XIV. Das Ziel des Weltprocesses und die Bedeutung des Bewusstseins
(Uebergang zur practischen Philosophie.)

[391] Schon im Cap. C. XII. (S. 276-277) hatten wir gesehen, dass die Kette der Finalität nicht, wie die der Causalität, unendlich zu denken ist, weil jeder Zweck in Bezug auf den folgenden in der Kette nur Mittel ist, also in dem zwecksetzenden Verstande stete die ganze zukünftige Reihe der Zwecke gegenwärtig sein muss, und doch unmöglich eine vollendete Unendlichkeit von Zwecken in ihm gegenwärtig sein kann (vgl. Ges. phil. Abhandl. Nr. II. »Ueber die nothwendige Umbildung der Hegel'schen Philosophie aus ihrem Grundprincip heraus«).A80 Demnach muss die Finalreihe endlich sein, d.h. sie muss einen letzten oder Endzweck haben, welcher das Ziel aller Mittelzwecke ist. Wir haben ferner auf S. 281, 338 u. 379 gesehen, dass Gerechtigkeit und Sittlichkeit ihrer Natur nach nicht Endzwecke, sondern nur Mittelzwecke sein können: und das vorige Capitel hat uns gelehrt, dass auch positive Glückseligkeit nicht das Ziel des Weltprocesses sein kann, weil sie nicht nur in keinem Stadium des Processes erreicht wird, sondern sogar jederzeit ihr Gegentheil, Elend und Unseligkeit, er reicht wird, welches noch überdies im Verlaufe des Processes durch Zerstörung der Illusion und mit der Steigerung des Bewusstseins wächst. Ganz sinnlos ist es, den Process als Selbstzweck aufzufassen, d.h. ihm einen absoluten Werth zuzuschreiben; denn der Process ist doch nur die Summe seiner Momente, und wenn die einzelnen Momente nicht nur werthlos, sondern sogar verwerflich sind, so ist es auch ihre Summe, der Process. Manche nennen wohl die Freiheit als Ziel des Processes. Für mich ist die Freiheit nichts Positives,[391] sondern etwas Privatives, die Ledigkeit des Zwanges; ich kann nicht verstehen, wie dies erst als Ziel des Processes zu suchen sein sollte, wenn das Unbewusste Ein und Alles ist, also Niemand da ist, von dem es Zwang erleiden könnte. Soll aber etwas Positives in dem Begriffe Freiheit liegen, so wird es einzig das Bewusstsein der inneren Nothwendigkeit sein können, das Formelle am Vernünftigsein, wie Hegel sagt. Dann ist also eine Steigerung der Freiheit identisch mit einer Steigerung des Bewusstseins. Hier kommen wir auf einen schon mehrfach erwähnten Punct. Wenn irgendwo das Ziel des Weltprocesses zu suchen ist, so ist es doch gewiss auf dem Wege, wo wir, soweit wir den Verlauf des Processes übersehen können, einen entschiedenen und stetigen Fortschritt, eine stufenweise Steigerung wahrnehmen.

Dies ist einzig und allein bei der Entwickelung des Bewusstseins, der bewussten Intelligenz, der Fall, hier aber auch in ununterbrochenem Aufsteigen von der Entstehung der Urzelle bis zum heutigen Standpunct der Menschheit, und mit höchster Wahrscheinlichkeit weiter, so lange die Welt steht. So sagt Hegel (XIII. S. 36): »Alles was im Himmel und auf Erden geschieht – ewig geschieht – das Leben Gottes und Alles, was zeitlich gethan wird, strebt nur danach bin, dass der Geist sich erkenne, sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschliesse; es ist Verdoppelung, Entfremdung, aber um sich selbst finden zu können, um zu sich selbst kommen zu können.« Ebenso Schelling: »Der Transcendentalphilosophie ist die Natur nichts anderes als Organ des Selbstbewusstseins und alles in der Natur nur darum nothwendig, weil nur durch eine solche Natur das Selbstbewusstsein vermittelt werden kann« (Werke I. 3, S. 273), »und um das Bewusstsein ist es in der ganzen Schöpfung zu thun« (II. 3, S. 369). Der Entstehung des Bewusstseins dient die Individuation mit ihrem Gefolge von Egoismus und Unrechtthun und Unrechtleiden, der Steigerung des Bewusstseins dient der Erwerbstrieb durch Freimachung geistiger Arbeitskräfte bei zunehmender Wohlhabenheit, dient die Eitelkeit, der Ehrgeiz und die Ruhmsucht durch Anspornung der geistigen Thätigkeit, dient die geschlechtliche Liebe durch Veredelung der geistigen Fähigkeit, kurz alle jene nützlichen Instincte, die dem Individuum weit mehr Unlust als Lust bringen, ja oft die grössten Opfer auferlegen. Auf dem Wege der Bewusstseinsentwickelung muss also das Ziel des Weltprocesses[392] gesucht werden, und das Bewusstsein ist zweifelsohne der nächste Zweck der Natur, der Welt. Es bleibt noch die Frage offen, ob das Bewusstsein wirklich Endzweck, also auch Selbstzweck sei, oder ob es wiederum nur einem anderen Zwecke diene.

