4. Mitleid, Freundschaft und Familienglück

[321] Das Mitleid, auf welchem nach Aristoteles hauptsächlich das Gefallen am Tragischen (vgl. meine »Aphorismen über das Drama«) und nach Schopenhauer alle Moralität beruhen soll, ist eine aus Unlust und Lust gemischte Empfindung, wie Jeder weiss. Der Grund der Unlust ist klar, es ist eben das Mit-Leiden mit sinnlich wahrnehmbarem fremden Schmerz, welches so stark werden kann, dass es keine Spur von Lust im Mitleide mehr aufkommen lässt, sondern es ganz in herzzerreissenden Jammer verwandelt, dessen Grauen zum Hinwegwenden antreibt. Man denke sich den Anblick eines Schlachtfeldes nach der Schlacht, oder einen Menschen, der in allgemeinen Krämpfen liegt.

Woher aber die gewöhnlich in mässigem Mitleid sich findende Lustempfindung stammt, ist schwerer zu begreifen. Von der durch etwaige Hülfeleistung bedingten Befriedigung ist natürlich hier nicht die Rede, denn diese liegt jenseits des Mitleides selbst. Die Schadenfreude der Bosheit ist die einzige Lustempfindung, welche der Anblick fremden Leides auf directe Weise zu erwecken im Stande ist; diese aber weiss Jeder von der milden Lust des Mitleides sehr wohl zu unterscheiden.

Ich sehe keine andere Möglichkeit, um die Lust im Mitleid zu begreifen, und habe auch noch nirgends den leisesten Versuch einer anderen Erklärung gefunden, als die, dass der Contrast des fremden Leides mit dem eigenen Freisein von diesem Leide den latenten Widerwillen gegen die Ertragung solchen Leides zugleich erregt, befriedigt und die Befriedigung zum Bewusstsein bringt. Dadurch wird, freilich die Lust des Mitleides für eine rein egoistische erklärt, indessen sehe ich nicht, inwiefern dies der Würde oder den[321] edlen Folgen des Mitleides Eintrag thun soll. Es stimmt damit völlig überein, dass für sehr feinfühlige, selbstverläugnende Gemüther das Mitleid eine höchst unangenehme Erregung ist, eine wahre Qual, der sie auf jede Weise aus dem Wege zu gehen suchen, während der Mensch sich mit um so grösserem Behagen an seinem Mitleid weidet, je roher er ist, und dass ferner das mit Ansehen eines sehr grossen Leides auch das rohere Gemüth soweit sich selbst über dem fremden Wohle vergessen lässt, dass dieselbe Wirkung entsteht, wie in zartfühlenderen Seelen auch bei kleinerem Leide, dass eben das Mitleid nur noch Unlustempfindung ist. Wenn der rohe Haufe sich an fremdem Leide weidet, so darf man nicht vergessen, dass derselbe auch Bestialität genug besitzt, um mit dem Mitleid mehr oder weniger die Wollust der Grausamkeit zu vereinigen, welche sich an der fremden Qual als solcher ergötzt; man darf also die rohe Masse nur mit Vorsicht zu der Entscheidung benutzen, ob in dem Mitleid als solchem die Lust oder Unlust überwiegt. Meinem subjectiven Urtheil nach ist entschieden das letztere der Fall; wie aber auch das Urtheil Anderer sich zu dem meinigen stellen möge, so ist das ausser Zweifel, dass die Gefühlsrohheit der Menschheit durchschnittlich mehr und mehr abnimmt, und dass mit abnehmender Gefühlsrohheit die Unlust im Mitleid über die Last mehr und mehr die Oberhand gewinnt.

Nun stellt sich aber das Verhältniss noch ungünstiger für die Lust, wenn wir die unmittelbaren Folgen des Mitleides in der Seele mit in Anschlag bringen. Das Mitleid erweckt nämlich sofort die Begierde, das fremde Leid zu stillen, und dies ist auch der Zweck dieses Instinctes. Diese Begierde findet aber nur in sehr seltenen Fällen eine partielle, noch seltener eine totale Befriedigung, sie wird also weit häufiger Unlust als Lust erwecken.

