Zweites Stadium der Illusion.
Das Glück wird als ein dem Individuum in einem transcendenten Leben nach dem Tode erreichbares gedacht

[355] In diesen äussersten Lebensekel der alten Welt schlägt der zündende Blitz der christlichen Idee. Der Stifter des Christenthums adoptirt vollständig die Verachtung und den Ueberdruss am irdischen Leben, und führt sie bis zu ihren letzten abstossendsten Consequenzen durch (vgl. F. A. Müller, Briefe über die christliche Religion, Stuttgart, Kötzle 1870).

Nur denen, die das Elend des Daseins fühlen, den Sündern, Verworfenen (Samaritern und Zöllnern), Unterdrückten (Sclaven und Frauen), Armen, Kranken und Leidenden, nicht aber denen, welche im irdischen Leben sich wohl und behaglich fühlen, bringt er sein Evangelium (Math. 11, 5; Luc. 6, 20-23; Math. 19, 23-24; Math. 11, 28). Er perhorrescirt alles Natürliche, nicht einmal Naturgesetze erkennt er an (Math. 17, 20), er spricht geringschätzig über die Familienbande (Math. 10, 35-37; Math. 19, 29; Math. 12, 47-50), er verlangt geschlechtliche Enthaltsamkeit (Math. 19, 11-12), er verachtet die Welt und ihre Güter (Luc. 12, 15; Math. 6, 25-34; 1. Joh. 2, 15-16; Luc. 16, 15); erklärt es für unmöglich, zugleich irdisches und himmlisches Glück zu erlangen (Math. 6, 19-21 u. 24; Joh. 12, 25; Math. 19, 23-24) und fordert darum freiwillige Armuth (Math. 19, 21-22; Luc. 12, 33; Math. 6, 25 und 31-33). Nirgends und in keiner Beziehung schreibt Christus Askese vor, wohl aber freiwillige Beschränkung und möglichste Bedürfnisslosigkeit, woraus erhellt, dass er mit der Menge der Bedürfnisse und Begehrungen die Unlust als wachsend annimmt. Er hält seine Zeit für so verderbt (Math. 23, 27; Math. 16, 2-3), dass der Tag des Gerichtes nahe vor der Thür sein muss (Math. 24, 33-34), und die Quintessenz[355] seiner Lehre ist, dieses Leben der Qual im irdischen Jammerthale als sein Kreuz geduldig zu tragen (Math. 10, 38) und ihm nachzufolgen in würdiger Vorbereitung und froher Hoffnung auf die Glückseligkeit eines künftigen ewigen Lebens (Math. 10, 38, 39): »Dieses habe ich Euch gesagt, damit Ihr in mir den Frieden habet. In der Welt werdet ihr Drangsal leiden; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« (Joh. 16, 33.)

Dies ist der Grundunterschied von älterem Judenthum und Christenthum; die Verheissungen des ersteren gehen auf das Diesseits (»dass dir's wohl gehe und du lange lebest auf Erden«), die des letzteren auf das Jenseits, und dieses irdische Jammerthai hat nur noch als Vorbereitung und Prüfung für das Jenseits (1. Petr. 1, 5-7) eine Bedeutung, an sich aber gar keinen Werth mehr, im Gegentheil besteht das irdische Leben in Drangsal (Joh. 16, 33) und täglicher Plage und Elend (Math. 6, 34: »Jeder Tag hat an seinem Elend genug«). Die Liebe macht diese Vorhölle erträglicher und ist zugleich der Probirstein der Würdigkeit (Rom. 13, 8-10; Math. 22, 37-39), der Glaube und die Hoffnung auf das Jenseits lassen »die Welt überwinden«, oder »erlösen von der Welt«, d.h. von Uebel und Sünde.

Die Welterlösung durch Christus geschieht also dadurch, dass alle Menschen ihm nachfolgen in Weltverachtung und Liebe, in Glaube und Hoffnung auf das Jenseits, nicht aber durch seinen Tod mit der später hineingejüdelten Auffassung desselben als eines reinigenden Sühnopfers, wovon Christus selbst gewiss nichts würde haben wissen wollen.

Dies ist der historische und allein bedeutende Inhalt der von Jesus vorgetragenen Lehre, wozu höchstens noch die Verwerfung alles äusserlichen Ritus und aller Priestervermittelung beim Gottesdienst hinzuzufügen ist. Auch die christliche Tugend folgt zu ihrem negativen Theile aus der Verachtung des Fleisches, aus dem alle Sünde stammt, zu ihrem positiven Theile aus dem höchsten Gebot der Liebe.

Alles die irdischen Verhältnisse selbst Betreffende ist ihm so unwichtig und gleichgültig, dass er entweder mit lächelnder Verachtung sich in das Bestehende fügt (Math. 22, 21; Math. 17, 24-27), oder das Wünschenswerthe nur leicht andeutet, z.B. Selbstverwaltung und Selbstjurisdiction (Math. 18, 15-17) der communistischen Gemeinde. Alle anderen Ideen, welche das Christenthum bringt, waren schon in der alten Welt dagewesen, aber die Verbindung von[356] Weltverachtung und gläubigem Hoffen auf die ewige transcendente Seligkeit war für die ausserindische Welt neu; sie war die eigentlich welterlösende Idee, welche das ausgelebte Alterthum von seiner Verzweiflung des Weltüberdrusses rettete, indem sie das Fleisch verdammte und den Geist auf den Thron erhob, die natürliche Welt als das Reich des Teufels (Joh. 14, 30 u. 17, 9) und nur die transcendente Welt des Geistes als das Reich Gottes (1. Joh. 4, 4 u. 5, 19) auffasste, welches letztere freilich nach Christus selbst in den Herzen der Gläubigen schon diesseits seinen Anfang nehmen könnte; wie Paulus (Rom. 8, 24) ganz richtig sagt: »Wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung«