Selbstzweck kann das Bewusstsein gewiss nicht sein. Mit Schmerzen wird es geboren, mit Schmerzen fristet es sein Dasein, mit Schmerzen erkauft es seine Steigerung; und was bietet es für Alles dies zum Ersatz? Eine eitle Selbstbespiegelung! Wäre die Welt im Uebrigen schön und werthvoll, so könnte man ihr auch wohl die eitele Selbstgefälligkeit in der Betrachtung ihres Spiegelbildes im Bewusstsein allenfalls zu Gute halten, obwohl sie immer eine Schwäche bliebe; aber eine durch und durch elende Welt, die an ihrem Anblicke nimmermehr Freude haben kann, sondern ihre Existenz verdammen muss, sobald sie sich versteht, eine solche Welt sollte an der idealen Scheinverdoppelung ihrer selbst im Spiegel des Bewusstseins einen vernünftigen Endzweck und Selbstzweck haben? Ist es denn am realen Elend nicht genug, dass es noch einmal in der Zauberlaterne des Bewusstseins wiederholt werden sollte? Nein, unmöglich kann das Bewusstsein der Endzweck des von der Allweisheit des Unbewussten geleiteten Weltprocesses sein; das hiesse nur die Qual verdoppeln, in den eigenen Eingeweiden wühlen. Noch weniger kann man annehmen, dass die rein formale Bestimmung des Handelns nach Gesetzen der bewussten Vernunft ein vernünftiger Endzweck sein könne; denn was hat die Vernunft davon, das Handeln zu bestimmen, oder was hat das Handeln davon, von der Vernunft bestimmt zu werden, abgesehen von der etwa dadurch herbeizuführenden Verminderung der Unlust? Wäre das qualvolle Sein und Wollen gar nicht da, so brauchte keine Vernunft mit seiner Bestimmung bemüht zu werden! Das Bewusstsein und die fortwährende Steigerung desselben im Process der Weltentwickelung kann also auf keinen Fall Selbstzweck, auch sie kann bloss Mittel zu einem anderen Zweck sein, wenn sie nicht zwecklos in der Luft schweben soll, wodurch denn auch rückwärts der ganze Process aufhören würde, Entwickelung zu sein, und die ganze Kette der Naturzwecke endzwecklos in der Luft schweben würden, also eigentlich als Zwecke aufgehoben und für unvernünftig erklärt würden. Diese Annahme lässt die Allweisheit des Unbewussten nicht zu, also bleibt uns nur noch übrig, nach dem Zweck zu suchen, welchem die Bewusstseinsentwickelung als Mittel dient.

Aber wo einen solchen Zweck hernehmen? Die Beobachtung[393] des Processes selbst und dessen, was in ihm hauptsächlich wächst und fortschreitet, führt eben nur zur Erkenntniss, dass es das Bewusstsein ist; Sittlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit sind schon beseitigt.

Wie viel wir auch grübeln und sinnen, wir können nichts ergründen, dem wir einen absoluten Werth bemessen könnten, nichts was wir als Selbstzweck betrachten könnten, nichts was das Weltwesen so im Innersten Kern alterirt, als die Glückseligkeit. Nach Glückseligkeit strebt Alles, was da lebt, nach eudämonologischen Grundsätzen wirken die Motive auf uns, richten sich unsere Handlungen bewusst oder unbewusst; auf Glückseligkeit sind in dieser oder jener Weise alle Systeme der practischen Philosophie gegründet, wenn sie auch ihr Princip noch so sehr zu verläugnen glauben; das Streben nach Glückseligkeit ist der tiefwurzelndste Trieb, ist das Wesen des Befriedigung suchenden Willens selbst. Und doch haben uns die Untersuchungen des vorigen Capitels gelehrt, dass dieses Streben verwerflich, dass die Hoffnung auf seine Erfüllung eine Illusion, und dass seine Folge der Schmerz der Enttäuschung, seine Wahrheit das Elend des Daseins ist, haben uns gelehrt, dass die fortschreitende Bewusstseinsentwicklung das negative Resultat hat, stufenweise die illusorische Beschaffenheit jener Hoffnung, die Thorheit jenes Strebens zu erkennen. Es lässt sich also ein tief eingreifender Antagonismus zwischen dem nach absoluter Befriedigung und Glückseligkeit strebenden Willen und der durch das Bewusstsein vom Triebe mehr und mehr sich emancipirenden Intelligenz nicht verkennen; je höher und vollkommener das Bewusstsein im Verlaufe des Weltprocesses sich entwickelt, desto mehr emancipirt es sich von der blinden Vasallenschaft, mit welcher es anfänglich dem unvernünftigen Willen folgte, desto mehr durchschaut es die zur Bemäntelung dieser Unvernunft vom Triebe in ihm erweckten Illusionen, desto mehr nimmt es gegenüber dem nach positivem Glück ringenden Willen eine feindselige Stellung ein, in welcher es ihn im historischen Verlauf Schritt für Schritt bekämpft, die Wälle der Illusionen, hinter denen er sich verschanzt, einen nach dem andern durchbricht, und nicht eher seine letzte Consequenz gezogen haben wird, bis es ihn völlig vernichtet hat, indem nach Zerstörung jeder Illusion nur die Erkenntniss übrig bleibt, dass jedes Wollen zur Unseligkeit und nur die Entsagung zu dem besten erreichbaren Zustand, der Schmerzlosigkeit führt. Dieser siegreiche Kampf des Bewusstseins gegen den[394] Willen, wie er uns als Resultat des Weltprocesses empirisch vor Augen tritt, ist nun aber nichts weniger als etwas Zufälliges, er ist im Bewusstsein begrifflich enthalten, und mit der Entwickelung desselben als nothwendig gesetzt. Denn im Cap. C. III. haben wir gesehen, dass das Wesen des Bewusstseins Emancipation des Intellects vom Willen ist, während im Unbewussten die Vorstellung nur als Dienerin des Willens auftritt, weil nichts als der Wille da ist, dem sie ihre Entstehung verdanken kann, welche sie selber sich nicht zu geben vermag (vgl. C. I. S. 14).