Wenn also auch dem Instincte des Mitleides als einem Correctiv und Limitiv des Egoismus und der aus letzterem entspringenden Ungerechtigkeit die Berechtigung des kleineren von zwei Uebeln nicht abgesprochen werden kann, so ist es doch an sich betrachtet immerhin ein Uebel, denn es bringt dem Mitleidigen mehr Unlust als Lust.

Vergl. Spinoza Eth. Th. 4. Satz 50: »Mitleiden ist bei einem Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an sich schlecht und unnütz. Beweis: Denn Mitleid ist (nach Def. 18) Unlust, also (nach Satz 48) an sich schlecht. Das Gute aber, das aus ihm folgt.... suchen wir nach dem blossen Gebote der Vernunft zu thun«; u.s.w.A71

Von der Geselligkeit und Freundschaft lässt sich nicht[322] dasselbe beweisen, obwohl es vielfach behauptet worden ist, und für eine gewisse Gemüthsart auch mit Recht. So sagt z.B. La Bruyère: »Tout notre mal vient de ne pouvoir être seuls« (Man vergleiche auch Schopenhauer, Parerga I. 444-458.)

Wohl aber wird sich das behaupten lassen, dass der Geselligkeitstrieb ein aus der Schwäche und Ohnmacht des Einzelnen entspringendes instinctives Bedürfniss ist, dessen Erfüllung den Menschen wie Gesundheit und Freiheit erst auf den Bauhorizont stellt, auf welchem Geselligkeitsfundamente er nun erst im Stande ist, sich gewisse positive Genüsse zu errichten, und dass nur ein geringer Theil der wahren Freundschaft, welche überdies, so selten ist, einen den Nullpunct der Empfindung positiv überragenden Werth repräsentirt.

Wie es in der Natur Herdenthiere giebt, so ist der Mensch ein geselliges Thier; ohnmächtig, schutzlos jeder Naturmacht und jedem Feinde preisgegeben, weist ihn sein Instinct auf Gemeinschaft mit seinesgleichen an. Hier ist es wirklich der gefühlte Mangel, der das Bedürfniss erzeugt, und die Lust dieser Geselligkeit ist nur die Aufhebung der Unlust jenes Mangels oder Bedürfnisses.

Ausser zur Abwehr der Noth und feindlicher Angriffe befähigt die gesellige Gemeinschaft zweitens auch mehr als die Einsamkeit zur Erzeugung positiver Leistungen, z.B. zur wirthschaftlichen Arbeit, volkswirthschaftlichen oder künstlerischen Production, zur geschlechtlichen Liebe, zur Vermehrung der Bildung oder Kenntniss durch Gedankenaustausch, zum Einsammeln von interessanten Neuigkeiten. Zu alle diesem befähigt die gesellige Gemeinschaft, aber sie bewirkt es nicht, sie ist eben nur der Bauhorizont, der sowohl unbenutzt bleiben, als in der verschiedensten Art und Weise benutzt werden kann. Sie ist also in diesem Puncte nur die Möglichkeit der Lust, aber nicht die Lust selbst; diese fällt vielmehr ganz in die auf diesem Bauhorizont zu errichtenden Gebäude, und muss bei diesen, nicht bei der Geselligkeit betrachtet werden, ja sogar die positive Lust, welche auf ihrem Grunde errichtet werden kann, lässt sich grossentheils in unveränderter oder wenig modificirter Weise auch in der Einsamkeit erlangen.

Dass dagegen die Geselligkeit durch die Rücksichten auf die Anderen und den Zwang, welche sie dem Einzelnen auferlegt, ganz reale Unbequemlichkeiten macht, und zeitweise mit verzweiflungsvoller Unlust erfüllen kann, beweisen unsere »Gesellschaften«.

