viele reale[253] Individuen anzuwenden. Die reale Vielheit ist mehr als der Begriff der Vielheit; es ist eine Summe von Individuen, deren keines dem anderen gleicht deren jedes ein Dieses, ein Namenloses, Einziges ist (gerade so wie ich ein Namenloser, Einziger bin), deren Jedes durch keinen Begriff mehr zu erreichen ist, sondern nur noch durch Anschauung.A53

Wer nie das Bedürfniss gehabt und die Schwierigkeit gefühlt hat, vom Standpuncte des Monismus aus die Individuation zu begreifen, der mag die erste Hälfte dieses Capitels bis zur Betrachtung des Charakters hin getrost überschlagen, er würde ihr doch kein Interesse abgewinnen. Für denjenigen hingegen, der bisher gerade wegen dieser mehr oder minder deutlich bewusst gewordenen Schwierigkeit dem Monismus fern geblieben ist, und sich mit dem Pluralismus der realen Erscheinungswelt als einem Letzten zufrieden gegeben hat, für den liegt in diesem Capitel in Verbindung mit Cap. C. VII. der Schwerpunct dieses Buches. In der That hat der Pluralismus und Individualismus eine Berechtigung, die sich nicht ungestraft unterschätzen lässt; wie jedes ungebührlich vernachlässigte Moment rächt auch er sich allemal durch eine ihre berechtigte Grenze überschreitende Reaction. Bei Fichte steht noch das Bewusstseinsindividuum im Vordergrunde, aber seine Bedeutung ist nicht die eines charakteristischen Unicum, sondern die des Typus einer eingeschränkten absoluten Intelligenz, was sich bei Schelling noch deutlicher enthüllt, während bei Hegel sich sogar dieser Typus zur abstracten Kategorie des subjectiven Geistes verflüchtigt. Was die andere Seite der Individualität, als abgesonderter natürlicher Existenz, betrifft, so ist bei Fichte von derselben gar nicht die Rede, da ihm die Natur nur subjectiver Schein ist; bei Schelling und Hegel aber wird wohl über abstracto Naturpotenzen und deren dialektisches Spiel reflectirt und speculirt, aber die Bedeutung und das Recht des natürlichen Individuums als solchen völlig ignorirt, wo es nicht gar ausdrücklich negirt wird. In der Reaction gegen diese Einseitigkeit des abstracten Idealismus und in der Wiederaufrichtung der Fahne eines die Vielheit der Dinge an sich anerkennenden Realismus liegt die historische Berechtigung des Herbart'schen Pluralismus; seine Wahrheit liegt in der Behauptung, dass das Recht der Vielheit und Individualität gerade soweit reicht wie die Realität des Daseins überhaupt, seine Unwahrheit liegt in dem Verkennen der Phänomenalität aller Realität und alles Daseins. Der subjective Idealismus hatte die richtige Ahnung[254] gehabt, dass Realität nur Phänomenalität sei, aber er hatte diesen Gedanken verzerrt und entstellt dadurch, dass er keine andere als subjective Phänomenalität kannte, so dass die Vielheit nur zum subjectiven Schein herabsank. Hat man aber das Daseiende als objective (d.h. vom auffassenden Bewusstseinssubject unabhängige) Erscheinung oder Manifestation des Ueberseienden oder als Exsistirung des Subsistirenden erkannt, dann sind Realität und (objective) Phänomenalität als Wechselbegriffe erkannt, dann weise man aber auch, dass die Vielheit, deren Recht soweit gebt, wie die Realität der existirenden Welt, ebenso wie diese nur eine phänomenale, keine transcendent-metaphysische Geltung hat. Schopenhauer arbeitet sichtlich auf diesen Standpunct hin, aber sein Steckenbleiben im subjectiven Idealismus hindert ihn, seinen Begriff der individuellen Willensobjectivation in den der objectiven Phänomenalität aufzuklären und fortzubilden, und der Mangel dieses letzteren Begriffes bringt ihn wieder dazu, im Widerspruch mit seinen Principien die Vielheit und Individualität auch in das transcendent-Metaphysische hineinreichen zu lassen (intelligibler Individualcharakter und individuelle Willensverneinung). Von hier aus konnte Bahnsen dazu gelangen, ein System des charakterologischen Individualismus als metaphysischen Willenspluralismus hinzustellen, und Schopenhauer's Monismus zu verwerfen, weil er die Widersprüche in Schopenhauer's System durchschaute, und das Recht der Individualität nicht anders retten zu können glaubte. Der von Schelling und Hegel in die Philosophie eingeführte, und unter den Anhängern Schopenhauer's namentlich von Frauenstädt betonte Begriff der objectiven Phänomenalität erklärt aber alles zu Erklärende in zufriedenstellender und minder einseitiger Weise. Während ich die Einzigkeit des Individuums und sein Recht innerhalb der realen Welt dem abstracten Idealismus und Monismus gegenüber ebenso energisch wie Herbart in Schutz nehme und hochhalte, bestreite ich ebenso entschieden jeden Anspruch des Individuums auf eine über diese Welt der objectiven Erscheinung hinausreichende, transcendent-metaphysische Geltung als unbegründet, unberechtigt und überfliegend, und erachte selbst denjenigen Pluralismus, welcher alles transcendent-Metaphysische hinter der realen Welt rundweg ableugnet, für erträglicher und philosophischer als denjenigen, der das Individuum zu einer ewigen transcendenten Wesenheit oder Substanz aufbläht, – denn ersterer verzichtet bloss zu Gunsten der Physik auf alle Metaphysik, letzterer aber hat eine falsche Metaphysik, und das ist viel[255] schlimmer. So gewiss aber schon der erstere Pluralismus allen berechtigten Ansprüchen der Individualität Genüge leistet, so gewiss thut dies auch die Philosophie des Unbewussten, welche dem Individuum ganz genau dieselbe Geltung einräumt wie jener metaphysiklose Pluralismus, nur dass sie zu dieser Ansicht über die reale Welt und deren Vielheit noch eine Metaphysik (und zwar, was hierbei gleichgültig ist, eine monistische Metaphysik) hinzufügt. Die Philosophie des Unbewussten ist also die wahre Versöhnung von Monismus und pluralistischem Individualismus, indem sie jede der beiden Seiten als berechtigt anerkennt, jede auf das ihr zukommende (metaphysische, resp. physisch-reale) Gebiet verweist, und beide als aufgehobene Momente in sich vereinigt. –