Ferner wissen wir, dass im Reiche der Vorstellung das Logische, Vernünftige waltet, welches dem Willen seiner Natur nach ebenso widerstrebend ist, wie er es jenem ist, woraus zu schliessen ist, dass, wenn die Vorstellung erst den nöthigen Grad von Selbstständigkeit erlangt hat, sie allem Widervernünftigen (Antilogischen), was sie etwa in dem unvernünftigen (alogischen) Willen vorfindet, den Stab brechen und es zu vernichten suchen wird. Drittens wissen wir aus dem vorigen Capitel, dass aus dem Wollen stets mehr Unlust, als Lust folgt, dass also der Wille, der die Glückseligkeit will, das Gegentheil, die Unseligkeit erlangt, mithin auf das Widervernünftigste zur eigenen Qual die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt, und doch wegen seiner Unvernunft durch keine Erfahrung klug gemacht werden kann, von seinem unseligen Wollen abzulassen. Ans diesen drei Voraussetzungen folgt mit Nothwendigkeit, dass das Bewusstsein, sowie es zu der nöthigen Klarheit, Schärfe und Reichthum gelangt ist, auch die Widervernünftigkeit des Wollens und Glückseligkeitsstrebens mehr und mehr erkennen und demnächst bis zur Vernichtung bekämpfen muss. Dieser von uns bisher nur a posteriori erkannte Kampf war mithin nicht ein zufälliges, sondern ein nothwendiges Resultat der Schaffung des Bewusstseins, es lag in demselben a priori vorgebildet. Wenn nun aber das Bewusstsein der nächste Zweck der Natur oder Welt ist, wenn wir für das Bewusstsein nothwendig einen weiteren Zweck brauchen, und uns schlechterdings keinen anderen Endzweck denken können, als grösstmöglichste Glückseligkeit, wenn andererseits alles Streben nach positiver Glückseligkeit, das mit dem Wollen identisch ist, verkehrt ist, weil es nur Unseligkeit erreicht, und der grösstmöglichste erreichbare Glückseligkeitszustand, die Schmerzlosigkeit ist, wenn es endlich im Begriff des Bewusstseins liegt, die Emancipation des Intellects vom Willen, die Bekämpfung und endliche Vernichtung des Wollens zum Resultat zu[395] haben, sollte es dann noch zweifelhaft sein können, dass das allwissende und Zweck und Mittel in Eins denkende Unbewusste das Bewusstsein eben nur deshalb geschaffen habe, um den Willen von der Unseligkeit seines Wollens zu erlösen, von der er selbst sich nicht erlösen kann, – dass der Endzweck des Weltprocesses, dem das Bewusstsein als letztes Mittel dient, der sei, den grösstmöglichen erreichbaren Glückseligkeitszustand, nämlich den der Schmerzlosigkeit, zu verwirklichen?

Wir haben gesehen, dass in der bestehenden Welt Alles auf das Weiseste und Beste eingerichtet ist, und dass sie als die beste von allen möglichen angesehen werden darf, dass sie aber trotzdem durchweg elend, und schlechter als gar keine sei. Dies war nur so zu begreifen (vgl. Schluss des Cap. C. XII.), dass, wenn auch das »Was und Wie« in der Welt (ihre Essenz) von einer allweisen Vernunft bestimmt würde, doch das »Dass« der Welt (ihre Existenz) von etwas schlechthin Unvernünftigem gesetzt sein müsse, und dies konnte nur der Wille sein. Diese Erwägung ist übrigens nur dasselbe auf die Welt als Ganzes angewendet, was wir, auf das Individuum angewendet, längst gekannt haben. Das Körperatom ist Anziehungskraft; sein »Was und Wie«, d.h. die Anziehung nach dem und dem Gesetz ist Vorstellung; sein »Dass«, seine Existenz, seine Realität, seine Kraft ist Wille. So ist auch die Welt das, was sie ist und wie sie ist, als Vorstellung des Unbewussten, und die unbewusste Vorstellung hat als Dienerin des Willens, dem sie selbst erst actuelle Existenz verdankt, und gegen den sie keine Selbstständigkeit hat, auch keinen Rath und keine Stimme über das »Dass« der Welt. Der Wille ist in seinem Wesen vorläufig nichts als unvernünftig (vernunftlos, alogisch), indem er aber wirkt, wird er durch die Folgen seines Wollens widervernünftig (vernunftwidrig, antilogisch), indem er die Unseligkeit, das Gegentheil seines Wollens erreicht.26 Dieses widervernünftige Wollen nun,[396] welches schuld ist an dem »Dass« der Welt, dieses unselige Wollen in's Nichtwollen und die Schmerzlosigkeit des Nichts zurückzuführen, diese Aufgabe des Logischen im Unbewussten ist das Bestimmende für das »Was und Wie« der Welt. Für die Vernunft bandelt es sich darum, wieder gut zu machen, was der unvernünftige Wille schlecht gemacht hat. Die unbewusste Vorstellung stellt den Willen vor, wenn auch nicht positiv als Willen, so doch negativ als das Negative des Logischen oder als ihre eigene Grenze, d.h. als das Unlogische, aber sie hat zunächst und als solche keine Macht über den Willen, weil sie keine Selbstständigkeit gegen ihn hat; darum muss sie sich eines Kunstgriffes bedienen, die Blindheit des Willens benutzen und ihm an ihr einen solchen Inhalt geben, dass er durch eigenthümliche Umbiegung in sich selbst in der Individuation in einen Conflict mit sich selbst geräth, dessen Resultat das Bewusstsein, d.h. die Schaffung einer dem Willen gegenüber selbstständigen Macht ist, in welcher sie nun den Kampf mit dem Willen beginnen kann. So erscheint der Weltprocess als ein fortdauernder Kampf des Logischen mit dem Unlogischen, der mit der Besiegung des letzteren endet.A81 Wäre diese Besiegung unmöglich, wäre der Process nicht zugleich Entwickelung zu einem freundlich winkenden Ziele, wäre er endloser oder auch ein dereinst in blinder Nothwendigkeit oder Zufälligkeit sich erschöpfender, so dass aller Witz sich vergeblich bemühte, das Schiff in den Hafen zu steuern, – dann und nur dann wäre die Welt wirklich absolut trostlos, eine Hölle ohne Ausweg, und dumpfe Resignation die einzige Philosophie. Wir aber, die wir in Natur und Geschichte nur einen einzigen grossartigen und wundervollen Entwickelungsprocess erkennen, wir glauben an einen endlichen Sieg der heller und heller hervorstrahlenden Vernunft über die zu überwindende Unvernunft des blinden Wollens, wir glauben an ein Ziel des Processes, das uns die Erlösung von der Qual des Daseins bringt, und zu dessen Herbeiführung und Beschleunigung auch wir im Dienste der Vernunft unser Scherflein beitragen können. (Vgl. meinen Nachweis der Selbstaufhebung des Processes aus dem Begriff der Entwickelung: Ges. phil. Abhandl. Nr. II, S. 50-55).A85