Die Weltverachtung in Verbindung mit einem transcendenten Leben des Geistes war zwar schon in Indien in der esoterischen Lehre des Buddhismus dagewesen, war aber erstens der occidentalischen Welt nicht bekannt geworden, war zweitens in Indien selbst nur einem engeren Kreise eheloser Eingeweihten zugänglich, und war drittens bald in exoterischem Wust untergegangen, so dass ihre Idee nur noch in den excentrischen Erscheinungen der Einsiedler und Büsser zur Erscheinung kam; viertens fand sie bei ihrem Entstehen nicht einen durch Verwesung so fruchtbaren Boden, fünftens besass sie nicht in dem Maasse die kosmopolitische Aussenseite, die Idee der allgemeinen Menschenbrüderschaft in der Kindschaft Gottes (Math. 23, 8-9), und sechstens endlich, was das Wichtigste ist, kennt sie wohl eine ewige transcendente Seligkeit für die endgültig vom irdischen Dasein Erlösten, aber keine individuelle Fortdauer; das Christenthum aber, welches eine Auferstehung (des Fleisches) und sonach ein individuelles ewiges Leben im transcendenten Reiche Gottes verheisst, wendet sich hierdurch viel directer an den menschlichen Egoismus, und giebt mithin auch für die Dauer des Erdenlebens eine viel beseligendere Hoffnung. Von dieser beseligenden Hoffnung hat die christliche Welt bis jetzt gelebt und lebt grossentheils noch davon.

Wir haben schon weiter oben unter religiöser Erbauung gesehen, dass die aus der religiösen Hoffnung und Erbauung entspringende Lust auch nicht ohne Unlust ist, die sich theils aus der Auflehnung der instinctiven Triebe gegen ihre widernatürliche Unterdrückung ergiebt, theils in den Zweifeln über die eigene Würdigkeit und über das Eintreten der göttlichen Gnade und in der Furcht vor dem jüngsten Gericht besteht. Es kommt dazu die als unerlässlich geforderte Reue und Zerknirschung über die eigenen Sünden und[357] Sündigkeit, selbst dann, wenn man sich eigentlich keines Unrechtes bewusst ist. Ob die religiöse Unlust oder Lust überwiegt, wird wesentlich vom Charakter abhängen, häufig aber wird wohl bei dem Gläubigen die Hoffnung überwiegen. Nur schade, dass auch diese Hoffnung, wie alle anderen, auf einer Illusion beruht. Ich enthalte mich hier einer näheren Beleuchtung der Lehre von der individuellen Fortdauer der Seele und verweise einfach auf Cap. C. II. u. VII. nach welchen die Individualität sowohl des organischen Leibes, als des Bewusstseins nur eine Erscheinung ist, die mit dem Tode verschwindet und nur das Wesen, das All-Einige Unbewusste, übrig lässt, welches diese Erscheinung hervorbrachte, theils durch seine Individuation zu Atomen, theils durch directe Einwirkung auf die zum Körper combinirte Atomengruppe.

Ich bemerke, dass die Weltanschauung Jesu viel zu naiv und kindlich war, um die Trennung von Leib und Seele und die isolirte Fortdauer der letzteren für möglich zu halten, daher auch die Aufnahme »der Auferstehung des Fleisches« in den dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses ganz im Sinne Christi ist. Johannes und Paulus haben freilich Stellen, welche auf die Beschaffenheit des ewigen Lebens philosophische Streiflichter werfen, die wenig mit den Verheissungen Christi im Einklange stehen, aber es wurde denselben auch weiter keine Folge gegeben. Off. Joh. 10, 5-6: »Und der Engel.... schwur bei dem Lebendigen von Ewigkeit zu Ewigkeit.... dass hinfort keine Zeit mehr sein soll.« 1. Cor. 13, 8: »Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntniss aufhören wird.«

Letztere Stelle meldet uns das Aufhören alles Bewusstseins, erstere das Aufhören aller Veränderung in jenem Zustande; beides hebt die Individualität, oder doch zum mindesten ihre Bedeutung auf. Dass in den gesammten grossen Systemen der neuesten Philosophie (abgesehen von Kaufs Inconsequenz und Schelling's späterem Abfall) von einer individuellen Fortdauer keine Rede sein kann, darüber kann man sich nicht anders als absichtlich einer Täuschung hingeben; ich will aber hier wenigstens flüchtig noch die Ansichten einiger Aelteren und Neueren berühren.

In Plato's Timaeus (ed. Steph. III. p. 69) heisst es: »Und von den göttlichen (Wesen) wird er selbst Hervorbringer, das Werden der Sterblichen aber trag er seinen Erzeugten auf, welche sodann nachahmend, als sie die unsterbliche Grundlage der Seele empfangen[358] hatten, sie mit einem sterblichen Körper rings umschlossen, und als Fahrzeug den ganzen Leib ihr gaben, und in ihm eine andere Art von Seele, die sterbliche, daran bauten, welche gefährliche und nothwendige Eindrücke in sich aufnimmt, zuerst Lust, die grösste Lockspeise des Schlechten, dann Schmerzen, des Guten Verscheucher, dann auch Zuversicht und Furcht, zwei thörichte Rathgeber, dann schwer zu besänftigenden Zorn, dann leicht zu verführende Hoffnung, dann mit vernunftloser sinnlicher Wahrnehmung und mit Alles versuchender Liebe dieses vermischend, wie nothwendig war, die sterbliche Gattung zusammensetzten.«

Hieraus in Verbindung mit Plato's Erkenntnisslehre geht hervor, dass er die unsterbliche Seele ausschliesslich in das wahrheitsgemässe Erkennen, d.h. das Schauen der Platonischen Ideen, setzte, welches seiner Natur nach gar keine individuellen Unterschiede mehr zulässt, wenn auch diese Consequenz dem Plato niemals klar geworden sein mag.

