2. Gesundheit, Jugend, Freiheit und auskömmliche Existenz als Bedingungen des Nullpunctes der Empfindung, und die Zufriedenheit

[305] Die genannten Zustände werden meistens als die höchsten Güter des Lebens in Anspruch genommen, und nicht ohne Grund; gleichwohl gewähren sie durchaus keine positive Lust, ausser wenn sie durch Uebergang aus den ihnen entgegengesetzten Unlustzuständen soeben erst entstehen; während ihres ungestörten Bestandes aber stellen sie durchaus nur den Nullpunct der Empfindung und keineswegs eine positive Erhebung über denselben dar, den Bauhorizont, auf dem erst die zu erwartenden Genüsse des Lebens errichtet werden sollen. Hiermit stimmt überein, dass der Bestand dieser Zustände so wenig ein Lust- als ein Unlustgefühl erweckt, da am Nullpuncte überhaupt nichts zu fühlen ist, dass aber jedes Herabsinken von diesem Bauhorizont in Krankheit, Alter, Unfreiheit und Noth schmerzlich empfunden wird. Diese Güter haben also in der That den rein privativen Charakter, den Leibniz dem Uebel zuschreiben wollte, sie sind die Privation von Alter, Krankheit, Knechtschaft und Noth, und sind ihrer Natur nach unfähig, sich über den Nullpunct der Empfindung nach der Seite der Lust zu erheben, also unfähig, eine Lust zu erzeugen, es sei denn durch Nachlassen einer vorangehenden Unlust, und sollte diese auch nur als Furcht oder Sorge in der Vorstellung bestehen. Bei der Gesundheit ist Alles dies ganz von selbst einleuchtend; Niemand fühlt ein Glied, als wenn er krank ist, nur der Nervenkranke fühlt, dass er Nerven, nur der Augenkranke, dass er Augen hat; der Gesunde aber nimmt nur durch Gesichts- und Tastsinn wahr, dass er einen Leib hat. Mit der Freiheit ist es ebenso. Niemand fühlt, wenn er selbst seine Handlungen bestimmt, denn dies ist der selbstverständliche natürliche Zustand; wohl aber empfindet er schmerzlich jeden Zwang von aussen, jeden Eingriff in seine Selbstbestimmung gleichsam als eine Verletzung des ersten und ursprünglichsten Naturrechtes, das er mit jedem Thiere, mit jeder Atomkraft theilt.

Die Jugend ist erstens das Lebensalter, in welchem allein eine vollkommene Gesundheit und ungehinderter Gebrauch des Körpers und Geistes gefunden wird, während mit dem Alter auch seine Gebrechen sich einstellen, welche schmerzlich genug empfunden werden. Zweitens aber besitzt allein die Jugend, was eigentlich schon[305] aus dem unbehinderten Gebrauch des Körpers und Geistes folgt, die volle Genussfähigkeit, während im Alter wohl alle Beschwerden, Unbequemlichkeiten, Verdruss, Widerwärtigkeiten und Plage sich doppelt fühlbar machen, die Fähigkeit zum Gemessen aber mehr und mehr abnimmt. Diese Genussfähigkeit hat aber doch auch nur den Werth des Bauhorizontes, sie ist nur Fähigkeit, d.h. Möglichkeit (nicht Wirklichkeit) des Genusses; was nützen einem z.B. die besten Zähne, wenn man nichts zu beissen hat!

Endlich kann auch die auskömmliche Existenz, oder das Gesichertsein vor Noth und Entbehrung nicht als ein positiver Gewinn oder Genuss angesehen werden, sondern nur als die conditio sine qua non des nackten Lebens, das erst seiner genussreichen Erfüllung harrt. Hunger, Durst, Frost, Hitze oder Nässe zu ertragen, ist schmerzlich; der Schutz vor diesen Uebeln durch nothdürftige Wohnung, Kleidung und Nahrung kann kein positives Gut heissen (der Genuss beim Essen gehört nicht in diese Betrachtung). Wäre nämlich das in seinen Existenzbedingungen gesicherte nackte Leben schon ein positives Gut, so müsste das blosse Dasein an sich selbst uns erfüllen und befriedigen. Das Gegentheil ist der Fall: das gesicherte Dasein ist eine Qual, wenn nicht eine Erfüllung desselben hinzukommt. Diese Qual, welche sich in der Langenweile ausspricht, kann so unerträglich werden, dass selbst Schmerzen und Uebel willkommen sind, um ihr zu entgehen.

Die gewöhnlichste Erfüllung des Lebens ist die Arbeit; es kann kein Zweifel obwalten, dass die Arbeit für den, der arbeiten muss, ein Uebel ist, mag sie auch in ihren Folgen für ihn selbst, wie für die Menschheit und den Fortschritt in ihrer Entwickelung noch so segensreich sein; denn Niemand arbeitet, der nicht muss, d.h. der nicht die Arbeit als das kleinere von zwei Uebeln auf sich nähme – sei nun das grössere Uebel die Noth, die Qual des Ehrgeizes oder auch bloss die Langeweile, – oder der nicht die Absicht hätte, durch Uebernahme dieses Uebels sich grössere positive Güter zu erkaufen (z.B. die Befriedigung über Verannehmlichung des Lebens für sich und seine Lieben oder über den Werth der vermittelst der Arbeit producirten Leistungen). Alles, was man über den Werth der Arbeit sagen kann, reducirt sich entweder auf volkswirthschaftlich günstige Folgen (wovon wir später handeln), oder auf die Vermeidung grösserer Uebel durch dieselbe (Müssiggang ist aller Laster Anfang), und das höchste was der Mensch erreichen kann, ist, »dass er fröhlich sei in seiner Arbeit, denn das ist sein[306] Theil«, d.h. dass er das Unabwendliche durch Gewohnheit so gut als möglich ertragen lerne, wie das Karrenpferd zuletzt auch den Karren mit leidlich guter Laune zieht. Ueber der Arbeit tröstet sich der Mensch mit der Aussicht auf die Müsse, und über die Müsse haben wir uns soeben durch den Gedanken an die Arbeit trösten müssen. So kommt das Wechselspiel von Müsse und Arbeit darauf heraus, dass der Kranke sich im Bette wendet, um aus seiner unbequemen Lage herauszukommen; bald findet er die neue Lage ebenso unbequem, und wendet sich wieder zurück.