Die Hauptschwierigkeit besteht darin, wie das letzte Ende dieses Kampfes, die schliessliche Erlösung vom Elend des Wollens und Daseins zur Schmerzlosigkeit des Nichtwollens und Nichtseins,[397] kurz wie die gänzliche Aufhebung des Wollens durch das Bewusstsein zu denken sei. Mir ist nur ein Lösungsversuch dieses Problems bekannt, nämlich der Schopenhauer's in §§. 68-71 des ersten Bandes der »Welt als Wille und Vorstellung«, welcher im Wesentlichen mit den in unklarer Weise dasselbe bezweckenden Absichten der mystischen Asketiker aller Zeiten und der buddhistischen Lehre übereinstimmt, wie Schopenhauer selbst ganz richtig hervorhebt (vgl. W. a. W. u. V. II. Capitel 48).

Die Hauptsache dieser Theorie besteht in der Annahme, dass das Individuum vermöge der individuellen Erkenntniss von dem Elend des Daseins und der Unvernunft des Wollens im Stande sei, sein individuelles Wollen aufhören zu lassen, und dadurch nach dem Tode der individuellen Vernichtung anheim zu fallen, oder, wie der Buddhismus es ausdrückt, nicht mehr wiedergeboren zu werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Annahme mit den Grundprincipien Schopenhauer's ganz unvereinbar ist und nur seine überall durchblickende Unfähigkeit, den Begriff der Entwickelung zu fassen, macht die Kurzsichtigkeit erklärlich, welche es ihm unmöglich machte, über diese handgreifliche Inconsequenz in seinem System hinwegzukommen. Diese Inconsequenz muss hier in der Kürze aufgezeigt werden. – Der Wille ist ihm das hen kai pan, das All-Einige Wesen der Welt, und das Individuum nur subjectiver Schein, streng genommen nicht einmal objectiv wirkliche Erscheinung dieses Wesens. Aber wenn es auch Letzteres wäre, wie soll dem Individuum die Möglichkeit zustehen, seinen individuellen Willen als Ganzes nicht bloss theoretisch, sondern auch practisch zu verneinen, da sein individuelles Wollen doch nur ein Strahl jenes All-Einigen Willens ist? Schopenhauer selbst erklärt mit Recht, dass im Selbstmord die Verneinung des Willens nicht erreicht werde, aber im freiwilligen Verhungern soll sie im denkbarst höchsten Maasse erreicht sein (vgl. W. a. W. u. V. 3. Aufl. I, 474). Das klingt doch fast absurd, wenn man seinen Ausspruch daneben hält, »dass der Leib der Wille selbst ist, objectiv angeschaut als räumliche Erscheinung«, woraus doch unmittelbar folgt, dass mit der Aufhebung des individuellen Willens auch seine räumliche Erscheinung, der Leib verschwinden müsste. Nach unserer Auffassung müssten wenigstens mit Aufhebung des individuellen Willens momentan sämmtliche vom unbewussten Willen abhängige organische Functionen, wie Herzschlag, Athmung u.s.w., aufhören und der Leib als Leiche hinstürzen. Dass auch dies empirisch unmöglich ist, wird Niemand[398] bezweifeln; wer aber seinen Leib erst durch Versagung der Nahrung tödten muss, beweist eben damit, dass er nicht im Stande ist, seinen unbewussten Willen zum Leben zu verneinen und aufzuheben.