Aristoteles steht auf demselben Standpuncte, De an. 1. 4, 408, a, 24 ff., spricht er dem nous poiêtikos, wie er den unsterblichen Theil der Seele nennt, nicht nur Liebe und Hass, sondern auch Gedächtniss und discursives Denken (dianoeisthai) ab; anderweitig weiss man, dass der nous poiêtikos (oder thätige Verstand) das Ewige, Allgemeine, Unveränderliche und keinen äusseren Eindrücken Zugängliche im Menschen ist; dabei ist doch schlechterdings nicht einzusehen, wie er individuell sein soll.

Spinoza, der doch gewiss von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht, kommt zu demselben Resultate: »Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht absolut vernichtet werden, sondern es bleibt etwas von ihm übrig, was ewig ist« (Eth. Th. V. Satz 23). Wie aus dem Beweis dieses Satzes klar hervorgeht, ist aber unter »ewig« nichts weniger als »zeitlich dauernd « zu verstehn, sondern nur das logisch nothwendige Enthaltensein in der Idee der absoluten Substanz (Theil V. Satz 22). »Unser Geist kann nur insofern dauernd genannt, und sein Dasein durch eine gewisse Zeit definirt werden, als er das wirkliche Dasein des Körpers in sich schliesst« (ebda). Fragen wir nun, welcher Theil des Geistes als ewig, d.h. als in der ewigen Idee Gottes als nothwendiges Moment enthalten zu setzen sei, so können wir ihn zunächst dahin bestimmen, dass es nur der rein thätige, nicht der leidende, vom Körper aus afficirte Geist sein kann; zu letzterem Theil gehören aber alle Affecte und Seelenbewegungen, die sinnliche Wahrnehmung, die[359] Vorstellung und Gedächtnisserinnerung; sie alle sind also vom Dasein des Körpers abhängig und können nach seinem Tode nicht fortdauern (Theil V. Satz 34, 21). Selbst die Liebe gehört zu den Seelenbewegungen und muss mit dem Körper vergehen, nur die aus der intellectuellen Anschauung entspringende (Theil V. Satz 33) intellectuelle Liebe, mit welcher Gott affect los und empfindungslos (Satz 17 Folgesatz) sich selber liebt, nur dieses rein contemplative Aufgehen in der logischen Nothwendigkeit des Absoluten ist ewig (Satz 34 Folgesatz). Eigentlich ist also am Geiste nichts ewig als die dritte Erkenntnissgattung der intellectuellen Anschauung (Satz 33 Beweis; vgl. oben Seite 19 Anmerk.); diese aber, und das aus ihr entspringende Bewusstsein seiner selbst, Gottes und der ewigen Nothwendigkeit der Dinge nebst der aus ihr folgenden Gemüthsruhe besitzt eigentlich nur der Weise, während der Geist des Ungebildeten im leidenden Theile aufgeht; sobald daher »der Ungebildete zu leiden aufhört, hört er auch auf zu sein« (Satz 42 Anmerk.), so dass eigentlich nur am Gebildeten und Weisen von einem ewigen Theil des Geistes die Rede sein kann.25 Fragen wir aber endlich, in welcher Weise das ewige Sein des thätigen Theiles des Geistes zu denken sei, so giebt uns Theil II. Satz 8 darüber Auskunft. Da nämlich der Geist die Idee des Körpers ist, so ist der Geist vor und nach dem wirklichen Dasein des Körpers die Idee eines nicht daseienden Dinges; von solchen Ideen aber sagt der genannte Satz, dass sie so in der unendlichen Idee Gottes enthalten sein müssen, wie die formalen Essenzen der einzelnen Dinge oder Modi in Gottes Attributen, was in der Anmerkung durch die Art und Weise erläutert wird, wie in der Idee eines gegebenen Kreises die un endlich vielen Ideen von einzuschiebenden Rechtecken enthalten sind, obwohl dieselben nicht wirklich in ihm gezeichnet sind. Wir aber werden sagen, dass diese Rechtecke nur der formalen Möglichkeit nach gegeben sind, und demgemäss, dass in der ewigen absoluten Idee die Idee eines bestimmten Individualgeistes nur der formalen Möglichkeit nach ewig als aufgehobenes Moment enthalten sei,[360] welche implicite Möglichkeit aber nur in dem Zeitraum, wo der Individualgeist in einem Organismus zur Wirklichkeit gelangt, realiter explicirt wird. Auf diese Weise recht verstanden ist gegen Spinoza's Ewigkeit der Individualgeister ebensowenig etwas einzuwenden als etwa gegen die Ewigkeit aller einzelnen mathematischen Wahrheiten.

An Leibniz ist wenigstens das zu beachten, dass er dasjenige, was die individuelle Beschränkung der Monade setzt, in nichts Anderem als dem Körper zu denken vermag, und deshalb die Unsterblichkeit der Seele nur bei gleichzeitiger Unsterblichkeit eines ihr eigenthümlichen und unveräusserlichen Leibes zu behaupten wagt. Bei dem jetzigen Standpuncte der Naturwissenschaft kritisirt sich letztere Annahme von selbst.

