8. Wissenschaftlicher und Kunst-Genuss

[338] Wie dem ermüdeten Wanderer, wenn er nach langem Pilgern in der Wüste endlich eine Oase trifft, so ist uns jetzt zu Muthe, wo wir auf Kunst und Wissenschaft treffen, – endlich ein freundlicher Sonnenblick in der Nacht des Ringens und Leidens. Wenn Schopenhauer selbst in der Parergis (2. Aufl. II., 448) darauf beharrte, dass der Gemüthszustand beim künstlerischen oder wissenschaftlichen Empfangen oder Produciren blosse Schmerzlosigkeit sei, so sollte man glauben, dass er nie den Zustand der Ekstase oder Verzückung kennen gelernt habe, in den man über ein Kunstwerk oder eine neu sich aufthuende Sphäre der Wissenschaft gerathen kann. Wenn er[338] aber die Positivität eines solchen Zustandes des höchsten Genusses eingesehen hätte, so hätte er nicht mehr behaupten können, es dabei mit einem willensfreien und interesselosen Zustand zu thun zu haben, sondern er hätte eingesehen, dass es der Zustand höchster und vollkommener positiver Befriedigung sei, – und Befriedigung wessen, wenn nicht eines Willens? Freilich nicht des gemeinen practischen Interesses oder Willens, sondern des Strebens nach Erkenntniss, respective nach jener Harmonie, nach jener unbewussten Logik unter der Hülle der sinnlichen Form, kurz nach jenem Etwas, worin die Schönheit besteht, gleich viel nun, worin sie besteht Jenes ekstatische Entzücken (z.B. über eine Musikaufführung, über ein Bild, eine Dichtung, eine philosophische Abhandlung) ist freilich etwas sehr Seltenes; schon die Fähigkeit dazu ist nur begnadigten Naturen verliehen, und auch diese werden sich nicht allzuvieler solcher Momente in ihrem Leben zu rühmen haben. Es ist dies gleichsam eine Entschädigung, welche solchen sensiblen Wesen zu Theil wird, für die Schmerzen des Lebens, welche sie viel stärker als andere Menschen empfinden müssen, denen ihre Stumpfheit Vieles erleichtert.

Ob letztere dabei nicht doch im Ganzen besser fahren, ist kaum fraglich. Denn da die Unlust im Leben so sehr überwiegt, so dürfte ein stumpferes Gefühl für dieselbe mit der Entbehrung einer nicht einmal vermissten, wenn auch noch so hohen, doch immer auf wenige Lebensmomente beschränkten Lust nicht zu hoch bezahlt sein. Dies wird dadurch bestätigt, dass die Menschen durchschnittlich um so geringer über den Werth des Lebens denken, je feinfühliger und geistig hochstehender sie sind. Was für den extremen Fall gilt, gilt aber eben so gut für die Mittelstufen, welche den Zwischenraum von der Fähigkeit für die höchste Ekstase bis zur Unempfindlichkeit gegen all' und jede Kunst ausfüllen. Daraus, dass Jemand gegen diese oder jene Kunst gleichgültig ist, kann man freilich noch nicht auf die Stumpfheit seiner Empfindung überhaupt schliessen, wohl aber, wenn Jemand gegen die Kunst überhaupt gleichgültig ist.

Nun frage man sich, wie viel Procent der Erdenbewohner überhaupt in einem nennenswerthen Grade für künstlerischen und wissenschaftlichen Genuss empfänglich sind, und man wird die Bedeutung von Kunst und Wissenschaft für das Glück der Welt im Allgemeinen schon nicht mehr zu hoch anschlagen. Man erwäge ferner, wie wenig Procent von den Empfänglichen wiederum im Stande sind, sich den. Genuss des Selbstschaffens, der künstlerischen oder wissenschaftlichen[339] Production, welcher doch erheblich über dem des Empfangens steht, zu verschaffen.