Aber das Unmögliche als möglich gesetzt, was würde die Folge sein? Einer der vielen Strahlen oder individuellen Objectivationen des Einen Willens, der, welcher sich auf dieses Individuum bezog, wäre aus seiner Actualität zurückgezogen, und dieser Mensch gestorben. Das ist aber nicht mehr und nicht weniger als bei jedem Todesfall geschieht, gleichviel aus welcher Ursache er entsprungen sei, und der All-Einige Wille befindet sich nunmehr in keiner anderen Situation, als wenn jenen Menschen ein Dachziegel erschlagen hätte; er fährt nach wie vor mit ungeschwächten Kräften, mit unverminderter Unendlichkeit und Unersättlichkeit des Lebensdranges fort, das Leben zu packen, wo er dasselbe findet und packen kann; denn Erfahrungen machen und durch Erfahrungen klüger werden, kann er ja nicht, und einen quantitativen Abbruch an seinem Wesen oder seiner Substanz kann er durch Zurückziehen einer bloss einseitigen Bethätigungsrichtung erst recht nicht erleiden. Darum ist das Streben nach individueller Willensverneinung ebenso thöricht und nutzlos, ja noch thörichter als der Selbstmord, weil es langsamer und qualvoller doch nur dasselbe erreicht: Aufhebung dieser Erscheinung, ohne das Wesen zu alteriren, das für jede aufgehobene Individualerscheinung sich unaufhörlich in neuen Individuen objectivirt.A82 Hiermit ist alle Askese und alles Streben nach individueller Willensverneinung als Verirrung erkannt und bewiesen, freilich als eine Verirrung nur im Wege, nicht im Ziele. Weil das Ziel, welches sie erstrebt, ein richtiges ist, darum hat sie als seltenes Beispiel, welches der Welt gleichsam ein memento mori zurufend, sie den Ausgang ihres Strebens vorahnen lässt, einen hohen Werth; schädlich aber und verderblich wird sie, wenn sie, ganze Völker ergreifend, den Weltprocess zur Stagnation zu bringen und das Elend des Daseins zu perpetuiren droht. Was hälfe es z.B., wenn die ganze Menschheit durch geschlechtliche Enthaltsamkeit allmählich ausstürbe, die Welt als solche bestände ja doch weiter und befände sich in keiner wesentlich andern Lage als unmittelbar vor der Entstehung des ersten Menschen auf Erden; ja sogar das Unbewusste würde die nächste Gelegenheit benutzen müssen, einen neuen Menschen oder einen ähnlichen Typus zu schaffen, und der ganze Jammer ginge von vorne an.A83[399]

Blicken wir tiefer in das Wesen der Askese und individuellen Willensverneinung und auf die Stellung, welche sie im historischen Process in ihrer höchsten Blüthe im reinen Buddhismus einnimmt, so erscheint sie als der Ausgang der asiatischen vorhellenischen Entwickelungsperiode, als die Verbindung der Hoffnungslosigkeit für das Diesseits und Jenseits mit dem noch nicht ertödteten Egoismus, welcher nicht an die Erlösung des Ganzen, sondern nur an seine individuelle Erlösung denkt. Wie wir oben die Unsittlichkeit und Verderblichkeit dieses Standpunctes für das Ganze der Menschheit und des Weltprocesses kurz aufzeigten (vgl. S.374-375), so enthüllt sich jetzt die Thorheit desselben für den Einzelnen, der auf ihn baut, indem die individuelle Erlösungshoffnung sich als illusorisch, mithin jedes zu diesem Zweck angewandte Mittel (also auch der Quietismus, insofern er nicht einem individuell oder national gefärbten Epikurëismus dienen, sondern zur Erlösung durch individuelle Willensverneinung führen soll) sich als verkehrt herausgestellt hat.

Auch Schopenhauer will im Grunde genommen etwas anderes als er sagt; auch ihm schwebt als allein der Mühe werthes Ziel eine Universalwillensverneinung in nebelhaften Umrissen vor, wie z.B. folgende Stelle beweist: »Nach dem, was im zweiten Buch über den Zusammenhang aller Willenserscheinungen gesagt ist, glaube ich annehmen zu können, dass mit der höchsten Willenserscheinung (der Menschheit) auch der schwächere Widerschein derselben, die Thierheit, (und die noch tieferen Stufen der Willensobjectivation) wegfallen würde; wie mit dem vollen Lichte auch die Halbschatten verschwinden« (W. a. W. u. V. 3. Aufl. I. 449). Auf der folgen den Seite weist er unter andern auch auf die Bibelstelle Rom. 8, 22 hin, in welcher es heisst: »Denn wir wissen, dass alle Creatur sehnet sich mit uns« nach der Erlösung, sie erwartet aber ihre Erlösung »von uns, die wir des Geistes Erstlinge haben«. Solche tiefere Perspectiven kommen aber gleichwohl für Schopenhauers ausdrücklich erklärten Standpunkt nicht in Betracht, nicht nur, weil ihre Durchführung zunächst ein Aufgeben des lezteren erfordern würde, sondern auch weil ihre Durchführung bei der unhistorischen Weltanschauung seines subjectiven Idealismus gar nicht möglich ist. Sie wird es erst, wenn die Realität der Zeit und die positive Bedeutung der zeitlichen, d.h. geschichtlichen Entwickelung anerkannt ist, durch deren summirte Fortschritte die Aussicht auf eine künftige Erreichung solcher Menschheitszustände eröffnet wird, welche das[400] jetzt absurd Erscheinende vielleicht doch einst Verwirklichung gewinnen lassen.

Für Denjenigen, welcher den Begriff der Entwickelung gefasst hat, kann es nicht zweifelhaft sein, dass das Ende des Kampfes zwischen dem Bewusstsein und dem Willen, zwischen dem Logischen und Unlogischen nur am Ziele der Entwickelung, am Ausgang des Weltprocesses liegen kann; für Denjenigen, welcher vor Allem an der All-Einheit des Unbewussten festhält, ist die Erlösung, die Umwendung des Wollens in's Nichtwollen, auch nur als All-Einiger Act, nicht als individuelle, sondern nur als kosmisch-universale Willensmeinung zu denken, als der Act, der das Ende des Processes bildet, als der jüngste Augenblick, nach welchem kein Wollen, keine Thätigkeit, »keine Zeit mehr sein wird«. (Off. Joh. 10, 6.) Dass der Weltprocess nicht ohne ein zeitliches Ende, nicht von unendlicher Dauer gedacht werden kann, wird vorausgesetzt; denn wenn das Ziel in unendlicher Zeitferne läge, so würde eine noch so lange endliche Dauer des Processes dem Ziele, das immer noch unendlich fern bliebe, um nichts näher gekommen sein; der Process würde also kein Mittel mehr sein, das Ziel zu erreichen, mithin würde er zweck- und ziellos sein. So wenig es sich mit dem Begriffe der Entwickelung vertragen würde, dem Weltprocess eine unendliche Dauer in der Vergangenheit zuzuschreiben, weil dann jede irgend denkbare Entwickelung bereits durchlaufen sein müsste, was doch nicht der Fall ist, ebenso wenig können wir dem Process eine unendliche Dauer für die Zukunft zugestehen; Beides höbe den Begriff der Entwickelung zu einem Ziele auf und stellte den Weltprocess dem Wasserschöpfen der Danaiden gleich. Der vollendete Sieg des Logischen über das Unlogische muss also mit dem zeitlichen Ende des Weltprocesses, dem jüngsten Tage, zusammenfallen.