Ganz wie Spinoza äussert sich Schelling (I. 6, 60-61): »Das Ewige der Seele ist nicht ewig wegen der Anfang- oder wegen der Endlosigkeit seiner Dauer, sondern es hat überhaupt kein Verhältniss zur Zeit. Es kann daher auch nicht unsterblich heissen in dem Sinne, in welchem dieser Begriff den einer individuellen Fortdauer in sich schliesst.... Es ist daher ein Misskennen des ächten Geistes der Philosophie, die Unsterblichkeit über die Ewigkeit der Seele und ihr Sein in der Idee zu setzen, und, wie uns scheint, klarer Missverstand, die Seele im Tode die Sinnlichkeit abstreifen und gleichwohl individuell fortdauern zu lassen.« – Fichte und Hegel schliessen sich ganz dieser Auffassung an und Schopenhauer geht noch weiter, indem ihm nur der Wille, nicht einmal das Wissen ewig ist.

Bei den monistischen Systemen, mögen sie nun Naturalismus, Pantheismus oder Persönlichkeitspantheismus sein, kann überhaupt von individueller Unsterblichkeit ohne grobe Inconsequenzen nicht die Rede sein, und bei dem pluralistischen Materialismus ebensowenig; sie bliebe also nur im System eines psychischen Individualismus oder im eigentlichen Theismus fraglich. Was das Erstere betrifft, so kenne ich kein durchgeführtes System des psychischen Individualismus, das nicht zu dem mehr oder minder offenen Eingeständniss anlangte, unmöglich bei dem Pluralismus als einem metaphysisch Letzten stehen bleiben zu können; Leibniz endet mit der allumfassenden Centralmonade, welche die Monadologie im wahrsten Sinne in sich aufhebt, Herbart bei der doppelten Buchführung des geglaubten Gott-Schöpfers neben den gewussten absoluten Positionen der vielen einfachen Realen. Wir haben es also streng genommen auch hier nur mit Theismus, wenn auch mit einem[361] verschämten Theismus zu thun. Aber selbst im Theismus ist, wie wir früher (S. 193-196) sahen, dem Individuum nur so lange die Fortdauer garantirt, nicht etwa bis Gott den Willen fasst, es zu vernichten, sondern als Gott seine es beständig neu setzende Action stetig fortdauern lässt. Nun könnte man die abstracte Möglichkeit hervorheben, dass Gott das Individuum bis an's Ende der Welt fortdauern lassen könne, und sich wohl gar auf die Analogie der Atome berufen, die, obwohl auch blosse Manifestationen göttlichen Willens, doch jedes ein continuirliches Dasein vom Anfang bis zum Ende der Welt hätten. Hiergegen ist aber auf Cap. C. VI. u. XI. zu verweisen, in welchen der Begriff des Individuums analysirt, und der grosse Unterschied zwischen dem einfachen Willensact im Atom und dem sehr zusammengesetzten Individuum, das wir Mensch nennen, dargethan ist. Der Atomwille kann stetig sein, weil er einfach ist; das Strahlenbündel von Willensacten des Unbewussten, welches auf ein bestimmtes organisches Individuum gerichtet ist, kann unmöglich längere Dauer haben, als der Gegenstand, auf den es sich richtet. Hat der Organismus sich aufgelöst und das organische Individuum seine Existenz eingebüsst, hat in Folge dessen das Bewusstsein aufgehört, das sich an diesen Organismus knüpfte und in der molecularen Anordnung der Hirnmolecule desselben seinen Gedächtnissvorrath aufgespeichert und die bestimmende Naturgrundlage seines Individualcharakters besessen hatte, dann ist das Strahlenbündel von Actionen des Unbewussten, welches diesem Individualgeiste die metaphysische Grundlage bot (subsistirte), gegenstandslos, und dadurch als fortgesetzte Action unmöglich geworden; das Vermögen dieser Willensacte wird dadurch nicht alterirt, aber dieses ist eben kein individuell Seiendes mehr, sondern ruht im All-Einen unbewussten Wesen. Würde selbst ein gleicher Organismus geschaffen, auf den das Unbewusste gleiche Actionen richten würde, so wäre das doch ein andres Individuum, nicht dasselbe wie das gestorbene, da die Continuität der Existenz fehlte. Ebenso ungerechtfertigt wie die Behauptung wäre, dass vor der organischen Entwickelung des Ei's und des Spermatozoiden, aus denen ein künftiger Mensch entsteht, dieser Mensch ein individuelles psychisches Vorleben habe, ebenso ungerechtfertigt wäre die Annahme, dass nach Zerstörung des Organismus dieser Mensch ein individuelles psychisches Nachleben haben könne. Was da fortdauert, ist das Wesen, das auch in diesem Menschen sich manifestirte, aber dieses Wesen ist nichts Individuelles.A76[362]

