XII. Die Allweisheit des Unbewussten und die Bestmöglichkeit der Welt

[273] Zu allen Zeiten und unter allen Völkern hat man die Weisheit des Weltschöpfers, Weltordners oder Weltlenkers bewundert und gepriesen. Keines von allen Völkern, welche im Laufe der Geschichte nur eine mittlere Culturstufe errungen haben, wie immer seine sonstigen Ansichten in religiöser und philosophischer Beziehung beschaffen sein mochten, war so roh, dass nicht diese Erkenntniss bei ihm Eingang gefunden hätte und zum mehr oder weniger begeisterten Ausdruck gelangt wäre. Wenn auch dieser Ausdruck zum Theil auf Rechnung einer aus gewinnsüchtiger Absicht gegen die Götter gerichteten Schmeichelei zu stellen sein mag, so bleibt doch jedenfalls der grössere Theil desselben als Kundgebung einer wahrhaften Ueberzeugung bestehen. Diese Ueberzeugung drängt sich schon dem kindlichen Gemüthe auf, sobald es die wunderbare Combination von Mitteln und Zwecken in der Natur zu begreifen anfängt. Nur wer die Naturzwecke läugnet, kann sich dieser Ueberzeugung verschliessen; eine solche Ansicht aber kann sich erst aus systematisch geordneten philosophischen Abstractionen entwickeln, da sie der ersten natürlichen Auffassung der Naturerscheinungen zuwiderläuft. Ehe noch die Menschen abstrahiren, werden sie von der Macht des concreten Falles auf das Stärkste ergriffen, und die tiefer angelegten Köpfe einer kindlichen Nation können über die Erkenntniss eines auffälligen Naturzweckes schon in einem einzelnen Falle in tiefes Staunen und Ehrfurcht gerathen. So erzählt man von einem Braminen der Vorzeit, dass er über eine Insecten fangende Pflanze in solches Staunen versunken sei, dass er, ohne Speise und Trank zu nehmen, vor derselben bis an's Ende seines Lebens sitzen geblieben sei. – Kommt dann der Mensch zu Inductionen aus den concreten Fällen, so sind es solche Sätze, wie: »Die Natur[273] thut nichts vergebens; die Natur macht Alles auf's Beste; die Natur bedient sich zu ihren Zwecken der einfachsten Mittel und Wege«; in welchen er schon frühe die in der Natur waltende Weisheit anerkennt. Ihren stärksten rationellen Ausdruck findet jene Ueberzeugung in der Periode des Leibniz und Wolf. Wenn auch Leibniz in seiner Wegläugnung des Uebels aus der Welt über das Ziel hinwegschoss, wenn auch ein grosser Theil der schwärmerischen Lobpreisungen von den Nachbetern der »besten Welt« nur hohle, phrasenreiche Declamationen waren, die der von ihnen vertretenen Sache in den Augen der Nachwelt bloss schadeten, so bleibt doch ein ewig wahrer Kern davon bestehen.

Betrachten wir nämlich die Sache im Anschluss an unsere früheren Resultate, so stellt sie sich folgendermaassen: Nach Cap. C. I. kann das Unbewusste niemals irren, ja nicht einmal zweifeln oder schwanken, sondern wo der Eintritt einer unbewussten Vorstellung gebraucht wird, erfolgt derselbe momentan, den im Bewusstsein sich zeitlich auseinanderzerrenden Reflexionsprocess implicite in den Einen Moment des Eintrittes zusammenschliessend, und zweifellos richtig, da dem Unbewussten kraft seines absoluten Hellsehens alle nur irgend zur Sprache kommenden Data zu Gebote stehen, und zwar immer und momentan zu Gebote stehen, nicht wie die Data bei der bewussten Reflexion erst durch mühsames Nachsinnen aus dem Gedächtnisse eines nach dem anderen herangeholt werden müssen, und noch öfter gänzlich fehlen. Alle zukünftigen Zwecke, die nächsten wie die fernsten, und alle Rücksichten auf die Möglichkeit des Eingreifens in dieser oder jener Weise wirken auf diese Art im Entstehungsmomente der bedurften Vorstellung zusammen, und so kommt es, dass jedes Eingreifen des Unbewussten gerade in dem angemessensten Moment eintritt, wo das gesammte Zweckgerüst der Welt es erfordert, und dass die unbewusste Vorstellung, welche die Art und Weise des Eingreifens bestimmt, die diesem gesammten Zweckgerüste angemessenste von allen möglichen ist. Ein solches Eingreifen des Unbewussten in einer sich ganz nach der Besonderheit des Falles richtenden Weise findet nach unseren Untersuchungen im Gebiete des organischen Lebens in jedem Momente statt; sowohl die in einem durch Ernährung hergestellten Ersatz des abgenutzten Materials und in einem unaufhörlichen Kampfe gegen eingreifende Störungen bestehende Erhaltung, als auch die theils in einer Neubildung zufällig zerstörter Theile, theils in einer Steigerung der individuellen[274] Lebensform sich äussernde Fortbildung, als auch die durch Herstellung neuer Individuen zur Fortpflanzung werdende Fortbildung, sie alle drei sind nur denkbar durch ein unaufhörliches, in jedem Moment sich erneuerndes Eingreifen des Unbewussten an jeder einzelnen Stelle des Organismus gleichzeitig; jeder dieser Eingriffe modificirt sich nach den besonderen Umständen, auf die er sich bezieht, und jeder behält doch gleichmässig die grossen Zwecke im Auge, denen sie alle gemeinschaftlich dienen.