Aus den bisherigen Resultaten der vorhergehenden Capitel ergiebt sich die Lösung der an die Spitze dieses Capitels gestellten Fragen ohne Mühe. Wir lassen aber die Frage: Wozu ist die Individuation da? vorläufig unerörtert und betrachten nur die andere: Wie ist sie nach monistischen Principien möglich?

Allgemein gesprochen lautet die Antwort: »Die Individuen sind objectiv gesetzte Erscheinungen, d.h. es sind gewollte Gedanken des Unbewussten oder bestimmte Willensacte desselben; die Einheit des Wesens bleibt unberührt durch die Vielheit der Individuen, welche nur Thätigkeiten (oder Combinationen von gewissen Thätigkeiten) des Einen Wesens sind.« Aber gerade damit diese allgemein gehaltene Antwort plausibel wird, muss man in's Einzelne gehen, und sich noch einmal vergegenwärtigen, durch welche Combination welcher Thätigkeiten ein Individuum entsteht, und inwiefern jedes Individuum nothwendig von jedem anderen verschieden, also einzig sein muss.

Die Individuen höherer Ordnung entstehen, wie wir (Cap. C. VI.) gesehen haben, durch Zusammensetzung aus Individuen niederer Ordnung unter Hinzutritt neuer auf das Resultat der Zusammensetzung gerichteter Thätigkeiten des unbewussten; man muss also mit dem Begreifen der Individuation bei den Individuen niedrigster Ordnung, d.h. den Atomen, anfangen. Hier haben wir nach dem jetzigen Standpuncte der naturwissenschaftlichen Hypothesen nur zwei verschiedene Arten von Individuen, Abstossungs- und Anziehungskräfte, zu unterscheiden; innerhalb jeder dieser Gruppen findet zwischen den Individuen völlige Gleichheit statt, mit alleiniger Ausnahme des Ortes.[256]

Weil die Atomkräfte A und B auf dieselben anderen Atome verschieden wirken, nur dadurch sind sie verschieden, und weil die Wirkungsrichtungen von A und die Wirkungsrichtungen von B sich in je einem Puncte schneiden, drückt man auch wohl diese Verschiedenheit kurz so aus: A und B nehmen verschiedene Orte ein, während doch streng genommen die Kraft gar keinen Ort einnimmt, sondern nur ihre Wirkungen sich räumlich unterscheiden. Dächte man aber zwei gleiche Atome in einem mathematischen Puncte vereinigt, so hörten sie damit nicht nur auf, unterscheidbar, sondern sogar verschieden zu sein, denn sie hörten auf, zwei Kräfte zu sein, und würden Eine doppelt so starke Kraft sein.