So erweist sich denn auch die Hoffnung auf eine individuelle Fortdauer der Seele als eine Illusion, und damit ist der Hauptnerv der christlichen Verheissungen durchschnitten, ist die christliche Idee überwunden. Der Wechsel auf das Jenseits, welcher für die Misère des Diesseits schadlos halten sollte, hat nur einen Fehler: Ort und Datum der Einlösung sind fingirt. Der Egoismus findet dieses Resultat trostlos; ihm war ja Unsterblichkeit Gemüthspostulat, und mit der Bemerkung, dass Gemüthspostulate keine metaphysische Wahrheiten begründen können (wie Jacobi und Schleiermacher glauben) hört seine Gemüthlichkeit auf. Aber das wahre Gemüth, das auf dem Grunde der Selbstverläugnung und Liebe ruht, findet dieses Resultat nicht trostlos; dem Selbstlosen erscheint die Garantie einer endlosen Selbstbejahung nicht bloss werthlos, sondern unheimlich und grauenerregend, und alle Versache, die Unsterblichkeit als Gemüthspostulat zu beweisen auf einem andern Grunde als dem der crassesten Selbstsucht, sind durchaus verfehlt (vgl. meinen Aufsatz: »Ist der pessimistische Monismus trostlos?« in den Ges. philosoph. Abhandlungen Nr. IV).A77 Selbst die allerzahmste Form der Unsterblichkeitssehnsucht, der Wunsch, in seinen Werken, Thaten und Leistungen fortzuleben, ist egoistisch; denn man darf wohl mit Recht das Fortzeugen guter Thaten und das Fortwirken nützlicher und tüchtiger Werke wünschen, aber das Hineinziehen des lieben Ich in diesen Wunsch, die Forderung, dass es meine Thaten und Werke sein sollen, die auch für die Zukunft des Processes sich segensreich erweisen, ist eine, wenn schon menschlich entschuldbare, doch immerhin ethisch ungerechtfertigte Selbstsucht, die sogar zur Eitelkeit wird, wenn sie die dankbare Conservation des Namens und seines Gedächtnisses bei den Menschen verlangt, die von den Thaten und Werken Nutzen ziehen.

Da aller Unsterblichkeitsdrang Egoismus ist, so würde allen, die bisher in dem Unsterblichkeitsglauben »selig in der Hoffnung« waren, sehr wenig daran gelegen scheinen, ob nach Zerstörung der Hoffnung auf individuelle Unsterblichkeit das Christenthum mit seinem transcendenten Optimismus in Bezug auf die Wahrheit einer ewigen Seligkeit überhaupt im Gegensatz zu dem ursprünglich rein negativen Buddhismus Recht behält oder nicht; denn wem einmal die Unsterblichkeit Gemüthspostulat ist, der ist eben auch allemal soweit Egoist, dass er sagen wird: »was hilft mir die grösste zukünftige Seligkeit, wenn ich sie nicht empfinde und geniesse!«

Wie steht es aber überhaupt mit jener ewigen Seligkeit nach[363] unseren Prämissen? Das All-Einige Unbewusste ist allwissend und allweise, also kann es nicht mehr klüger werden; es hat, wie auch Aristoteles sagt, kein Gedächtniss, also kann es durch Erfahrungen, die es etwa in der Welt machte, nichts zulernen. Mithin ist es, wenn die Welt einmal aufgehört hat zu sein, und der flüchtige Grenz-Moment des Contrastes zwischen der Qual des Wollens und dem Frieden des Nichtwollens vorüber ist, genau dasselbe geblieben, was es vor Erschaffung der Welt war, so selig, wie es vorher war, ist es nun auch wieder, nicht mehr und nicht weniger; nimmermehr kann ihm der Weltprocess zu einer grösseren Seligkeit verhelfen, als es vorher hatte, es sei denn, dass es in dem Processe selbst seine Seligkeit fände. (Diesen letzteren Fall betrachten wir hier aber eben nicht, denn es wäre ja das weltliche Leben selbst, während wir nach der Seligkeit des ausserweltlichen Zustandes fragen). Wenn wir also durch das Erdenleben zu jenem vorweltlichen Zustande an Seligkeit nichts hinzugewinnen können, sondern nach Schliessung des Weltprocesses genau jenen Zustand wieder erreichen, so fragt es sich, wie die Beschaffenheit desselben war. Es liegt auf der Hand, dass, wenn ein Wollen gewesen wäre, so auch Actus, also Process, gewesen wäre, und das Unbewusste nicht weltlos; der weltlose Zustand konnte nur der des Nichtwollens sein. Nun haben wir aber Cap. C. I. gesehen, dass das Vorstellen nur durch das Wollen aus dem Nichtsein in's Sein getrieben werden konnte, so lange die Welt noch nicht existirte; denn in sich hatte das Vorstellen keinen Trieb und kein Interesse, aus dem Nichtsein in's Sein zu treten, folglich war vor dem Eintreten des Wollens auch kein Vorstellen actuell, folglich vor Entstehung der Welt weder Wollen, noch Vorstellen, d.h. gar nichts Actuelles, nichts als das ruhende, unthätige, in sich beschlossene Wesen ohne Dasein. So lange das Wollen dauert, so lange wird der Process und seine Erscheinung im Bewusstsein, die Welt, dauern; wenn also dereinst keine Welt mehr sein soll, dann darf auch kein Wollen, mithin auch kein Vorstellen mehr sein (da die unbewusste Vorstellung immer gerade nur insoweit actuell wird, als das Interesse des Willens sie fordert), d.h. es wird wiederum in demselben (actuell bezogenen) Sinne des Wortes wie oben Nichts sein. Dies ist auch der Zustand, auf den allein die Behauptungen der Apostel passen, dass keine Zeit und keine Erkenntniss mehr sein wird. So lange also die Welt besteht, ist der Weltprocess, und soviel Seligkeit oder Unseligkeit wie dieser einschliesst; vor dem Entstehen und nach dem[364] Aufhören der Welt und des Weltprocesses ist – actuell genommen – Nichts.

Wo bleibt nun die verheissene Seligkeit? In der Welt soll und kann sie nicht stecken, und das Nichts nach der Welt könnte doch höchstens relativ seliger oder unseliger als ein früherer Zustand sein, aber nicht eine positive Seligkeit oder Unseligkeit. (Vgl. Aristot. Eth. N. I. 11, 1100, a, 13.) Freilich wenn die Welt der Zustand der Unseligkeit des Weltwesens ist, so wird das Nichts im Verhältniss dazu eine Seligkeit sein; aber leider kann dieser Contrast nur im Zustande des Seins, nicht in dem des Nichtseins in Rechnung gestellt werden, da in letzterem weder gedacht noch empfunden wird, – denn jedes von beiden wäre ja schon Actualität, welche ausgeschlossen ist, – das eine würde actuelle Vorstellung, das andere sogar actuelle Reflexion auf eine Erinnerung des früheren innerweltlichen Zustandes im Vergleich zum gegenwärtigen, und Willensbetheiligung an dieser Reflexion voraussetzen, was Glied für Glied unmöglich ist.