Jede natürliche Ursache zeigt sich hiernach als Mittel für die grossen Zwecke der Vorsehung,A56 jede natürliche Ursache im Reiche des Organischen stellt sich dar als eine unmittelbare Betheiligung des Unbewussten einschliessend. Aber diese unausgesetzten Eingriffe der Vorsehung sind selbst natürlich, d.h. nicht willkürlich, sondern gesetzmässig, nämlich durch den ein für alle Mal feststehenden Endzweck und die augenblicklich vorliegenden Verhältnisse, in welche eingegriffen wird, mit logischer Nothwendigkeit bestimmt.

Wenn die christliche Auffassung es so sehr hervorhebt, dass Gottes Wirken nicht bloss eine Leitung im Ganzen und Grossen sei, sondern dass seine unermessliche Grösse gerade darin sich am wunderbarsten offenbare, dass sie allgegenwärtig in jedem Kleinsten wirksam sei, so ist diese Ansicht durch unsere Betrachtungen in Bezug auf das organische Leben in der That nur bestätigt.

Aber hiermit ist die Zweckmässigkeit der Thätigkeit des Unbewussten noch nicht erschöpft, sondern um wie viel mehr die Klugheit dessen zu loben ist, der sich einer stets wiederkehrenden Arbeit durch die Construction einer sinnreichen Maschine überhebt, als dessen, der dieselbe in jedem einzelnen Falle auf's Geschickteste selbst verrichtet, so müssen wir auch die Weisheit des Unbewussten weit mehr noch da bewundern, wo dasselbe sich einen Theil seiner Eingriffe durch eigens dazu hergestellte Mechanismen oder auch durch geschickte Benutzung äusserer Verhältnisse (z.B. des Kampfes um's Dasein oder der ohnehin schon vorhandenen Kraftwirkungen der Atome) erspart, als da, wo dasselbe die vorhandenen Aufgaben durch fortwährendes direktes Eingreifen in vortrefflichster Weise löst. Beispiele hiervon haben wir während des Verlaufes unserer Untersuchungen so zahlreich gefunden, dass ich hier kaum eine besondere Verweisung, geschweige denn Aufzählung für nötig halte. Der umfassendste und wichtigste von allen diesen Mechanismen aber ist das System der physikalisch-chemischen Naturgesetze.[275]

Wie viel Mechanismen aber auch das Unbewusste zur Erleichterung seiner Arbeit benutzen möge, so können diese doch niemals das fortwährende directe Eingreifen entbehrlich machen, denn sie gehen ihrer Natur nach auf eine Classe gleichartiger Fälle, während in Wirklichkeit jeder Fall sich vom anderen unterscheidet; es lässt also der besteingerichtete Mechanismus immer einen Rest von Arbeit übrig, der nach wie vor der directen Thätigkeit des Unbewussten anheimfällt, und welcher in der vollständigen Anpassung an die Einzigkeit des vorliegenden Falles besteht. Sobald der Kraftaufwand zur Herstellung eines Mechanismus grösser würde, als die durch den Mechanismus erreichte Kraftersparniss (was bei allen solchen Umstandscombinationen der Fall ist, die ihrer Natur nach nur selten eintreten, oder wo sich aus anderweitigen Gründen ein Mechanismus nur schwer construiren lässt), da muss natürlich die directe Thätigkeit des Unbewussten ohne Weiteres einstehen. Solcher Art sind z.B. die Eingriffe des Unbewussten in menschlichen Gehirnen, welche den Verlauf der Geschichte auf allen Gebieten der Culturentwickelung im Sinne des vom Unbewussten beabsichtigten Zieles bestimmen und leiten.