Ob die Menschheit einer so hohen Steigerung des Bewusstseins fähig sein wird, oder ob eine höhere Thiergattung auf Erden entstehen wird, welche, die Arbeit der Menschheit fortsetzend, das Ziel erreicht, oder ob unsere Erde überhaupt nur ein verfehlter Anlauf zu jenem Ziele ist und dasselbe erst später, wenn unser kleiner Planet längst zu den erstarrten Himmelskörpern gehört, auf einem der uns unsichtbaren Planeten eines andern Fixsterns unter günstigeren Bedingungen erreicht werden wird, ist schwer zu sagen. So viel ist gewiss, wo auch der Process zum Austrag kommen mag, das Ziel des Processes und die kämpfenden Momente werden in[401] dieser Welt immer dieselben sein.A84 Wenn wirklich schon die Menschheit fähig und berufen ist, den Weltprocess zum endgültigen Ausgang zu bringen, so wird sie es jedenfalls auf der Höhe ihrer Entwickelung unter den günstigsten Bewohnbarkeitsverhältnissen der Erde thun müssen, und desshalb brauchen wir uns für diesen Fall nicht zu kümmern um die naturwissenschaftlichen Perspective einer einstigen Vereisung und Erstarrung der Erde, da dann eben lange vor Eintritt einer derartigen Erdabkühlung der Weltprocess überhaupt abgeschnitten und das Dasein dieses Kosmos mit allen seinen Weltlinsen und Nebelflecken aufgehoben sein würde.

Schopenhauer nimmt keinen Anstand, den Menschen der Aufgabe gewachsen zu erklären, aber er ist nur deshalb so entschieden weil er die Aufgabe individuell fasst, während wir sie universell fassen müssen, wo sie natürlich ganz andere Bedingungen erfordert, die wir bald näher betrachten wollen. Wie dem auch sei, von der uns bekannten Welt sind wir einmal die Erstlinge des Geistes und müssen redlich kämpfen; gelingt der Sieg nicht, so ist es nicht unsere Schuld; wären wir aber fähig zum Siege, und würden wir nur aus Trägheit verfehlen, ihn zu erringen, so würden wir, d.h. das Weltwesen, welches auch wir ist, als immanente Strafe um so viel länger die Qual des Daseins tragen müssen. Darum rüstig vorwärts im Weltprocess als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Process allein ist es, der zur Erlösung27 führen kann!

Hier sind wir auf den Punct gelangt, wo die Philosophie des Unbewussten ein Princip gewinnt, welches allein die Basis der practischen Philosophie bilden kann. Die Wahrheit vom ersten Stadium der Illusion war die Verzweifelung am gegenwärtigen Diesseits, die Wahrheit vom zweiten Stadium der Illusion war die Verzweifelung auch am Jenseits, die Wahrheit vom dritten Stadium der Illusion war die absolute Resignation auf das positive Glück. Alle diese Standpuncte sind bloss negativ, die practische Philosophie und das Leben aber brauchen einen positiven Standpunct, und dies ist die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprocess um seines Zieles, der allgemeinen Welterlösung willen (nicht mehr wie im dritten Stadium der Illusion in der[402] Hoffnung auf ein positives Glück im späteren Verlauf des Processes). Anders ausgedrückt, das Princip der practischen Philosophie besteht darin, die Zwecke des Unbewussten zu Zwecken seines Bewusstseins zu machen, was sich unmittelbar aus den beiden Prämissen ergiebt, dass erstens das Bewusstsein das Ziel der Welterlösung vom Elend des Wollens zu seinem Ziel gemacht hat, und dass es zweitens die Ueberzeugung von der Allweisheit des Unbewussten hat, in Folge deren es alle vom Unbewussten aufgewendeten Mittel als die möglichst zweckmässigen anerkennt, selbst wenn es im einzelnen Falle geneigt sein sollte, hieran Zweifel zu hegen.A86Da die Selbstsucht, der Urquell alles Bösen, welche theoretisch bereits durch Anerkennung des Monismus als nichtig constatirt ist, practisch durch nichts anderes wirksam gebrochen werden kann, als durch die Erkenntniss von der illusorischen Beschaffenheit alles Strebens nach positiver Glückseligkeit, so ist die geforderte volle Hingabe der Persönlichkeit an das Ganze auf diesem Standpunct leichter möglich als auf irgend einem anderen (S. 372). Da ferner die Furcht vor dem Schmerz, die Furcht vor der ewigen Verlängerung des sinnlich – gegenwärtigen Schmerzes allemal ein weit energischeres Motiv zum thätigen Handeln abgiebt als die Hoffnung auf ein als zukünftig vorgestelltes Glück, so wird auf diesem Standpuncte der Instinct noch weit kräftiger als im dritten Stadium der Illusion durch die blosse Aufhebung des Egoismus (S. 373-374) wieder in seine Rechte eingesetzt und die Bejahung des Willens zum Leben als das vorläufig allein Richtige proclamirt; denn nur in der vollen Hingabe an das Leben und seine Schmerzen, nicht in feiger persönlicher Entsagung und Zurückziehung ist etwas für den Weltprocess zu leisten. Der denkende Leser wird auch ohne weitere Andeutungen verstehen, wie eine auf diesen Principien errichtete practische Philosophie sich gestalten würde, und dass eine solche nicht die Entzweiung, sondern nur die volle Versöhnung28 mit dem Leben enthalten kann.A87 Es ist jetzt auch ersichtlich, wie nur die hier entwickelte Einheit des Optimismus und Pessimismus, von der jeder Mensch ein unklares Abbild als Richtschnur seines Handelns in sich trägt, im Stande ist, einen energischen, und zwar den denkbar stärksten Impuls zum thätigen Handeln zu geben, während der einseitige Pessimismus aus nihilistischer Verzweiflung,[403] der einseitige und wirklich consequente Optimismus aus behaglicher Sorglosigkeit zum Quietismus führen muss. [Für diejenigen Leser, welche den Standpunct unserer Zeit, den ich das dritte Stadium der Illusion nenne, für den wahren halten, und nicht gewillt sind, es für möglich zu erachten, dass auch dieser einst in der von mir angedeuteten Weise von der weiteren historischen Entwickelung des Menschheitsbewusstseins werde als Illusion erkannt werden, will ich noch bemerken, dass die hier ausgesprochenen Grundsätze (die Zwecke des Unbewussten zu Zwecken des Bewusstseins zu machen etc.) für sie ebenso gültig bleiben, als die bei Gelegenheit des dritten Stadiums der Illusion gemachten Bemerkungen gegen den Egoismus (Selbstmord, Quietismus etc.) für den hier erreichten Standpunct ihre Gültigkeit behalten, da es für beides gleichgültig ist, ob das letzte Ziel der Weltentwickelung positiv oder negativ gedacht wird.]A88