Bei dem Ermessen der Empfänglichkeit des gemeinen Volkes vergesse man aber auch nicht, die nicht auf der Kunst selbst beruhenden Gründe des Interesses auszusondern, so z.B. die Neugier oder die Lust am Entsetzlichen oder Graulichen beim Interesse für Volkssänger oder Volkserzähler, die Lust am Tanzen beim Interesse für Volksmusik, die Rücksicht auf practischen Nutzen beim Interesse für wissenschaftliche Mittheilungen u.s.w. Unter den Gebildeten aber affectiren Viele ein Interesse und mithin eine Genussfähigkeit in Bezug auf Kunst und Wissenschaft, welche sie gar nicht besitzen. Man denke nur, wie Viele durch die Aussichten der Carriere, die ihnen vielleicht ihrer Freiheit wegen besser gefällt, sich verlocken lassen, Gelehrte oder Künstler zu werden, ohne einen eigentlichen Beruf dazu zu haben. Wollte man die Unberufenen und Talentlosen alle ausmerzen, die Reihen der Gelehrten und Künstler würden gewaltig zusammenschmelzen. Zur Gelehrtenlaufbahn verlocken mehr die Aussichten der künftigen Stellung und die Erleichterungen beim Eintritt in die Carriere (Stipendien u.s.w.), zur Künstlerlaufbahn mehr die Ungebundenheit des Berufes, und die Beschaffenheit der Arbeit, welche mehr als heiteres Spiel erscheint, oft aber auch die blosse Hoffnung auf Erwerb; man denke an die unglücklichen Mädchen, welche sich zu Musiklehrerinnen ausbilden. Ferner bringe man in Abrechnung Alles, was nicht durch lautere Liebe zur Kunst und Wissenschaft, sondern durch Ehrgeiz und Eitelkeit bewirkt wird. Man gebe einmal einem Künstler oder Gelehrten die Gewissheit, dass nie Jemand seinen Namen zu seinen Werken erfährt, – obwohl hierdurch der Ehrgeiz noch keineswegs ganz beseitigt ist, da ja doch der Name des Menschen etwas Zufälliges und Gleichgültiges, zumal für die Zukunft, ist, – so wird dennoch dem Betreffenden mehr als die Hälfte der Lust zu seinen Leistungen benommen sein. Gäbe es aber ein Mittel, allen Künstlern und Gelehrten wirklich allen Ehrgeiz und Eitelkeit gleichzeitig zu benehmen, so würde gewiss die Production ziemlich stillstehen, wenn sie nicht noch um des Broderwerbs willen mechanisch weiter gehen müsste.

Aber nun gar die Schaar der Dilettanten! Wie wenig Sinn und Liebe für die Sache, wie erschreckend der Mangel alles Verständnisses, wie so ganz abhängig von gemachter Mode und prunkendem Schein, – und doch dieser dilettantische Andrang zu den Künsten und Wissenschaften! Das Räthsel löst sich so: nicht um ihrer selbst[340] willen werden die Künste gesucht, sondern als bunter Flittertand, um seine liebe Person damit auszuputzen. Die ebenso unverständigen Beurtheiler sind über den Putz entzückt, wenn ihnen die Person gefällt und verachten ihn, wenn sie keinen sonstigen Grund haben, der Person zu schmeicheln; sie verachten dann die dilettantische Leistung um so tiefer, je mehr inneren Werth sie hat, weil sie gleichsam die freche Anmassung einer Sache, sich um ihres eigenen Werthes willen darzulegen, mit gebührender Entrüstung zurückweisen zu müssen glauben. Natürlich kommt es unter solchen Umständen nur auf schillernden Schein nach möglichst vielen Richtungen an, um jeden Dummkopf auf die ihm zugänglichste Weise zu blenden.