In der Regel ist nun die Arbeit der Preis, um welchen die gesicherte Existenz erkauft wird. Nicht genug also, dass die gesicherte Existenz an sich kein positives Gut, sondern nur den Nullpunct der Empfindung repräsentirt, muss dieses rein privative Gut noch durch Unlust erkauft werden, im Gegensatz zu Gesundheit und Jugend, welche man nur geschenkt bekommt. Und wie gross ist häufig die Unlust, welche dem Armen durch die Arbeit auferlegt wird. Ich will nicht an die Sclavenarbeit erinnern, nur an die Fabrikarbeit unserer Grossstädte. »Im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei oder sonstige Fabrik, und von dem an erst zehn, dann zwölf, endlich vierzehn Stunden darin sitzen und dieselbe mechanische Arbeit verrichten, heisst das Vergnügen, Athem zu holen, theuer erkaufen.« (W. a. W. u. V. II. 661).

Nicht minder grosse Opfer, wie der Erwerb des Lebensunterhaltes, fordert das Erkämpfen einer relativen Freiheit, denn volle Freiheit erlangt man nie. Dafür haben aber die Sicherung der Existenz und der erreichbare Grad der Freiheit den Vortheil, dass man sie doch überhaupt durch eigene Kraft erobern kann, während man sich zu Jugend und Gesundheit ganz passiv empfangend verhält.

Hat man nun wirklich diese vier privativen Güter im Besitz, so sind die äusseren Bedingungen zur Zufriedenheit gegeben; tritt dann die erforderliche innere Bedingung, die Resignation, das sich Bescheiden bei dem Nothwendigen, hinzu, so wird in dem Betreffenden Zufriedenheit herrschen, so lange als keine erheblichen Unglücksfälle und Schmerzen ihn betreffen. Die Zufriedenheit verlangt kein positives Glück, sie ist gerade die Verzichtleistung auf solches, sie verlangt nur das Freisein von erheblichen Uebeln und Schmerzen, also ungefähr den Nullpunct der Empfindung, positive Güter und positives Glück können der Zufriedenheit nichts hinzufügen, wohl aber können sie dieselbe gefährden, denn je grösser die positiven Güter und das Glück, desto grösser[307] ist die Wahrscheinlichkeit, durch ihren Verlust grosse Schmerzen zu erleiden, welche die Zufriedenheit zeitweilig aufheben. Die Zufriedenheit kann also so wenig als ein Zeichen von positivem Glück betrachtet werden, dass vielmehr der Aermste und Bedürfnissloseste ihrer am leichtesten dauernd habhaft wird. Wenn trotzdem so vielfach die Zufriedenheit als ein Glück, ja als das höchste erreichbare Glück gepriesen wird (Aristot. Eth. Eud. VII. 2: hê eudaimonia tôn autarkôn esti, das Glück gehört den Selbstgenügsamen; Spinoza, Eth. Th. 4, Satz 52 Anm.: Zufriedenheit mit sich selbst ist wahrhaft das Höchste, was wir hoffen können), so kann dies nur dann richtig sein, wenn der Zustand der Schmerzlosigkeit und freiwilligen Resignation auf alles positive Glück vor dem seiner Natur nach dauerlosen Besitze positiven Glückes den Vorzug verdient. Ueberhaupt wenn, wie ich glaube, es berechtigt ist, Gesundheit, Jugend, Freiheit und sorgenfreies Dasein die höchsten Güter, und Zufriedenheit das höchste Glück zu nennen, so geht daraus von vornherein hervor, eine wie missliche Bewandtniss es mit allen positiven Gütern und positivem Glück haben müsse, dass man die privativen, d.h. in blosser Freiheit von Schmerz bestehenden, ihnen mit Recht voransetzen darf. Denn was bietet denn die Freiheit vom Schmerz? Doch nicht mehr als das Nichtsein! Wenn also mit den positiven Gütern und Glück noch ein Aber verknüpft ist, was sie im Ganzen noch unter die Zufriedenheit, d.h. noch unter den Nullpunct der Empfindung stellt, auf dem das Nichtsein permanent steht, so ist eben damit erklärt, dass sie auch unter dem Nichtsein stehen. Dem Nichtsein an Werth gleich stehen würde nur das absolut zufriedene Leben, wenn es ein solches gäbe; es giebt aber keines, denn auch der Zufriedenste ist nicht immer völlig und in jeder Hinsicht zufrieden, folglich steht alles Leben an Werth unter dem absolut Zufriedenen, folglich unter dem Nichtsein.A68

A68

S. 308 Z. 31. (Vgl. zu diesem Abschnitt Taubert's »Pessimismus« Nr. III, »Die privativen Güter und die Arbeit«, und Plümacher's Pessimismus S. 210-216.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 305-308.
Lizenz:
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