Wir haben uns schliesslich noch mit der Frage zu beschäftigen, auf welche Weise das Ende des Weltprocesses, die Aufhebung alles Wollens in's absolute Nichtwollen, mit welchem bekanntlich alles sogenannte Dasein (Organisation, Materie u.s.w.) eo ipso verschwindet und aufhört, zu denken sei. Unsere Kenntnisse sind viel zu unvollkommen, unsere Erfahrungen zu kurz und die möglichen Analogien zu mangelhaft, um auch nur mit einiger Sicherheit uns von jenem Ende des Processes eine Vorstellung bilden zu können, und bitte ich den geneigten Leser, das Folgende ja nicht etwa für eine Apokalypse des Weltendes, sondern nur für Andeutungen zu nehmen, welche darthun sollen, dass die Sache nicht ganz so undenkbar ist, als sie Manchem auf den ersten Blick wohl scheinen möchte. Aber selbst Denjenigen, welchen diese Aphorismen über die Art und Weise der Denkbarkeit jenes Ereignisses noch mehr abstossen sollten, als die nackte Behauptung desselben, bitte ich doch, sich an der erwiesenen Nothwendigkeit jenes einzig möglichen Zieles des Weltprocesses nicht durch die Schwierigkeiten irre machen zu lassen, welche es für uns auf einem vom Ende noch so entfernten Standpunct hat, das Wie der Sache zu begreifen.29 Natürlich können wir überhaupt nur den[404] Fall in's Auge fassen, dass die Menschheit und nicht eine andere uns unbekannte Gattung von Lebewesen zur Lösung der Aufgabe berufen ist.