So meint es der Buddhismus mit dem »Nirwana«, so Schopenhauer, aber nicht so das Christenthum. Diesem ist mit einer solchen Reduction auf den Nullpunct der Empfindung, auf Schmerzlosigkeit und Glücklosigkeit ebensowenig gedient, wie dem gewöhnlichen egoistischen Menschenverstande, der die Erfüllung seines instinctiven Ringens nach Glück als sein natürliches Recht in Anspruch nimmt. Das Christenthum giebt zwar ein Recht auf Glück nicht stricte zu, aber es verlangt den Verzicht darauf doch nur, um dem unverdienten Gnadengeschenk eines jenseitigen Glücks einen desto höheren Werth zuzuerkennen, und der einzelne Christ verzichtet auf sein angebliches Recht doch nur deshalb, weil er das Object seines Rechtsanspruches durch gütlichen Vergleich zugesichert erhält. Das Christenthum muss ein positives Weltziel haben, oder auf sein es vom Buddhismus im tiefsten Grunde unterscheidendes Princip verzichten, d.h. sich selbst abdanken. Da aber kein stichhaltiger Begriff dieses practische Postulat begreiflich zu machen im Stande ist, so läuft eine jede Rechtfertigung der positiv transcendenten Seligkeit, die sich nicht mit einer eingestandenermaassen unverständlichen göttlichen Verheissung begnügen will, auf einen mehr oder minder phantastischen Ausputz des Nirwana hinaus, der natürlich in der Beschaffenheit seiner Phantasmagorien nach dem jeweiligen Bildungsstande sich richtet und mit diesem wechselt. Die christliche Weltanschauung ist eben unfähig, sich zu völliger Resignation[365] auf Glück zu erheben; selbst die christliche Askese ist durch und durch selbstsüchtig. Daher ist es kein Wunder, wenn alle noch mehr oder minder (ich sage nicht: im christlichen Glauben, sondern): in der christlichen Weltanschauung Befangenen die Zumuthung der vollständigen Resignation auf Glück mit Empörung von sich weisen. Es gehört eben eine lange geschichtliche Vermittlung, und zwar die Vermittlung durch eine unchristliche, rein weltliche Periode dazu, um die Menschheit auf diese äusserste Zumuthung vorzubereiten. Als diese Periode aber werden wir als bald das dritte Stadium der Illusion kennen lernen.

Wenn nun aber einerseits die christliche Hoffnungsseligkeit auf einer Illusion beruht, die im weiteren Verlaufe der Bewusstseisentwickelung nothwendig verschwindet, wenn andererseits die Sendung des Evangeliums durch Jesus und die gierige Aufnahme desselben durch die Völker, trotz der über diesen kindlichen Standpunct längst hinausgeschrittenen griechischen Philosophie, entschieden nur durch directe Eingriffe des Unbewussten im Genie der Gründer und dem Völkerinstincte der Bekehrungswuth begriffen werden kann, so entsteht die Frage, wozu denn diese Illusion kommen musste. Die Antwort ist einfach die, dass dieses zweite Stadium die nothwendige Zwischenstufe zwischen dem ersten und dritten ist, weil durch die Verzweiflung am ersten Stadium der Illusion der Egoismus noch nicht so weit gebrochen ist, um sich nicht an die einzige ihm noch übrig bleibende egoistische Hoffnung mit beiden Armen anzuklammern. Erst wenn auch dieser Anker reisst und die völlige Verzweiflung, mit seinem lieben Ich das Glück zu erreichen, ihn erfasst hat, erst dann wird er dem selbstverläugnenden Gedanken zugänglich, nur für das Wohl der zukünftigen Geschlechter arbeiten, nur im Process des Ganzen zum zukünftigen Wohle des Ganzen aufgehen zu wollen.

Das Römerthum hatte zwar diese Selbstverläugnung besessen und geübt, aber nur zu Gunsten der Machtvermehrung der engsten Stammesgemeinschaft, es hatte also gleichsam den individuellen Egoismus zu einem Stammesegoismus erweitert und mit diesem den Phantomen der Ehrsucht und Herrschsucht nachgejagt; jetzt aber handelt es sich um Erweiterung des egoistischen zu einem kosmischen Bewusstsein und Streben, des selbstsüchtigen Selbstgefühls zum selbstverläugnenden Allgefühl, zu dem Bewusstsein, dass das Individuum wie die Nation nichts als ein Rad oder eine Feder in dem grossen Weltgetriebe sind, und keine Aufgabe haben, als als[366] solche ihre Schuldigkeit zu thun, um den Process des Ganzen, auf den es allein ankommt, zu fördern.

