7. Unsittlichkeit

[337] Das unsittliche Handeln oder Unrechtthun geht aus dem mit der Individuation als unausbleibliche Folge gesetzten Egoismus hervor, und besteht ursprünglich darin, dass ich, um mir einen Genuss zu verschaffen oder einen Schmerz zu ersparen, kurz zur Befriedigung meines individuellen Willens, einem oder mehreren anderen Individuen einen grösseren Schmerz anthue. Alle anderen Formen des Unrechtthuns sind erst aus dieser ursprünglichen abgeleitet. Es ist also klar, dass das Wesen des Unrechtes oder Unsittlichen darin besteht, das ohnedies in der Welt bestehende Verhältniss von Lust und Unlust zu Ungunsten der Lust zu verändern, da eben der Schmerz des Unrechtleidenden grösser ist, als die Lust (oder der ersparte Schmerz) des Unrechtthuenden. Hieraus folgt: je grösser die Unsittlichkeit, desto grösser das Leiden der Welt. (Den Begriff der Gerechtigkeit auf dieses Verhältniss anzuwenden, ist, wie schon oben gezeigt, ganz unstatthaft.) Gesetzt also, das Verhältniss von Lust und Unlust wäre ein völlig gleichschwebendes in der Welt (welcher Fall freilich, als einer unter unendlich vielen möglichen Verhältnissen a priori eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit hat) so würde die Existenz der Unsittlichkeit sofort der Unlust das Uebergewicht zuführen. In einer an sich schon elenden Welt aber wird sie das Maass des Elends zum Ueberlaufen bringen, um so mehr, als den Menschen kein vom Schicksal auferlegtes Leid so bitter schmerzt, als das, welches seine Mitmenschen ihm zugefügt haben. Auch in Bezug auf die Schlechtigkeit, Nichtswürdigkeit, Bosheit und Gemeinheit der Menschen ergeht sich Schopenhauer in lebhaften Schilderungen, welche kaum übertrieben genannt werden dürften, und deren Wiederholung ich mich hier überhebe. Nur Eines will ich hier noch hinzufügen, nämlich, dass der Unverstand der Menschen gar oft dieselbe Wirkung hervorbringt, wie die Bosheit, indem er die Menschen der Umgebung oft auf das Bitterste quält, ohne auch[337] nur einen Nutzen oder Genuss davon zu haben, wie doch die Bosheit offenbar hat.

Wenn aber das Unrechtthun das Leid der Welt vermehrt, so ist im Gegentheil das Rechtthun keineswegs im Stande, dasselbe zu vermindern, denn es ist ja nichts Anderes als die Aufrechterhaltung des status quo vor dem ersten Unrecht, also kein positives Hinausgehen über den Bauhorizont; Niemand, dem sein klares Recht geschieht, wird darüber eine Freude haben, es sei denn, dass ihm die Furcht vor dem Unrecht benommen ist; derjenige aber, der dem Anderen sein Recht widerfahren lässt, hat doch erst recht keinen Grund zur Lust, denn er hat damit seinem individuellen Willen Abbruch gethan und doch nicht mehr als seine Schuldigkeit gethan. Eine wahre Freude kann erst die Ausübung der positiven Sittlichkeit, der werkthätigen Nächstenliebe gewähren, doch wird sie beim Ausübenden immer mit der Unlust des Opfers, beim Empfänger mit der Unlust der Beschämung über die empfangene Wohlthat verbunden sein. Diese Erhöhung der Lust der Welt durch thätige Nächstenliebe kommt gegen die Masse Unsittlichkeit gar nicht in Betracht. Jedenfalls ist auch die positive Sittlichkeit der werkthätigen Nächstenliebe nur als ein nothwendiges Uebel zu betrachten, welches dazu dienen soll, ein grösseres zu mildern. Es ist weit schlimmer, dass es Almosenempfänger giebt, als es gut ist, dass es Almosengeber giebt, und nur der Talmud findet Noth und Armuth in der Ordnung, damit die Reichen Gelegenheit haben, Liebeswerke zu üben. Jenem Verhältniss entsprechend lindern alle Liebeswerke nur die aus der menschlichen Bedürftigkeit entspringenden grösseren oder kleineren Leiden. Wäre der Mensch leidenfrei, selbstgenügsam und bedürfnisslos wie ein Gott, was brauchte er der Liebeswerke?A74

A74

S. 338 Z. 28. (Vgl. hierzu: »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. 672-674; »Phil. Fragen der Gegenwart« Nr. V 3; »Der Pessimismus und die Ethik« S. 102-120; Plümacher's »Pessimismus« Cap. VII »Die Bekämpfung des Pessimismus vom Standpunkt des ethischen Optimismus« S. 237-290; Taubert's »Pessimismus« Nr. VII »Die Glückseligkeit als Tugend«.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 337-338.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3