Wenn wir nun nach alle dem nicht umhin können, dem unbewussten erstens absolutes Hellsehen (welches dem theologischen Begriffe der Allwissenheit entspricht), zweitens eine unfehlbare und zweifellose logische Verknüpfung der umfassten Data und möglichst zweckmässiges Handeln im möglichst angemessenen Moment (theologisch mit der Allwissenheit vereinigt in Allweisheit), und drittens ein unaufhörliches Eingreifen in jedem Moment und an jeder Stelle (theologisch Allgegenwart, man müsste hinzufügen: allzeitliche Allgegenwart) zuzuschreiben, wenn wir ferner erwägen, dass im ersten Moment, wo das Unbewusste in Thätigkeit trat, also im Moment der ersten Setzung und Veranlagung dieser Welt, eben dieselbe ideale Welt aller möglichen Vorstellungen, also auch aller möglichen Welten und Weltziele und Weltzwecke und ihrer möglichen Mittel im allwissenden Unbewussten ruhte, – wenn wir endlich berücksichtigen, dass die Kette der Finalität ihrer Natur nach nicht unendlich gedacht werden kann, wie die der Causalität, sondern in einem letzten Zweck endigen muss, weil jedes vorhergehende Glied der Kette bei der Finalität durch das folgende bedingt wird, also eine vollendete Unendlichkeit von Zwecken in der Vorstellung befasst werden müsste, und doch noch alle die unendlich vielen Finalglieder als unmögliche in der Luft schweben würden, weil sie[276] vergebens des Endzweckes harren, der sie erst bestimmen soll, – so dürfen wir uns wohl mit Recht dem Vertrauen hingeben, dass die Welt so weise und trefflich, als nur irgend möglich ist, eingerichtet und geleitet werde, dass, wenn indem allwissenden Unbewussten unter allen möglichen Vorstellungen die einer besseren Welt gelegen hätte, gewiss diese bessere statt der jetzt bestehenden zur Ausführung gekommen wäre, dass sich das irrthumsunfähige Unbewusste weder bei der Setzung dieser Welt über ihren Werth hätte täuschen können, noch auch, dass bei der allzeitlichen Allgegenwart des Unbewussten jemals eine Pause seines Wirkens möglich gewesen sein könne, wo durch eine solche Nachlässigkeit in der Weltregierung die besser angelegte Welt sich hätte von selbst verschlechtern können. Somit können wir die Behauptung des Leibniz, »dass die bestehende Welt die beste von allen möglichen sei«, nur für vollkommen gerechtfertigt halten. Freilich ist der Weg, auf welchem wir zu der überwiegenden Wahrscheinlichkeit dieser Annahme gekommen sind, ein indirecter. Auf directem Wege dahin zu streben, ist ja auch eine offenbare Unmöglichkeit, denn wie sollten wir je die unendlich vielen möglichen Welten begreifen, wie die bestehende ausreichend erkennen, um sie mit jenen erschöpfend zu vergleichen? Wohl aber war es uns möglich, im Unbewussten die Existenz derjenigen Eigenschaften nachzuweisen, denen zufolge es die möglichen Welten gleichsam mit einem Blicke überschauen, und von diesen möglichen Welten diejenige realisiren musste, welche den vernünftigsten Endzweck auf die zweckmässigste Weise erreicht.A57

Wenn wir nun aber auch in dieser Hinsicht mit Leibniz übereinstimmen, so können wir doch keineswegs seine Auffassung des Uebels billigen, welche er vom Athanasius und Augustinus übernommen hat, und welche darin besteht, dasselbe für etwas rein Privatives, für einen geringeren Grad des Wohles zu erklären. Würde es für etwas Negatives im wahren Sinne des Wortes erklärt, so könnte man dies, recht verstanden, nur billigen, denn Lust und Schmerz, Wohl und Uebelverhalten sich in der That wie Positives und Negatives, d.h. wie Thesis und Antithesis; nur ist zu bemerken, dass das Negative genau so viel Realität hat, wie das Positive, dass es rein eine Sache des subjectiven Standpunctes, mithin, da dieser ein selbstgewählter ist, eine Sache der Willkür ist,[277] welches von zwei Entgegengesetzten man als positiv, welches man als negativ bezeichnen wolle.