Zu einem solchen Gedanken, zu einer solchen Selbstverläugnung war natürlich die alte Welt nicht reif, und es war gleichsam nur ein äusserlicher Nebengrund für das Interim des Christenthums, dass noch so viele technische Fortschritte bis zur möglichen Eröffnung einer Weltcommunication zu machen waren, und dass die künftigen Grundelemente des tellurischen Gemeinlebens, die Nationalstaaten, erst noch zu schaffen waren. Abgesehen von alle diesem zeigt sich aber auch vom ersten zum zweiten Stadium der Illusion ein entschiedener Fortschritt zur Wahrheit, nämlich in der gewonnenen Ueberzeugung, dass das Glück nicht in der Gegenwart des Processes liegt, ebenso wie in dem Uebergang vom zweiten zum dritten Stadium der Fortschritt zur Wahrheit in der erlangten Einsicht besteht, dass der Weg zur Erlösung von dem Elend der Gegenwart erstens nicht innerhalb, sondern ausserhalb des Individuums und zweitens nicht ausserhalb des Weltprocesses zu suchen ist, sondern im Weltprocesse selbst liegt, dass also die zukünftige Erlösung der Welt nicht in der Enthaltung vom Leben, sondern in der Hingabe an's Leben zu finden ist, dass aber wiederum diese Hingabe an's Leben, welche um seiner selbst willen eine Verkehrtheit wäre, nur um der Zukunft des Processes des Ganzen willen einen Sinn habe.

Dieser Uebergang vom zweiten zum dritten Stadium ist freilich bei der menschlichen Schwäche kaum anders zu denken, als durch ein theilweises Verkennen letzterer Wahrheit, d.h. als durch einen theilweisen Rückfall in das erste Stadium der Illusion; denn wie soll der Mensch zu einem genügend starken Glauben an ein zukünftiges Glück auf Erden gelangen, wenn er den gegenwärtigen Zustand für in jeder Hinsicht elend und alles im Leben der Gegenwart erreichbare Glück für eitel hält?

Daher sehen wir mit dem durch die Reformation aufgestellten Principe der freien Forschung und Kritik allerdings negativ die fortschreitende Zersetzung des christlichen Dogma's und die Vernichtung seiner Verheissungen anheben, aber gleichzeitig sehen wir an die Stelle des christlichen »Seligseins in der Hoffnung auf das Jenseits« die Wiedergeburt der alten Kunst und Wissenschaft, das Aufblühen des Städtereichthums und Handels und die Fortschritte der Technik, die allseitige Erweiterung des geistigen Gesichtskreises, mit einem Worte die wieder erwachende Liebe zur Welt treten.[367]

Die riesigen Fortschritte nach allen Richtungen nach so langer Stagnation feuerten die Hoffnung zu noch grösseren Erwartungen an, und es entstand so, wie stets in den Epochen vielverheissender Fortschritte, eine Zeit des Optimismus, deren theoretischer Hauptvertreter Leibniz ist. (Gegenwärtig, wo die Bildung der Nationalstaaten ihrem Ziele entgegeneilt, herrscht ein ähnlicher Optimismus in politischer Beziehung.) Nur langsam und allmählich lässt sich die Macht einer so ungeheureren Idee, wie die christliche ist, brechen. Dies ist besonders interessant zu beobachten an der neuesten Philosophie. Kant kehrt, schwindelnd vor der Bodenlosigkeit der Consequenzen seines Principes, um und verschreibt seine Seele schleunigst dem vom practischen kategorischen Imperativ feierlichst restituirten Christengott; Hegel Bucht durch ein symbolisch-dialectisches Spiel wenigstens einige der Hauptbegriffe des Christenthums zu retten; Schelling macht mit einem verzweifelten Ruck vor dem Abgrunde Halt und kehrt mit einer ganz ernsthaft gemeinten Deduction der drei Personen der christlichen Dreieinigkeit aus den Potenzen des Seins am Schlüsse seines letzten Systemes demüthig in das positive Dogma der Offenbarung zurück.

Nur Einer ist es, der ganz und in jeder Hinsicht mit dem Christenthume bricht und ihm jede zukünftige Bedeutung abstreitet, – Schopenhauer, freilich nur, um in die buddhistische Askese zurückzufallen, und ohne sich zu dem Gedanken der Möglichkeit eines positiven Principes für die künftige Geschichte erbeben zu können, ohne die Spur eines Verständnisses und einer Liebe für die grossen Bestrebungen unserer Zeit, welche in allen anderen neuesten Philosophen reichlich vertreten sind. Sichtbar gewinnen die weltlichen Bestrebungen täglich an Macht, Ausdehnung und Interesse, sichtbar greift der Antichrist weiter und weiter um sich, und bald wird das Christenthum nur noch ein Schatten seiner mittelalterlichen Grösse sein, wird wieder sein, was es im Entstehen ausschliesslich war, der letzte Trost für die Armen und Elenden.

25

Bekanntlich neigte Göthe ebenfalls zu dieser Auffassung einer Reservation der Unsterblichkeit für die Aristokratie des Geistes hin, und in der That, wenn man überhaupt an der Unsterblichkeit des geistig Hochstehenden festhalten und nicht zugleich die Unsterblichkeit der Infusorienseelen oder der Seele des eben befruchteten menschlichen Ei's mit in den Kauf nehmen will, so liegt immer noch mehr Sinn darin, die dann unvermeidliche Grenzlinie für die Unsterblichen unmittelbar unter der Geistesaristocratie der Menschheit eintreten zu lassen, als sie willkürlich zwischen Buschmann und Orang Utang beziehungsweise zwischen den 7ten und 9ten Monat des Embryonallebens zu verlegen