Hier ist also die Anwendung der oben allgemein gegebenen Antwort an sich klar und verständlich: Das Unbewusste hat gleichzeitig verschiedene Willensacte, welche sich durch ihren Vorstellungsinhalt insofern unterscheiden, als die räumlichen Beziehungen ihrer Wirkungen verschieden vorgestellt werden. Indem aber der Wille seinen Inhalt realisirt, treten diese vielen Willensacte als ebenso viele Kraftindividuen in die objective Realität, sie sind die erste, primitive Erscheinung des Wesens. Weil jede Atomkraftwirkung verschieden von jeder anderen, also einzig, vom Unbewussten vorgestellt ist, darum ist natürlich auch ihre Realisation von der jeder anderen Atomkraft verschieden, also ebenfalls einzig, unbeschadet dessen, dass sie ihrem Begriffe nach ununterscheidbar sind; die anschauende Vorstellung des Unbewussten unterscheidet sie aber ohne Begriff in ihren räumlichen Beziehungen, so gut wie man durch Anschauung den rechten Handschuh als rechten erkennt, was kein Begriff und keine Begriffscombination je im Stande ist.

Hier erinnere man sich auch, was Cap. C. I. 3) u. 4) über die Art und Weise gesagt ist, wie das Unbewusste vorstellt. Der Begriff ist ein Resultat eines Scheidungs- oder Abstractionsprocesses, aber das Unbewusste erfasst stets die Totalität seines Vorstellungsinhaltes, ohne sich auf eine Scheidung innerhalb desselben einzulassen; der Begriff ist ein Product des discursiven Denkens, ein trauriger Nothbehelf seiner Schwäche, aber das Unbewusste denkt nicht discursiv, sondern intuitiv, es denkt die Begriffe nur, insofern sie in der Intuition als integrirende, aber unausgeschiedene Bestandtheile enthalten sind, folglich kann es nicht auffallen, wenn unter den Intuitionen des Unbewussten auch solche sind, aus denen sich selbst für das discursive Denken keine Begriffe mehr ausscheiden lassen, wie z.B. die Anschauung, dass die Wirkungen der Atomkraft A[257] so gerichtet sein sollen, dass ihre Richtungslinien sich in diesem Puncte hier, die des Atoms B so, dass sie sich in jenem Puncte dort schneiden. Somit reducirt sich bei den Atomen die Verschiedenheit und Einzigkeit der Individuen in der That in der unmittelbarsten Weise auf die Verschiedenheit und Einzigkeit der Vorstellungen, welche die Willensacte, in denen sie bestehen, als Inhalt erfüllen, so dass je einem Individuum je ein einfacher Willensact entspricht.

Leider wurde die Materie nie als eine Combination von Willensacten des Unbewussten verstanden, so dass man das einzige Beispiel, wo das Verständniss der Individuation so einfach ist, nicht zur Hand hatte; in allen anderen Fällen aber, wo es sich um Individuen höherer Ordnungen bandelt, wird das Verständniss der Individuation dadurch erschwert, dass erst eine complicirte, sich jeden Augenblick ändernde, Combination von Willensacten das Individuum bildet.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Atomkräften der Materie stehen, und fragen wir nach dem Medium, durch welches die Individuation auf diesem Gebiete möglich wird, nach dem sogenannten »principium individuationis«, so kennzeichnet sich als solches unzweifelhaft die Verbindung von Raum und Zeit; denn wir hatten ja gesehen, dass die begrifflich gleichen Atomkräfte A und B sich nur durch die verschiedenen räumlichen Beziehungen ihrer Wirkungen, uneigentlich und kurz gesprochen durch ihre Oerter unterscheiden, und haben damals nur unterlassen, zu »ihrer Wirkungen« hinzuzufügen: »in demselben Zeitpuncte«; dieser Zusatz ist aber zur Vervollständigung nothwendig, weil ja mit der Zeit der Ort eines Atomes wechseln kann. Das Wort principium individuationis ist aber nicht gut gewählt, es sollte heissen: medium individuationis; denn die Urheberschaft oder der Ursprung der Individuation kommt ebenso wie der von Raum und Zeit allein dem Unbewussten zu, nämlich der Vorstellung die ideale Verschiedenheit und Einzigkeit der Atome, dem Willen aber die Realität derselben.