Leibniz ist aber auch ein zu feiner und im Besonderen zu mathematischer Kopf, um aus der Negativität des Uebels seine Unrealität aufzeigen zu wollen; – da es ihm aber doch allein um diese in majorem Dei gloriam zu thun ist, so thut er den Thatsachen Gewalt an, und schreibt dem Uebel nicht einen negativen, sondern einen bloss privativen und zwar relativ-privativen Charakter zu, d.h. er behauptet: »Das Uebel ist nicht der Gegensatz, sondern der Mangel des Wohles, und zwar wäre nur das absolute Uebel der absolute Mangel des Wohles, jedes relative Uebel aber ist nur ein relativer Mangel, d.h. ein geringerer Grad des Wohles.«

Dies ist eine thatsächliche Unwahrheit, denn aus dem Satze würde ohne Weiteres folgen, dass ich die Verbindung des Uebels a mit dem Wohle A dem Besitze des letzteren allein vorziehen müsste, da ja das Uebel a noch lange nicht absolutes Uebel, d.h. Null-Wohl ist, sondern nur ein geringerer Grad von Wohl ist, also den in A enthaltenen Grad von Wohl noch um den seinigen vermehrt. Das non plus ultra des Wahnsinns aber wäre nach dieser Ansicht, wenn Jemand, um ein grosses Uebel zu vermeiden, auf ein Wohl verzichtet, und der Mensch, der alle nur denkbaren körperlichen und geistigen Qualen gleichzeitig im äussersten Maasse erduldet, wäre glücklich zu preisen selbst in diesem Moment gegen den unempfindlichen Zustand des Chloroformirten, um nicht zu sagen gegen den friedlichen Schlummer des Todes. In solche unnatürliche Verzerrungen führt eine falsche Hypothese, die um tendenziöser Zwecke willen erfunden wird.

Fragen wir aber nach der Tendenz, in welcher sie aufgestellt wurde, so erweist sich dieselbe merkwürdiger Weise als ein Irrthum, also die ganze Hypothese als überflüssig.

Man glaubte nämlich in der Existenz eines realen Uebels einen Widerspruch gegen die vollkommene Welt vor sich zu haben. Mit dem Worte »vollkommen« ist von jeher viel Unfug getrieben worden; schon Plato (Timäos 7) und Aristoteles hielten die Welt für eine Kugel und die astronomischen Bewegungen für kreisförmige, weil die Kugel die vollkommenste Gestalt und die Kreisbewegung die vollkommenste Bewegung sei, und auch in alten Lehrbüchern der Artillerie kann man lesen, dass man deshalb mit Kugeln schiesse, weil die Kugel die vollkommenste Gestalt sei.

Wenn »vollkommen« überhaupt einen Sinn haben soll, so kann[278] es nur der sein: »das Bestmögliche seiner Art«, denn besser als möglich kann doch nichts sein; auch nur in diesem Sinne hatte man Grund, die Welt für vollkommen zu halten. Nun schob man aber unvermerkt dem Vollkommenen einen anderen Begriff unter, den des Makellosen, oder Mangellosen, einen absoluten Werth Repräsentirenden, den Besitzer mit ungetrübter Seligkeit Erfüllenden. Von einer solchen Vollkommenheit der Welt war aber nicht das Mindeste auch nur im Entferntesten wahrscheinlich gemacht, es war eine grundlose Unterstellung, durch Begriffsverwirrung entstanden. Man meinte, das Bestmögliche müsse auch gut sein, und dachte gar nicht daran, dass die Bestmöglichkeit einer Sache nicht das Mindeste über ihre Güte aussagt, dass sie deshalb so schlecht sein kann, wie sie will, ja dass in gewissen Fällen das möglichst Gute und das möglichst Schlechte geradezu identisch ist, wo nämlich nur ein Fall möglich ist, oder auch, wo alle möglichen Fälle an Güte einander gleich sind. Also deshalb, weil diese Welt die bestmögliche, kann sie immer noch herzlich schlecht sein, und da eben ihre Bestmöglichkeit gar nichts über ihre Güte aussagt, so kann auch der stärkste Nachweis ihrer Schlechtigkeit niemals ein Einwand gegen ihre Bestmöglichkeit werden und folglich können die Widerlegungen dieser Einwände nie eine Stütze für die Behauptung der Bestmöglichkeit werden, sind also in dieser Beziehung ganz überflüssig.