Aus der geselligen Gemeinschaft entspringt ein grösseres gegenseitiges[323] Interesse, d.h. ein gesteigertes Mitgefühl. Würde in jedem Einzelnen die Summe der Lust die Summe der Unlust überwiegen, so würde auch in Bezug auf jeden Einzelnen die Summe der Mitfreude die Summe des Mitleides überwiegen können, wenn nicht die Schwächung der Mitfreude durch den Neid, welcher auch dem besten Freunde gegenüber unvermeidlich ist, dies verhinderte. Da aber im Leben des Einzelnen die Summe der Unlust die Summe der Lust überwiegt, so muss das Mitgefühl für denselben ebenfalls in überwiegender Unlust bestehen, und dies kann keinenfalls dadurch ausgeglichen werden, dass man des Mitgefühls für seine eigenen Leiden und Freuden im Freundesbusen gewiss ist. Freilich strebt man nach Trost, aber was kann es denn, wenn man es sich recht überlegt, für einen Trost gewähren, dass man mit seinen eigenen Unannehmlichkeiten und Plackereien auch noch dem Freunde die Laune verdirbt?

Gleichwohl ist das einsame Ertragen des Kummers oder Aergers so peinigend, dass man sich relativ glücklich fühlt, ihn einmal ausschütten zu können, wenn man auch dafür nun die Verdriesslichkeiten des Freundes vice versa über sich muss ausschütten lassen. Auch hier kommt es darauf heraus, dass die Steigerung des gegenseitigen Mitgefühles in der Freundschaft das kleinere Uebel von zweien ist, von welchen das andere nur um der eigenen Schwachheit willen als das grössere erscheint.

Wenn daher das so hoch gepriesene Glück der Freundschaft einer richtigen Schätzung unterworfen wird, so beruht dasselbe theils auf der menschlichen Schwachheit im Ertragen der Leiden, wie denn auch sehr starke Charaktere am wenigsten der Freundschaft bedürfen, theils aber auf Verfolgung eines gemeinsamen Zieles, mit einem Worte auf Gleichheit der Interessen, woher auch die scheinbar unzertrennlichsten Freundschaften sich lösen oder im Sande verrinnen, wenn in dem einen Theile die leitenden Interessen wechseln, so dass sie nunmehr mit denen des anderen auseinander gehen. Die durch die gemeinschaftlich verfolgten Interessen erlangte Lust kann aber auch nur auf Rechnung dieser Interessen, nicht unmittelbar auf die der Freundschaft gesetzt werden. Die festeste Gemeinsamkeit der Interessen besteht in der Ehe; die Gemeinschaft der Güter, des Erwerbes, des geschlechtlichen Verkehres und der Kindererziehung sind starke Bande, welche im Verein mit der polarischen Ergänzung der geistigen Eigenschaften beider Geschlechter wohl hinreichen, um eine starke und dauernde Freundschaft zu begründen, welche auch[324] ohne Zuhülfenahme der Liebe im engeren Sinne vollständig ausreicht, um die schönen und erhabenen Erscheinungen ehelicher Opferfreudigkeit zu erklären. Dazu kommt noch die gewaltige Macht der Gewohnheit. Wie der Hund die erhabenste und rührendste Freundschaft und Treue dem Herrn bewahrt, an welchen ihn nicht eigene Wahl, sondern Zufall und Gewohnheit geknüpft haben, so ist auch das Verhältniss der Gatten wesentlich ein Zusammenhängen aus Gewohnheit, weshalb auch die Conventions-Ehen und die aus Neigung nach einer Reihe von Jahren im Durchschnitt dieselbe Physiognomie zeigen.