Es könnte nun der oberflächlichen Betrachtung scheinen, dass hier nur dasselbe wie von Schopenhauer gesagt ist, der auch Raum und Zeit als das principium individuationis in Anspruch nimmt; jedoch waltet zwischen seiner und meiner Auffassung die Grundverschiedenheit ob, dass bei Schopenhauer Raum und Zeit nur Formen der subjectiven Gehirnanschauung sind, mit denen die (erkenntnisstheoretisch) transcendente Realität gar nichts zu schaffen hat, dass für ihn also die ganze Individuation ein bloss subjectiver Schein ist, dem ausserhalb des Hirnbewusstseins keine Wirklichkeit entspricht.[258]

Nach meiner Auffassung dagegen sind Raum und Zeit ebensowohl Formen der äusseren Wirklichkeit als der subjectiven Hirnanschauung, freilich nicht Formen des (metaphysisch-) transcendenten Wesens, sondern nur seiner Thätigkeit, so dass die Individuation nicht bloss eine Scheinrealität für das Bewusstsein, sondern eine Realität, abgesehen von allem Bewusstsein, hat, ohne doch darum Vielheit der Substanz zu bedingen.

Es ist hier der springende Punct für das Verständniss des Begriffs der objectiven Erscheinung im Gegensatz zu Kant-Fichte-Schopenhauer's bloss subjectiver Erscheinung. Die Möglichkeit einer Vielheit und Individuation, unabhängig von dem sie vorstellenden Bewusstseinssubject, hängt an der Bedingung, dass das principium oder medium individuationis ein von der Anschauung des Bewusstseinssubjects unabhängig gegebenes sei, d.h. dass Raum und Zeit nicht bloss Anschauungsformen, sondern auch Daseinsformen des an sich (d.h. unabhängig von der Vorstellung des Bewusstseinssubjects) Seienden seien; wer dies leugnet, muss nothwendig auch das leugnen, dass eine andere als die von der bewussten Vorstellung gesetzte Vielheit und Individuation existiren, muss also leugnen, dass er und sein Weib zwei unabhängig von seiner Vorstellung seiende Individuen seien. Nun ist aber das Wesen der Materie nur Wille und Vorstellung und zwar Eines wie das Wesen alles Seienden; die Vielheit liegt nur in der Action, und ist reale Vielheit nur insofern zugleich ein Aufeinandertreffen der Willensacte stattfindet (Ein Atom wäre kein Atom). Hiermit ist aber zugleich gesagt, dass die Vielheit und Individuation (also auch die Realität, das Dasein und die Existenz) nur in der Aeusserung der metaphysischen Kraft, (vgl. oben S. 171-173), nur in der Action der Substanz, nur in der Manifestation des verborgenen Grundes, nur in der Objectivation des Willens, nur in der Erscheinung des Einen Wesens liegen. Die Vielheit soll also einerseits nicht blosse subjective Erscheinung (des an sich Seienden), andererseits aber doch blosse Erscheinung des Einen Wesens sein, deshalb nennen wir sie objective Erscheinung. Ebenso nennen wir Raum und Zeit als Individuationsprincip der Vielheit der objectiven Erscheinungen objective Erscheinungsformen.