Nur wenn die aufgezeigten Mängel und Schlechtigkeiten entweder das Verfolgen eines verwerflichen Endzwecks oder eine Anwendung unangemessener Mittel zu nachweislich vorhandenen guten Zwecken bewiesen, nur dann würden sie einen Zweifel an der Allweisheit des Unbewussten und dadurch indirect, aber nur indirect, auch an der Bestmöglichkeit der Welt begründen. Dies ist aber weder in Bezug auf das Uebel, noch in Bezug auf das moralisch Böse, noch in Bezug auf das Wohlleben der Unsittlichen und Leiden der Tugendhaften der Fall; die Zwecke, zu welchen diese Umstände unangemessene Mittel wären, müssten das Walten allgemeiner Glückseligkeit, Sittlichkeit und Gerechtigkeit sein. Was zunächst die Sittlichkeit und Gerechtigkeit betrifft, so haben beide nur eine Bedeutung auf dem Standpuncte der Individuation, d.h. sie gehören nur der Welt der Erscheinung, nicht dem Wesen derselben an. Die Individuation verlangt als Grundinstinct zur Erhaltung der Individuen, also als Grundbedingung ihrer Möglichkeit, den Egoismus; ohne Egoismus keine Individuation; [279] mit Egoismus nothwendig sofort Verletzung des Anderen Behufs des eigenen Vortheils, d.h. Unrecht, Böses, Unsittlichkeit u.s.w. Dies Alles ist also ein nothwendiges, um der Individuation willen unvermeidliches Uebel, wie ich schon Cap. A. VIII. S. 163 im Gebiete organischer Einrichtungen darauf hingewiesen habe, dass gewisse unvermeidliche Uebelstände trotz ihrer Zweckwidrigkeit gegen gewisse Zwecke ertragen werden müssen, weil ihre Umgebung eine Zweckwidrigkeit gegen noch wichtigere Zwecke sein würde.

Zu bewundern ist also nur die Weisheit des Unbewussten, die erstens als Gegengewicht gegen den nothwendigen Egoismus jene anderen Instincte, wie Mitleid, Wohlwollen, Dankbarkeit, Billigkeitsgefühl und Vergeltungstrieb, in des Menschen Brust gelegt hat, welche zur Verhütung vieles Unrechtes und Erzeugung positiver Wohlthaten dienen, und von welchen der Vergeltungstrieb und das Billigkeitsgefühl in Verbindung mit dem Staatenbildungstriebe nach Uebertragung der Vergeltung an die Staatsgewalt die Idee der Gerechtigkeit erzeugen, welche nun ihrerseits durch die in Aussicht gestellte Strafe die Unterlassung des Unrechtes zu einer Sache des Egoismus macht, so dass dieser sich selbst in seinen Ueberschreitungen aufhebt.

Aber ganz abgesehen von dieser bewunderungswürdigen Einrichtung sind und bleiben doch Sittlichkeit und Gerechtigkeit immer nur Ideen, die bloss in Bezug auf das Verhalten der Individuen zu einander, oder zu den aus den Individuen gebildeten Corporationen eine Bedeutung haben, aber auf das innere Wesen der Individuen angewendet, d.h. auf das All-Einige Unbewusste – abgesehen von der Form seiner Erscheinung – bedeutungslos werden. Da nun aber das All-Eine letzten Endes nur insoweit an der Welt interessirt sein kann, als es mit seinem Wesen an ihr betheiligt ist, in ihr drin steckt, und da die Form der Erscheinung wohl wichtiger Durchgangspunct, aber, abgesehen von ihrer Rückwirkung auf das Wesen selbst, unmöglich letzter Zweck sein kann, so werden auch Sittlichkeit und Gerechtigkeit als formelle Ideen in Bezug auf ihren teleologischen Werth für das Unbewusste nur nach einem solchen Maassstabe gemessen werden können, der ausschliesslich ihre Wirkung auf dessen Wesen berücksichtigt.