Dies das Princip der modernen Erziehung, besonders der Mädchen: ein Paar Salonpiecen für Clavier, einige Lieder, ein wenig Baumschlag-Zeichnen und Blumen-Malen, einige neuere Sprachen plappern und die literarischen Sudeleien des Tages lesen, dann sind sie vollkommen. Was ist das Anderes als systematischer Unterricht in der Eitelkeit nach allen Bedeutungen des Wortes? Und bei diesem Gaukelspiel sollte man an künstlerischen Genuss glauben? An künstlerischen Ekel höchstens, der sich auch sofort nach der Hochzeit offenbart, wenn die Eitelkeit nicht länger die Bequemlichkeit überwindet. Mit den Knaben geht es nicht viel besser, auch sie müssen um der Eitelkeit der Eltern willen dilettiren. Und dazu nun in der Musik als Universalmittel das unglückliche, encyclopädische, seelenlose Clavier! In der Wissenschaft muss ebenfalls Ehrgeiz und Eitelkeit aushelfen. Nur die ehrgeizigen Knaben sind im Stande gern zur Schule zu gehen; ohne Ehrgeiz ist das Lernen bei unseren Hauptgegenständen und unserer Art des Schulunterrichtes ohne die höchste Verdrossenheit kaum denkbar.

Dazu kommt noch, dass in der Wissenschaft, ganz anders als bei der Kunst, der receptive Genuss vor dem productiven fast verschwindet, weil die heisse Sehnsucht nach derjenigen Erkenntniss fehlt, von deren sicherer und leichter Erlangung man im Voraus überzeugt ist. Wer ist heute noch im Stande, an der Erkenntniss der Photographie oder elektrischen Telegraphie einen nur annähernd so grossen Genuss zu haben, als die Erfinder, oder selbst die, welche zur Zeit der Erfindung jeden neuen Fortschritt mit Begierde erwarteten?

Bringen wir nun alle Empfänglichkeit und Genüsse in Bezug auf Kunst und Wissenschaft in Abzug, welche auf blossem Schein, auf Affectation beruhen, sei es nun, dass sie aus Ehrgeiz und Eitelkeit[341] oder um des Gewinnes willen, oder weil man aus anderweitigen Gründen einmal eine solche Carriere eingeschlagen hat, affectirt werden, so wird von dem scheinbar in der Welt existirenden Kunst- und Wissenschaftsgenuss ein sehr erheblicher, ich glaube, der bei weitem grössere Theil wegfallen. Der übrig bleibende Theil aber existirt auch nicht, ohne durch eine gewisse Unlust erkauft zu werden, wenn ich auch keineswegs bestreiten will, dass die Lust des Geniessens überwiegt. Bei der Lust des Producirens ist dies am deutlichsten; bekanntlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und das Studium, welches erforderlich ist, ehe man zu einem lohnenden Produciren reif ist, ist unbequem und mühsam und gewährt meistens wenig Freude, es sei denn an überwundenen Schwierigkeiten und in Hoffnung auf die Zukunft. In jeder Kunst muss die Technik überwunden werden, und in der Wissenschaft muss man erst auf die Höhe der eingeschlagenen Richtung gelangen, wenn nicht das Producirte hinter schon Vorhandenem zurückstehen soll. Was muss man nicht für langweilige Bücher lesen, nur um sich gewissenhaft zu überzeugen, dass nichts Brauchbares darin steht, und andere wieder, um aus einem Haufen Sand ein Körnchen Gold herauszusuchen? Wahrlich, das sind keine kleinen Opfer! Ist man dann endlich mit den Vorbereitungen und Vorstudien so weit gekommen, um zu produciren, so sind die eigentlich süssen Augenblicke doch nur die der Conception, ihnen folgen aber lange Zeiträume der mechanisch-technischen Ausarbeitung. Und nicht immer ist man zum Produciren aufgelegt; wäre nicht der dringende Wunsch da, das Werk in bestimmter, nicht zu langer Frist zu vollenden, stachelte nicht der Ehrgeiz oder die Ruhmsucht, trieben nicht äussere Verhältnisse zur Vollendung an, stände nicht endlich das gähnende Gespenst der Langenweile hinter der Faulheit, so würde sehr häufig die von der Production zu erwartende Lust die Bequemlichkeit nicht besiegen, ja trotz alledem mag man oft genug an dem so theueren Werke zeitweilig nicht weiter arbeiten.