Hätte sich Schopenhauer nicht so sehr in seine unglückliche Anlehnung an Kant verrannt, so hätte er nothwendig das Richtige aussprechen müssen, während er jetzt dabei beharrt, dass die ganze Vielheit der Welt erst Existenz erhält durch das erste thierische[259] Bewusstsein und in dessen Anschauung. Es liegt darin nur soviel Richtiges, dass auch die objective Erscheinung, um real zu sein, d.h. um aus der unbewusst idealen Gesetztheit zur äussern Wirklichkeit hervorzutreten, eines Widerspiels zwischen verschiedenen Willensacten bedarf; das Unrichtige kommt in den Gedanken nur dadurch hinein, dass die Verbindung eines der afficirten Willensacte mit einem Bewusstseinssubject als Bedingung gefordert wird. Scheidet man diese unberechtigte Forderung aus, so bleibt die einfache Wahrheit übrig, dass die objective Erscheinung, welche auf der Individuation des Einen zur Vielheit beruht, auch nur in dieser Vielheit ohne Selbstwiderspruch möglich ist. Ausserdem liegt aber in Schopenhauer's Behauptung, dass die Welt der Individuation erst mit dem ersten sie erkennenden Bewusstseinssubject da sei, die unrichtige Ansicht, als ob die subjective Erscheinung, welche der Intellect sich aus den materiellen Vorgängen in der objectiven Erscheinung seines Gehirns spontan construirt, die unmittelbare und wahre Erscheinung des Wesens selber sei, während sie in der That der objectiven Erscheinung (d.h. der Summe von Naturindividuen, wie sie unabhängig vom Angeschautwerden sind) sehr unähnlich, ja in vielen Puncten völlig heterogen ist. Nur die objective Erscheinung ist die wahre und unmittelbare Erscheinung des Wesens, die subjective Erscheinung aber ist ein subjectiv gefärbtes und verzerrtes Abbild der objectiven Erscheinung. Durch Ausscheidung des bloss der Subjectivität Angehörigen und durch wissenschaftliche Ergründung der objectiven Ursachen der so und so gegebenen Afficirung des Subjects ein adäquates Gedankenbild der objectiven Erscheinung zu gewinnen und so das »Was« der objectiven Erscheinung zu erkennen, das ist das Bestreben und die Aufgabe der Naturwissenschaft (Physik im weitesten Sinne), während die Metaphysik das Wesen nach seinen Attributen und seiner Offenbarungsweise zu erkennen bemüht ist, welches der objectiven Erscheinung (den natürlichen Dingen) zu Grunde liegt. So z.B. ist die Materie als subjective Erscheinung der Stoff mit seinen sinnenfälligen Qualitäten, als objective Erscheinung ein räumlich bestimmter Complex punctueller Atome, als Wesen, das dieser Erscheinung zu Grunde liegt, das All-Eine Unbewusste mit den Attributen Wille und Vorstellung; das erste ist die sinnliche, das zweite die physikalische, das dritte die metaphysische Definition der Materie.

Der zweite Punct, in dem ich von Schopenhauer abweiche, ist der, dass er gar keine Atome kennt, weshalb er bei »Individuation[260] der Materie« sich eigentlich gar nichts Bestimmtes denken kann, weil er nicht sagen kann, was Individuen der blossen unorganischen Materie seien. Das Dritte ist endlich, dass er die organischen Individuen naiver Weise als ebenso unmittelbare Objectivationen des Willens, wie ich die Atomkräfte, betrachtet, während ich, der Naturwissenschaft folgend, dieselben durch Zusammensetzung von Atomindividuen entstehen lasse; bei Schopenhauer ist also Raum und Zeit für organische Individuen in dem selben Sinne principium individuationis, wie für die Atome, während ich für die Individuen höherer Ordnung immer nur diejenigen Individuen niederer Ordnung als unmittelbares principium individuationis gelten lassen kann, aus welchen jene sich zusammensetzen, wenn auch Raum und Zeit natürlich in letzter Reihe immerhin als mittelbares principium individuationis bestehen bleiben, da ja aus Atomkräften die ganze materielle Welt sich aufbaut. Nur sein subjectiver Idealismus, dem die Materie, also auch der organische Leib ein bloss subjectiver Schein ohne entsprechende Realität jenseits des Bewusstseins sein muss, konnte Schopenhauer dazu bringen, den Leib für eine unmittelbare Objectivation des individuellen Willens zu erklären, eine Behauptung, welche gegenüber den Thatsachen der so höchst mangelhaften Herrschaft des Willens über den Leib und des Stoffwechsels, der die erste Bedingung alles organischen Lebens ist, gar nicht aufrecht zu halten ist. Die Erfahrung lehrt uns erstens, dass die Materie, welche unseren Leib constituirt, etwas uns Fremdes und Gleichgültiges ist, dass sie fortwährend ausgeschieden und durch andere ersetzt wird, ohne dass der Leib als solcher ein anderer geworden ist; zweitens, dass die Materie unseres Leibes unserer Seele gegenüber in ähnlichem Sinne wie der Wille dritter Personen eine ganz reale Macht bildet, mit der man rechnen muss, um sie, soweit als practisch nöthig, beherrschen zu können, der man aber sofort unterliegt, sowie man sie entweder vernachlässigen zu können glaubt, oder Anforderungen an sie stellt, deren Erzwingung die psychische Macht nicht gewachsen ist. Die Erfahrung lehrt mit einem Worte, dass die Materie sich als ein bereits vorgefundener, bis zu einem gewissen Maasse indifferenter roher Baustoff verhält, welchen die bildende Individualseele nach Bedürfniss an sich zieht und von sich stösst, dessen Gesetze sie aber achten muss und nicht ungestraft zu verletzen versucht.