Diesen giebt aber allein die durch Sittlichkeit und Unsittlichkeit, durch Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in sämmtlichen Betheiligten,[280] handelnden wie leidenden Individuen, erzeugte Summe von Lust und Schmerz, denn diese erst sind etwas ganz Reales, nicht wie Sittlichkeit und Gerechtigkeit blosse Bewusstseinsideen, und das Unbewusste ist das gemeinschaftliche Subject, welches sie in allen den verschiedenen Bewusstseinen fühlt. Also nicht an sich kann sittliches Handeln für das Unbewusste einen Werth haben, sondern nur, insofern es die Summe des von ihm zu fühlenden Leides verringert; nicht an sich, auch nicht um der Sittlichkeit willen kann die Gerechtigkeit einen Werth haben, sondern nur insofern sie durch Verminderung unsittlichen Handelns das zu fühlende Leid vermindert. Wenn also auch Sittlichkeit und Gerechtigkeit als solche nicht Zwecke im Weltprocesse sein können, so könnten sie es wohl um der Glückseligkeit willen sein, wenn diese, als ein das Wesen des Unbewussten unmittelbar betreffender Gegenstand, als Zweck betrachtet werden darf, was man zunächst wohl meinen sollte. Als Zwecke in solchem relativen Sinne können aber Sittlichkeit und Gerechtigkeit allerdings ohne Widerspruch mit den Thatsachen betrachtet werden, da in der That die schon erwähnten Instincte, besonders aber die mehr und mehr sich vervollkommnende Gerechtigkeitspflege als Mittel zur Verminderung des unsittlichen und ungerechten Handelns anerkannt werden müssen. Gänzlich ablegen aber müssen sie ihren Anspruch auf absolute Gültigkeit, und sich mit einer sehr untergeordneten relativen Bedeutung bescheiden, wobei noch hinzukommt, dass, wie die Unsittlichkeit ein unvermeidlicher Uebelstand ist, ohne den keine Individuation möglich ist, so die Anforderung einer directen göttlichen Gerechtigkeitspflege ein theologischer Unverstand ist, der um eines ganz geringfügigen Nutzens willen die Welt unaufhörlich aus den Fugen ihrer Gesetze rücken müsste. Von der Glückseligkeit, d.h. der möglichsten Verminderung des Schmerzes und der möglichsten Erhöhung der Lust, sollte man nun allerdings meinen, dass sie als etwas das Wesen des Unbewussten selbst Betreffendes, ganz Reales, eo ipso Zweck sein müsste, besonders da kein anderes Subject zum Fühlen des Schmerzes und der Lust da ist, als das All-Einige Unbewusste; dem entsprechend sehen wir auch in der That eine Menge Veranstaltungen zur Abwehrung des Schmerzes und Erhöhung der Lust getroffen.

Ebenso wenig können wir läugnen, dass unter Voraussetzung der Individuation und des damit zusammenhängenden Egoismus die unabweisbare Nothwendigkeit des Schmerzes im Kampfe um's[281] Dasein und im Tode des Individuums gegeben ist; gleichwohl finden wir eine Menge Thatsachen, die in Bezug auf die Glückseligkeit als zweckwidrig erscheinen, und nur dadurch zu begreifen sind, wenn die anderen Zwecke, denen sie dienen, z.B. Vervollkommnung des Bewusstseins u.s.w., wichtiger als die Glückseligkeit sind; ja schon bei der Individuation selbst ist dies der Fall. Nun können wir aber schlechthin nicht begreifen, wie es einen Zweck geben soll, der der Glückseligkeit vorangehen könne, da doch nichts directer als diese das Wesen des Unbewussten angehen kann; wir können nicht begreifen, wie es etwas geben könne, was ein Opfer an Glückseligkeit lohnt, es sei denn die Aussicht einer höheren Glückseligkeit, oder was das Aufsichnehmen eines Schmerzes lohnt, es sei denn die Aussicht auf Vermeidung eines grösseren Schmerzes; das hiesse ja sonst die Zähne in sein eigenes Fleisch schlagen. Wenn also wirklich Glückseligkeit der höchste Zweck sein soll, so kann es nur solche Leiden geben, die unvermeidlich sind, um dafür auf einer anderen Seite, oder in einem späteren Stadium des Processes eine um so höhere Glückseligkeit zu erlangen, oder wenigstens um noch grösseren, umfassenderen, oder langwierigeren Leiden vorzubeugen. Wenn aber hierzu keine Aussicht wäre, so wäre die Existenz eines Weltprocesses oder einer Welt überhaupt vernünftigerweise nicht zu begreifen, und die Erreichung weiss Gott welcher anderen Zwecke könnte für die Uebernahme eines die Lust überwiegenden Schmerzes keinen vernünftigen Grund abgeben.