Dühring, der in seinem »Werth des Lebens« der Liebe das Wort redet und behauptet, dass sie in der Ehe nicht verschwände, kommt S. 113-114 selbst zu folgendem Resultate: »Die Liebe der Gatten möchte daher in Mächtigkeit ihrer Wirkungen vielleicht nicht hinter der leidenschaftlichen Liebe zurückstehen. Die Empfindung ist gleichsam nur gebunden, tritt aber mit ihrer ganzen Kraft hervor, wenn es gilt, irgend einem feindlichen Schicksale zu begegnen. Die Kräfte, welche einst ein lebendiges Spiel der Empfindung unterhielten, halten nun in dem gereiften Verhältnisse einander die Wage, um bei jeder Störung des Gleichgewichtes wieder für die Empfindung merklich zu werden.« Wenn die Empfindung gebunden ist, so existirt sie eben nicht für's Bewusstsein, und wenn sie bloss bei einer Störung in's Bewusstsein tritt, so wird sie nur als Unlust empfunden, spricht also in beiden Fällen nicht für den Werth des Lebens, worauf es hier doch bloss ankommt; die Grösse der Wirkungen aber lässt sich aus der Freundschaft und Anhänglichkeit aus Gewohnheit ebensowohl begreifen.

Bei alledem giebt es so viel Unfrieden und Verdruss in den meisten Ehen, dass, wenn man mit unbefangenem Blicke hineinschaut und sich nicht durch die eitle Verstellung der Menschen täuschen lässt, man unter Hunderten kaum Eine findet, die man beneiden möchte. Es liegt dies eben an der Unklugheit der Menschen, die sich im Kleinen ihren gegenseitigen Schwächen nicht zu accommodiren verstehen, an der Zufälligkeit, mit der die Charaktere sich zur Ehe zusammenfinden, an dem gegenseitigen Pochen auf Rechte, wo nur die Nachsicht und Freundschaft die Vermittelung findet, an der Bequemlichkeit, allen Unmuth, Verdruss und üble Laune an der nächststehenden Person auszulassen, die Einem stillhalten muss, an der gegenseitigen Gereiztheit und Verbitterung, die durch jeden neuen Fall einer vermeintlichen Rechtsverletzung gesteigert[325] wird, an dem leidigen Bewusstsein des Aneinandergekettetseins, dessen Fehlen eine Menge von Rücksichtslosigkeiten und Disharmonien im Entstehen durch Furcht vor den Folgen verhindern würde. So kommt es zu jenem ehelichen Kreuz, welches so wenig als Ausnahme betrachtet werden darf, dass Lessing nicht so Unrecht hat, wenn er sagt:


»Ein einzig böses Weib giebt's höchstens in der Welt,

Nur schade, dass ein Jeder es für das seine hält.«


Dies widerspricht durchaus nicht der Thatsache, dass die Macht der Gewohnheit sofort ihr Recht behauptet und sich auf's Heftigste widersetzt, wenn von Aussen eine Störung oder Trennung der Ehe droht. In beiden Fällen ist es immer nur die schmerzliche Seite des Verhältnisses, welche sich in's Bewusstsein drängt. Die Zerreissung der schlechtesten Ehe, die den Betheiligten eine wahre Hölle bereitete, macht dem Ueberlebenden immer noch so grossen Schmerz, dass ich von einem erfahrenen Manne sagen hörte, wenn einmal eine Ehe zerrissen werden solle, dann je früher, je besser; je länger und enger die Gewohnheit, desto unverwindbarer werde die Trennung. Man braucht aus diesem gewiss richtigen Urtheile nur die letzte Consequenz zu ziehen, so ist die Trennung am vortheilhaftesten vor der Verbindung.

Verständige Leute, deren Urtheil nicht vom Triebe befangen ist, sind sich auch gewöhnlich ganz klar darüber, dass vom rationellen Standpuncte des individuellen Wohlseins Nichtheirathen besser als Heirathen ist. Wenn keine Liebe und keine äusseren Zwecke (Rang, Reichthum) zur Eheschliessung antreiben, so giebt es in der That auch nur noch den Einen Grund, die Ehe als das vermeintlich kleinere von zwei Uebeln zu wählen, also für ein Mädchen, um den Schrecken des Altjungfernthums, für einen Mann, um den Unbequemlichkeiten des Junggesellenlebens, für Beide, um den Qualen des unbefriedigten Instinctes, beziehungsweise den Folgen einer ausserehelichen Befriedigung, zu entgehen.