Erinnern wir uns nun der Resultate von Cap. C. IX., wonach das Unbewusste das Leben realisirt, wo sich ihm nur die Möglichkeit[261] des Lebens bietet, beachten wir dann, dass das organische Leben nur in der organischen Form denkbar ist und zu seiner Verwirklichung der Materie bedarf, so leuchtet ein, dass durch diese Momente die Individuation des organischen Lebens gesetzt ist; denn es muss zu seiner Verwirklichung eben einen Complex von räumlich in gewisse Grenzen beschlossenen Atomen erfassen, und diese in die betreffenden Lagerungszustände und Gruppirungen versetzen, welche den organischen Stoffwechsel ermöglichen, die erfassten Atome aber sind Individuen, d.h. jedes von ihnen ist einzig, folglich muss auch der organisch constituirte Complex dieser Atome und die ausschliesslich auf ihn gerichtete Thätigkeit des Unbewussten, welche zusammen das höhere Individuum ausmachen, einzig sein.

So stellt sich hier, wie schon oben angedeutet wurde, die niedere Ordnung von Individuen für die höhere als medium individuationis heraus. – Es hat für das Ziel dieser Betrachtung keinen besonderen Werth, in der Entwickelung weiter zu gehen, und auszuführen, wie für die mehrzelligen Individuen die Zellen ebensowohl eine Macht sind, deren Gesetze respectirt werden müssen, als die Materie für die Zellen, wie im Körper ebensowohl ein Zellenwechsel als ein Stoffwechsel stattfindet, wenn auch viel langsamer u.s.w. Das Wesentliche ist, dass die Individuation des organischen Lebens nur in und durch die Materie stattfindet, die Individuation der Atome aber in und durch Raum und Zeit. Bei allen höheren Individuen braucht die allgemeine Form einen Inhalt oder Stoff, um concret zu werden; dasselbe, was für die Individuen höherer Ordnung Stoff war, wird für die der niederen Ordnung Form, nur bei der Materie wird das Endglied dieser Reihe erreicht, nur hier wird die typische Form von selbst concret, wird gleichsam sich selber Stoff durch den einfachen Kunstgriff der Fixation an den räumlichen Punct, durch den Kunstgriff, dass hier die Wirkungsrichtungen der Kraft sich sämmtlich in ein und demselben Puncte schneiden. Weil die Atomkräfte keinen ausser sich liegenden Stoff mehr haben, an dem sie sich individualisiren, sondern nur ihren Ort, so unterscheiden sie sich auch (abgesehen von dem Unterschiede zwischen Körper- und Aether-Atomen) nur durch ihren Ort, der eben ihr einziges medium individuationis ist; höhere Individuen dagegen, welche die Materie zum medium individuationis haben, finden auch ausser der Verschiedenheit des eingenommenen Ortes an der von ihnen in Besitz genommenen Materie ein reiches Feld für individuelle Unterschiede.

Hiermit ist erst bei Individuen höherer Ordnungen die Möglichkeit[262] eines Individualcharakters gegeben, und diesem müssen wir jetzt noch einige Aufmerksamkeit schenken, denn er tritt uns auf der ganzen Stufenleiter des organischen Lebens von dem Individualcharakter der einfachsten Zelle an bis zu dem der menschlichen Geistesanlagen als eine bei monistischen Principien anfänglich überraschende Erscheinung entgegen.A54

A53

S. 254 Z. 6. (Vergl. »Neuk., Schop. u. Heg.« S. 300-305.)

A54

S. 263 Z. 6. (Vergl. zu diesem Abschnitt »Neuk., Schop. u. Heg.« S. 305-321.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 252-263.
Lizenz:
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Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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