A76

S. 362 letzte Z. Die neueren Versuche zur Rettung der, individuellen Fortdauer (z.B. von J. H. Fichte, Hellenbach, du Prel) pflegen sich nicht mehr auf eine leiblose Seelenfortdauer zu versteifen, sondern vielmehr sich auf die Hilfshypothese eines unverweslichen und unsichtbaren Aetherleibes, Astralleibes oder Metaorganismus zu stützen, an welchem dann allerdings das Strahlenbündel der psychischen Actionen des Unbewussten ein den Tod des materiellen Leibes überdauerndes Substrat fände. Es ist damit allerdings die unerlässliche Bedingung namhaft gemacht, unter welcher allein die Unsterblichkeit der Seele als möglich gelten kann; aber alle Versuche, diese Hilfshypothese anders als durch das Gemüthspostulat der Unsterblichkeit zu begründen, sind bis jetzt über das Stadium willkürlicher Einfälle und haltloser Phantasien nicht hinausgelangt (vgl. oben S. 468). Wenn die Seele mitsammt dem ihr unveräusserlich zugehörenden pneumatischen Leibe fortdauert, so kann doch diese Fortdauer im Tode nicht eigentlich ein Leben genannt werden; vielmehr ist die weitere Forderung dieser Annahme, dass dieselbe, um fortzuleben, sich von Zeit zu Zeit einen neuen fleischlichen Leib aufsuche oder anbilde, sei es auf Erden unter ähnlichen Bedingungen, sei es auf ändern Weltkörpern, sei es in einem neuen Weltzustande unter anderartigen Bedingungen. Mit andern Worten: der Unsterblichkeitsglaube ist nur noch in Gestalt der Reïncarnationslehre zu vertheidigen (vgl. »Neuk., Schop. u. Hegel.« S. 227-229). Nun ist aber klar, dass auch nach dieser Ansicht dasjenige Bewusstsein, welches ich »mein Bewusstsein« nenne, mit meinem Tode aufhört, dass also entweder auf jede Continuität des Bewusstseins in der Reïncarnation verzichtet werden muss, oder dass die Continuität nicht mehr in dem empirischen Bewusstsein, sondern in einem relativ unbewussten »transcendentalen« Bewusstsein gesucht werden muss. In beiden Fällen hört jedes egoistische Interesse an einer solchen Fortdauer auf; im ersteren Falle liegt dies klar zu Tage, während es im zweiten Falle verschleiert wird durch die willkürliche, unerweisliche und der inneren Erfahrung widersprechende Behauptung, dass erst das »transcendentale« Bewusstsein und nicht das empirische Bewusstsein mein wahres und eigentliches Selbstbewusstsein sei oder enthalte. Gäbe es ein solches transcendentales Bewusstsein hinter meinem empirischen Bewusstsein, so wäre dasselbe für mich und meine egoistischen Interessen ebenso gleichgültig, wie das transcendentale Bewusstsein eines Andern für mich oder das empirische Bewusstsein eines Andern für mich ist; es wäre eine blosse Taschenspielerei, mir die behauptete Continuität dieses relativ unbewussten transcendentalen Bewusstseins in verschiedenen Lebensläufen als eine Erfüllung meines egoistischen Lebensdranges und Unsterblichkeitswunsches darbieten zu wollen. Wenn ein Andrer unsterblich ist, so habe ich doch davon nichts, und die Unsterblichkeit eines andern, mir unbewussten Selbstbewusstseins wird mir darum nicht wichtiger, wenn man mir sagt, dass ich schon jetzt von diesem Andern in einer mir unbewussten Weise dämonisch besessen bin. Wenn ich nicht weiterleben, kann und soll, so mag den Andern, von dem ich besessen sein soll, erst recht der Teufel holen.

Ausserdem ist aber auch jeder Versuch, das an den mittleren Hirntheilen des fleischlichen Leibes haftende somnambule Bewusstsein zu einem metaphysisch transcendentalen Bewusstsein aufzublähen, das nur aus den Beziehungen des unbewussten Geistes zum Aetherleib entspringen soll, eine unstatthafte Taschenspielerei. Aus dem Verhältniss des somnambulen und wahren Selbstbewusstseins können wir jedoch immerhin soviel lernen, dass ersteres das letztere als »den Andern« von sich ausschliesst (I 476) und dass demgemäss auch letzteres das erstere als »den Andern« von sich und seinem Interessenkreise ausschliessen müsste, wenn es im Stande wäre, in dasselbe einen ebensolchen Einblick zu gewinnen, wie jenes in dieses. Insoweit die Spaltung des Selbstbewusstseins besteht, d.h. solange die verschiedenen Bewusstseinssphären des nämlichen Individuums sich für getrennte Bewusstseine halten, müssen sie auch getrennte Ich's und getrennte Egoismen haben. Insoweit dagegen die verschiedenen Bewusstseine verschiedener Individuen sich als verschiedene Bewusstseinssphären in einem Individuum höherer Ordnung und zugleich als wesensidentisch nach ihren unbewussten Subjecten erkennen, müssen sie auch ihre getrennten Egoismen zu Gunsten des Egoismus des Individuums höherer Ordnung (Familie, Staat) und letzten Endes zu Gunsten der Zwecke des in allen identischen absoluten Subjects aufgeben. Mit dem Egoismus stirbt aber auch der Wunsch nach Unsterblichkeit des Ich, während das absolute Subject leider so wie so unsterblich ist; so lange dagegen der Egoismus nicht abdankt, kümmert er sich nur um sein Ich und ist gleichgültig gegen jedes andre, auch ein etwaiges transcendentales. Vgl. auch Biedermann's »Christliche Dogmatik« (§ 949-973), wo gezeigt wird, dass ein religiöses Interesse an der Unsterblichkeit vom historischen Christenthum nur auf Grund irrthümlicher Voraussetzungen angenommen ist, dass aber in Wahrheit die Frage nach der Fortdauer über den Tod hinaus religiös indifferent ist, und von anthropologischer und metaphysischer Seite her nicht anders als verneint werden kann. (»Religion des Geistes« S. 232-235.)

A77

S. 363 Z. 18. (»Ges. Stud. u. Aufsätze« A. VII: vgl. auch Taubert's »Pessimismus« Nr. IX »Die Glückseligkeit im Jenseits«.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 355-368.
Lizenz:
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Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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