In der Regel machen sie aber die Erfahrung, dass sie sich über das grössere der beiden Uebel bitter getäuscht haben, und nur Scham und rücksichtsvolles Zartgefühl verbietet ihnen, dies zu gestehen. Wie unbehaglich allerdings auch der unbefriedigte Instinct, einen Hausstand und Familie zu gründen, für ältere Junggesellen und Jungfern werden kann, ist schon Cap. B. I. erwähnt. –

Sind nun die Leute verheirathet, so sehnen sie sich nach Kindern, – wieder ein Instinct, denn der Verstand kann sich kaum[326] danach sehnen. Der Instinct geht so weit, in Ermangelung eigener, fremde Kinder anzunehmen und wie eigene zu erziehen.

Dass auch letzteres keine That aus Ueberlegung ist, sieht man schon aus den Instincten der Affen, Katzen und vieler anderen Säugethiere und Vögel, die ganz ebenso verfahren. Ausserdem wird bei diesem Thun aber auch ein schon existirendes Kind genommen, und nur in eine bessere Lebenslage versetzt, als ihm sonst beschieden gewesen wäre. Anders aber, wenn es sich darum handelt, ein noch erst zu schaffendes, meinetwegen in der Retorte auf chemischem Wege zu fabricirendes Kind statt des fehlenden eigenen anzunehmen.

»Man denke sich einmal,« sagt Schopenhauer (Parerga II. S. 321-322), »dass der Zeugungsact weder ein Bedürfniss, noch von Wollust begleitet, sondern eine Sache der reinen vernünftigen Ueberlegung wäre: könnte wohl dann das Menschengeschlecht noch bestehen? Würde nicht vielmehr Jeder so viel Mitleid mit der kommenden Generation gehabt haben, dass er ihr die Last des Daseins lieber erspart oder wenigstens es (die Verantwortlichkeit) nicht hätte auf sich nehmen mögen, sie kaltblütig ihr aufzulegen?«

Ausser dem unmittelbaren Instincte, Kinder aufziehen zu wollen, hat der Wunsch nach Kindern bei solchen Leuten, deren Leben in Mehrung der Wohlhabenheit oder des Reichthumes besteht, noch einen anderen Grund. Diese fangen nämlich in einem gewissen Lebensalter an zu merken, dass sie selbst von dem Ueberschusse des Reichthumes doch keinen Genuss haben; wenn sie aber demgemäss auf weiteren Erwerb verzichten wollten, so wäre ihre Lebensader unterbunden und sie fielen der ödesten Leere des Daseins und der Langeweile anheim.

Um diesem Uebel zu entgehen, wünschen sie sich das kleinere Uebel, Besitz von Kindern, um an dem auf diese ausgedehnten Egoismus ein Motiv zum Fortsetzen der Erwerbsthätigkeit zu haben.

Vergleicht man aber in objectiver Weise die Freuden einerseits und den Kummer, Aerger, Verdruss und Sorgen andererseits, welche Kinder den Eltern bringen, so dürfte das Ueberwiegen der Unlust wohl kaum zweifelhaft sein, wenn auch das vom Instinct beeinflusste Urtheil sich dagegen sträubt, besonders bei Frauen, bei welchen der Instinct zum Kinderaufziehen viel stärker ist.

Man vergleiche vorerst die Summe der Freude, welche durch die Geburt, und die Summe des Schmerzes und Kummers, welche durch den Tod eines Kindes in den Gemüthern sämmtlicher Betheiligten[327] hervorgerufen wird. Erst nach Anrechnung des hierbei sich ergebenden Schmerzüberschusses kann man an die Betrachtung ihres Lebens selbst gehen. Dazu empfehle ich das Capitel »Mütterwahnsinn« aus Bogumil Goltz: »zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen.«