Hier ist nun der Punct, von dem aus wir wieder auf Leibniz zurückkommen können. Denn es wäre doch zu sehr zu verwundern, wenn die Begriffsverwechselung zwischen der vollkommenen Welt als bestmöglichen, und der vollkommenen Welt als durchweg guten und makellosen, bei einem so feinen Kopfe wie Leibniz nicht eine versteckte Unterlage hätte, welche die Tendenz der Theodicee in gewissem Sinne rechtfertigt. Diese ist aber auch allerdings vorhanden; denn nicht, wie vorgegeben, um die Bestmöglichkeit der Welt zu retten, suchte Leibniz ihren Werth durch die Privativität des üebels und des Bösen zu erhöhen, sondern um den Schöpfer wegen seiner Schöpfung zu rechtfertigen.

Nämlich unter allen möglichen Welten ist der Fall nicht mit inbegriffen, dass keine Welt geschaffen werde, weil eben keine Welt auch keine Welt, also auch keine der möglichen Welten ist; sollte sich nun herausstellen, dass diese bestehende [282] Welt schlechter als keine ist, so würde den Schöpfer der Vorwurf treffen, warum er sie überhaupt geschaffen habe, da es doch vernünftiger gewesen wäre, keine zu schaffen. Dann würde die Schöpfung als solche, ganz abgesehen davon, wie sie ausgefallen ist, einem unvernünftigen Act ihren Ursprung verdanken, und man hätte dann nur die Wahl, entweder anzunehmen, dass die Vernunft des Schöpfers an diesem ursprünglichen Acte keinen Antheil habe, und dass ihr nur die Aufgabe zugefallen sei, den ohne ihr Zuthun gesetzten, über die Existenz entscheidenden Anfang auf die bestmögliche Weise fort – und durchzuführen, oder aber zuzugeben, dass die im Einzelnen unbestreitbare Weisheit des Schöpfers im Ganzen in einen fundamentalen Irrthum verfallen und mithin sich selbst völlig untreu geworden sei, wenn man nämlich die Behauptung aufrecht erhalten will, dass bei jenem ursprünglichen Acte die Totalität des Schöpfers betheiligt gewesen sei, also auch seine Vernunft. Die zweite Annahme ist zu monströs; wie könnte die Allweisheit sich selbst so untreu werden, gerade in dem wichtigsten Momente die grösste Unvernunft zu begehen? Auf die erste Annahme wollte und konnte aber Leibniz ebenso wenig eingehen, weil er innerhalb Gottes keine Mehrheit der Attribute anerkannte. Folglich blieb ihm nur übrig, sich im Voraus gegen die Möglichkeit zu sichern, dass diese Welt sich als schlechter wie keine herausstellen könnte, und zu diesem Zwecke erfand er die Lehre von dem privativen Charakter des Uebels.

Wir, die wir uns die Unbefangenheit der Betrachtung vor Allem zu wahren suchen, werden im nächsten Capitel die Frage empirisch zu lösen versuchen, ob diese Welt ihrem Nichtsein vorzuziehen oder nachzustellen sei. Sollte sich dann das Letztere ergeben, so werden wir uns der Consequenz nicht verschliessen, dass die Existenz der Welt einem unvernünftigen Act ihre Entstehung verdanke, werden aber nicht annehmen, dass die Vernunft selbst in diesem einen Puncte plötzlich unvernünftig geworden sei, sondern dass derselbe nur deshalb ohne Vernunft vollzogen sei, weil die Vernunft nicht bei ihm betheiligt war. Dies wird uns dadurch möglich, weil wir zwei Thätigkeiten im Unbewussten kennen, von denen die eine, der Wille, eben die an sich unlogische (nicht antilogische, sondern alogische), vernunftlose ist. Da wir nun rückwärts schon längst wissen, dass alle reale Existenz dem Willen ihre Entstehung verdankt, so wäre schon a priori nur [283] das zu bewundern, wenn diese Existenz als solche nicht unvernünftig wäre.