Dem Musiker und wissenschaftlichen Lehrer wird ausserdem sein Beruf durch die gezwungene handwerksmässig gleichförmige Ausübung leicht verleidet. Der Dilettant ist mit seinem Produciren noch schlimmer daran; er ist mit seinem Geschmacksurtheil und Verständniss meist seiner Leistungsfähigkeit voraus, und darum befriedigen ihn seine Leistungen nicht, er wäre denn sehr eitel und eingebildet. – Relativ kleiner sind die den receptiven Genuss begleitenden Unlustempfindungen. Bei der Wissenschaft sind sie indessen[342] noch grösser als bei der Kunst, z.B. ein streng wissenschaftliches Buch zu lesen, ist an sich schon eine Arbeit, welcher sich zu unterziehen immerhin einige Ueberwindung kostet, eine Ueberwindung, zu der es die meisten Leute bloss um des zu erwartenden Genusses willen niemals bringen würden.

Am mühelosesten ist der receptive Kunstgenuss, und ich dürfte fast kleinlich erscheinen, wenn ich die damit verknüpften Unannehmlichkeiten anführe; dennoch sind sie wichtig, da sie bei wachsender Bequemlichkeitsliebe (z.B. im Alter) factisch die meisten bloss receptiv geniessenden Menschen vom Kunstgenuss abzuhalten im Stande sind. Es sind dies das Besuchen der Galerien, die Hitze und Engigkeit der Theater und Concertsäle, die Gefahr, sich zu erkälten, die Ermüdung vom Sehen und Hören, die sich besonders darum so geltend macht, weil man sich beim Galerienbesuch für seinen Gang, beim Concertbesuch für sein Entrée bezahlt machen will, während man an der Hälfte vollständig genug hätte; vom Geniessen dilettantischer Leistungen und der nachherigen Verpflichtung der Complimente will ich lieber ganz schweigen, da meine Leser doch auch Dilettanten sein könnten.

Das Resultat ist also das, dass von den wenigen Bewohnern der Erde, welche zum wissenschaftlichen oder Kunstgenusse berufen scheinen, noch weit weniger dazu berufen sind, und die meisten den Beruf dazu aus Ehrgeiz, Eitelkeit, Erwerbstrieb oder anderen Gründen affectiren, dass diejenigen, welchen wirklich solche Genüsse zu Theil werden, sie noch mit allerlei kleineren oder grösseren Opfern an Unlust bezahlen müssen, dass also in Summa der Ueberschuss an Lust, welcher durch Wissenschaft und Kunst als solche in der Welt erzeugt wird, verschwindend klein ist gegen die Summe des sonst vorhandenen Elendes, und dass dieser Lustüberschuss noch dazu auf solche Individuen vertheilt ist, welche die Unlust des Daseins stärker als andere, um so viel stärker als andere fühlen, dass ihnen hierfür durch jene Lust bei weitem kein Ersatz wird. Endlich kommt noch dazu, dass, diese Art des Genusses mehr als jeder andere geistige Genuss auf die Gegenwart beschränkt ist, während andere meist in der Hoffnung vorweg genossen werden. Dies hängt mit der weiter oben besprochenen Eigenthümlichkeit zusammen, dass dieselbe Sinneswahrnehmung, welche die Befriedigung gewährt, auch den Willen, welcher befriedigt wird, erst hervorruft.A75[343]

A75

S. 243 letzte Z. (Vgl. hierzu Taubert's »Pessimismus« Nr. VII »Die Glückseligkeit als ästhetische Weltanschauung« und Nr. VI »Der Naturgenuss«.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 338-344.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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