In der ersten Zeit überwiegt die sehr beträchtliche Unbequemlichkeit und Schererei der Pflege, beziehungsweise der Aerger mit sorglosen Dienstboten, alsdann der Verdruss mit den Nachbarn und die Sorge um Krankheiten, dann die Sorge, die Töchter zu verheirathen und der Kummer über die dummen Streiche und Schulden der Söhne; zu alledem kommt die Sorge der Aufbringung der nöthigen Mittel, die bei armen Leuten in der ersten, bei gebildeten Classen in den späteren Zeiten am grössten ist. Und bei aller Arbeit und Mühe, allem Kummer und Sorge und der steten Angst, sie zu verlieren, was ist das reelle Glück, das die Kinder dem bereiten, der sie hat? Abgesehen von dem Zeitvertreib, den sie als Spielzeug gewähren, und von der gelegentlichen Befriedigung der Eitelkeit, durch die heuchlerische Schmeichelei der gefälligen Frau Nachbarin, – die Hoffnung, nichts als die Hoffnung auf die Zukunft.

Und wenn die Zeit kommt, diese Hoffnungen zu erfüllen, und die Kinder nicht vorher gestorben und verdorben sind, verlassen sie das elterliche Haus, gehen ihren eigenen Weg, meist in die weite Welt hinaus, und schreiben sogar am häufigsten nur dann, wenn sie Geld brauchen. Soweit also jene Hoffnung egoistisch ist, trügt sie immer, soweit sie aber bloss für das Kind, nicht auf das Kind hofft, wie da?

Von Allem kommen, wie wir sehen werden, die Menschen im Alter zurück, nur von der Einen Illusion des einzigen ihnen gebliebenen Instinctes nicht, dass sie auf dasselbe erbärmliche Dasein, dessen Eitelkeit sie an sich selbst in jeder Beziehung erkannt haben, für ihre Kinder ihre Hoffnungen bauen. Wenn sie alt genug werden, so dass sie auch ihre Kinder alte Leute werden sehen, kommen sie freilich auch davon zurück, doch dann fangen sie bei den Enkeln und Urenkeln von vorne an; – der Mensch lernt nie aus.A72

A71

S. 322 Z. 2 V. U. (Vgl. Taubert's »Pessimismus« Nr. V »Das Mitleid«.)

A72

S. 328 Z. 5 V. U. So erscheint uns der Trieb zur Eheschliessung und Familiengründung und der Wunsch, Kinder zu besitzen und zu erziehen, gleichfalls nur als eine Anzahl von zusammengehörigen Instincten, die den Egoismus mit den ihm vorgespiegelten Erwartungen arg zum Besten haben, aber für die Erhaltung des Weltgetriebes und den Fortschritt des Weltprocesses von höchster Wichtigkeit sind. Wie die Liebe den Zweck hat, eine möglichst tüchtige folgende Generation hervorzubringen, so dient der Instinct der Eheschliessung und Familiengründung dazu, die so hervorgebrachte Generation zu einer möglichst tüchtigen zu erziehen. So lange es eine unumstössliche Wahrheit ist, dass keine Findelhauspflege und Waisenhauserziehung die Muttersorgsamkeit und Familienerziehung ersetzen kann, so lange werden alle gegen den Bestand der Ehe und Familie gerichteten Umsturzpläne an der unbewussten Vernunft der Geschichte machtlos zerschellen (vgl. »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. S. 546-562); denn wie sehr sie auch demonstriren mögen, dass (was keinem Zweifel unterliegt) die Ehe die grössten Unannehmlichkeiten mit sich führt und dass (was sehr zweifelhaft ist) die Leute nach Aufhebung dieser socialen Einrichtung besser daran sein würden, so gewiss kommt das Behagen der Gatten bei der Frage nach dem Werth der Ehe nur in ganz nebensächlicher Weise in Betracht, da die Familie in erster Reihe nicht um der Gatten, sondern um der Kinder willen da ist. Darum liegt auch in dem subjectiv so unvernünftigen Glauben der Liebenden an die Unvergänglichkeit ihrer Liebe eine so tiefe objective Vernunft verborgen; es ist diese Illusion nur der Köder, der den Egoismus zu dem Opfer an Freiheit bringen soll, dass er sich das rechtliche Band einer dauernden socialen Gemeinschaft auferlegt, wozu er sich ohne diese Illusion zum Mindesten weit schwerer verstehen würde.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 321-328.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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Philosophie des Unbewussten: 2
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