Wie aber auch die Entscheidung ausfallen möge, keinenfalls wird aus ihr ein Einwand gegen die Allweisheit des Unbewussten und gegen den Satz herzuleiten sein: dass von allen möglichen Welten die bestehende die beste sei.[284]

A56

S. 275 Z. 13. Diese Lehre von den teleologischen »Eingriffen« des Unbewussten in den mechanischen Process der unorganischen Kräfte und Gesetze, die schon öfter unter der gleichen Bezeichnung erwähnt worden war (z.B. II, 221 Z. 2 v. u., II. 250 Z. 18), hat vielfache Missverständnisse hervorgerufen, als ob es sich dabei um eine Durchbrechung des Gesetzes der Erhaltung der Kraft, um eine Aufhebung oder zeitweilige Suspension der unorganischen Naturgesetze, und um das Hineintreten einer gesetzlosen freien Willkür in den gesetzmässigen Lauf der Welt handle. Solche Vorwürfe gegen die Lehre von teleologischen Eingriffen mögen andere Teleologen gegenüber in gewissem Grade berechtigt sein (z.B. Lotze gegenüber, vgl. »Lotze's Philosophie« S. 36-40); mir gegenüber sind sie es nicht. Wenn die unorganischen Naturgesetze nur einen Theil der Naturgesetzlichkeit ausmachen und nicht das Ganze derselben, so muss ein anderer Theil der gesammten Naturgesetzlichkeit einer höheren Stufe organischer Bildungsgesetze allgehören; wenn die teleologische Zweckmässigkeit bereits der Beschaffenheit Vertheilung und Gesetzmässigkeit der unorganischen Kräfte anhaftet, so ist es kein Wunder, dass sie der höheren Stufe der organischen Gesetze in noch höherem Grade zukommt und noch deutlicher in ihr zu Tage tritt. Wenn die gesetzmässigen organisirenden Functionen des Unbewussten zu den gesetzmässigen unorganischen Functionen desselben hinzutreten, so muss ein andres Ergebniss herauskommen, als wenn sie nicht hinzutreten; aber so wenig die hinzutretenden organisirenden Functionen gesetzlos willkürlich sind, ebenso wenig werden bei dem Zusammenwirken der organisirenden und unorganischen Functionen die Gesetze der letzteren aufgehoben, durchbrochen oder modificirt, – im Gegentheil ist der ungestörte Fortbestand der unorganischen Kräfte und Gesetze die Voraussetzung für die Möglichkeit der organisirenden Function. Die anorganischen Kräfte und Gesetze sind überall und immer in Actualität, die organisirenden Functionen hingegen nur da, wo durch die Gruppirung der unorganischen Materie die Bedingung ihrer Actualität gegeben ist. Unter dem Gesichtspunkt der unorganischen Naturgesetze erschienen deshalb die organisirenden Functionen als Eingriff in denjenigen Verlauf, welchen die materiellen Bewegungsprocesse ohne deren Hinzutreten genommen haben würden. Unter dem Gesichtspunkt der gesammten Naturgesetzlichkeit hingegen sind die unorganischen und die organisirenden Functionen nur zwei Seiten der Gesammtthätigkeit desselben absoluten Subjects nach einer einheitlichen, aber innerlich mannichfach gegliederten logischen Nothwendigkeit. Die Bezeichnung »Eingriffe« hat deshalb in der That nur eine Bedeutung für die inductive Betrachtungsweise, welche, von den niederen Stufen der Naturgesetzlichkeit zu den höheren aufsteigend, in einem gewissen Zeitpunkt die niederen Stufen als etwas schon Bekanntes voraussetzt, die höheren aber als etwas noch Unbekanntes und erst zu erforschendes behandelt. Da sich unsre gegenwärtige Denkweise im Allgemeinen thatsächlich auf dieser Stufe der Betrachtung und des inductiven Erkenntnissaufstiegs befindet, so lag die Bezeichnung »Eingriffe« nahe genug, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre, dieselbe aus einem höheren und umfassenderen Gesichtspunkt philosophischer Auffassung zu vermeiden. Immerhin hat diese Bezeichnung den Vortheil gehabt, den Gegensatz, in welchem die mechanistische natürwissenschaftliche Weltanschauung unsrer Zeit sich zu einer umfassenderen philosophischen Auffassung befindet, scharf zu formuliren, den Vertretern der ersteren zum Bewusstsein zu bringen, den Einspruch derselben gegen die philosophische Weltanschauung herauszufordern und die Untriftigkeit dieses Einspruchs in das rechte Licht zu stellen. (Vgl. Theil III S. 141-145, Anm. Nr. 51, 58 u. 62-65 und S. 463-474; Theil I. S. 452-455; »Neukantianismus etc.« S. 205 bis 208.)

A57

S. 277 Z. 13 V. U. (Vgl. über die Eigenschaftsbestimmungen des Absoluten meine »Religion des Geistes« S. 113132.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 273-285.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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