Die erste Bedingung zum Gelingen des Werkes ist die, dass der bei weitem grösste Theil des in der bestehenden Welt sich manifestirenden unbewussten Geistes in der Menschheit befindlich sei; denn nur dann, wenn die negative Seite des Wollens in der Menschheit die Summe alles übrigen in der organischen und unorganischen Welt sich objectivirenden Willens überwiegt, nur dann kann die menschheitliche Willensverneinung das gesammte actuelle Wollen der Welt ohne Rest vernichten, und den gesammten Kosmos durch Zurückziehung des Wollens, in welchem er allein besteht, mit einem Schlage verschwinden lassen. (Darum allein aber handelt es sich hier, nicht etwa um einen blossen Massenselbstmord der Menschheit, dessen völlige Nutzlosigkeit für das Ziel des Weltprocesses schon oben dargethan ist). Diese Annahme nun, dass dereinst der grössere Theil des actuellen Wollens oder des functionirenden unbewussten Geistes in der Menschheit bethätigt sein könne, scheint keinen principiellen Schwierigkeiten unterworfen zu sein. Auf der Erde sehen wir den Menschen immer mehr die übrigen Thiere und die Wälder verdrängen bis auf diejenigen Thiere und Pflanzen, die er für sich benutzt. Künftige, noch ungeahnte Fortschritte der Chemie und Landwirthschaft können die Vermehrung der Erdbevölkerung auf eine sehr bedeutende Höhe erlauben, während sie jetzt schon über 1300 Millionen beträgt, wo erst ein verhältnissmässig geringer Theil des festen Landes eine so dichte Bevölkerung trägt, als die schon unserem heutigen Culturstandpunct bekannten Mittel der Ernährung eines Volkes gestatten. Von den Gestirnen ist nur ein verschwindend kleiner Theil gerade in derjenigen kurzen Periode der Abkühlung, welche ein Bestehen von Organismen erlaubt; aber abgesehen davon, dass zur Entstehung einer üppigen Organisation noch ganz andere Bedingungen als bloss die richtige Temperatur gehören (z.B. Bestrahlung durch Lichtstrahlen, angemessener atmosphärischer Druck, Vorhandensein von Wasser, richtige Mischung der chemischen Bestandtheile der Atmosphäre u.s.w.), wird von jener verschwindend kleinen Zahl, welche überhaupt Organisation tragen, doch wieder nur ein abermals verschwindend[405] kleiner Theil fähig sein, Wesen von einer dem Menschen annähernd gleichkommenden Organisationsstufe zu erzeugen. Die siderischen Entwickelungen messen nach so ungeheueren Zeiträumen, dass es schon a priori etwas sehr Unwahrscheinliches hat, wenn das Bestehen einer hochorganisirten Gattung auf einem anderen Gestirn gerade mit der Dauer der Menschheit auf Erden zusammenfallen sollte.A89 – Wie viel grösser ist nun aber der in einem gebildeten Menschen sich offenbarende Geist, als der in einem Thiere oder einer Pflanze, wie viel grösser erst als der in einem unorganisirten Complex von Atomen! Man darf nicht den Fehler begehen, die Stärke des thätigen Willens bloss nach dem mechanischen Effect zu schätzen, d.h. nach dem Maasse des überwundenen Widerstandes von Atomkräften; dies wäre höchst einseitig, da die Aeusserung des Willens in den Atomkräften nur die niedrigste Art ist. Der Wille aber hat noch ganz andere Ziele und kann ein Kampf der heftigsten Begehrungen stattfinden ohne einen irgend merklichen Einfluss auf die Lagerung der Atome. Darum scheint mir die Annahme nichts Anstössiges zu enthalten, dass dereinst in ferner Zukunft die Menschheit eine solche Menge Geist und Willen in sich vereinigen könne, dass der in der übrigen Welt thätige Geist und Willen durch ersteren bedeutend überwogen wird.

Die zweite Bedingung für die Möglichkeit des Sieges ist, dass das Bewusstsein der Menschheit von der Thorheit des Wollens und dem Elend alles Daseins durchdrungen sei, dass dieselbe eine so tiefe Sehnsucht nach dem Frieden und der Schmerzlosigkeit des Nichtseins erfasst habe, und alle bisher für das Wollen und Dasein sprechenden Motive so sehr in ihrer Eitelkeit und Nichtigkeit durchschaut sind, dass jene Sehnsucht nach der Vernichtung des Wollens und Daseins zur widerstandslosen Geltung als practisches Motiv gelangt. Nach dem vorigen Capitel ist diese Bedingung eine solche, deren Erfüllung im Greisenalter der Menschheit wir mit grösster Wahrscheinlichkeit entgegengehen, indem zunächst die theoretische Erkenntniss vom Elend des Daseins als Wahrheit begriffen wird, und diese Erkenntniss nach und nach mehr und mehr das entgegenstehende instinctive Gefühlsurtheil überwindet, und selbst zu einem practisch wirksamen Gefühl wird, das als Einheit von gegenwärtiger Unlust, nachempfindender Erinnerung und vorempfindender Sorge und Furcht zu einem das ganze Leben des Einzelnen und durch das Mitgefühl die ganze Welt umspannenden Gesammtgefühl in jedem Individuum wird, welches zuletzt zur unumschränkten Herrschaft[406] gelangt. Ein Zweifel an der allgemeinen Motivationsfähigkeit einer solchen zuerst allerdings in mehr oder minder abstracter Form auftauchenden und mitgetheilten Idee wäre nicht berechtigt, denn es ist der überall zu beobachtende Gang historisch maassgebender Ideen, welche im Kopfe eines Einzelnen entsprungen sind, dass sie, obwohl sie nur in abstracter Form mitgetheilt werden können, doch je länger je mehr in das Gefühl der Massen eindringen und zuletzt den Willen derselben bis zu einer nicht selten an Fanatismus grenzenden Leidenschaftlichkeit aufregen. Aber wenn je eine Idee schon als Gefühl geboren ist, so ist es das pessimistische Mitleid mit sich selbst und allem Lebenden und die Sehnsucht nach dem Frieden des Nichtseins, – und wenn je eine Idee berufen war, ohne Wildheit und Leidenschaftlichkeit in stiller aber concentrirter und nachhaltiger Innerlichkeit ihre historische Mission zu erfüllen, so ist es diese. Da erfahrungsmässig schon die mit den Zwecken des Unbewussten in Widerspruch stehende individuelle Willensverneinung in so zahlreichen Fällen ein hinreichendes Motiv lieferte, um den instinctiven Willen zum Leben in quietistisch ascetischer Selbstertödtung zu überwinden (freilich ohne jedes metaphysische Resultat), so ist nicht einzusehen, warum nicht am Ende des Weltprocesses die den Endzweck des Unbewussten erfüllende universelle Willensverneinung ebenfalls im Stande sein sollte, ein hinreichendes Motiv zu liefern, um den instinctiven Willen zum Leben zu überwinden, zumal ja alles Schwere um so leichter vollbracht wird; von je grösserer Gesellschaft es im Verein vollbracht wird. Es ist ferner wohl zu beachten, dass die Menschheit viele Generationen Zeit hat, um die dem pessimistischen Gefühl und der Sehnsucht nach dem Frieden widerstrebenden Leidenschaften allmählich durch Gewohnheit und Vererbung zu mildern und abzustumpfen, und um die pessimistische Stimmung durch Vererbung zu potenziren. Schon gegenwärtig können wir bemerken, dass die naturwüchsige Kraft der Leidenschaft und ihre dämonische Gewalt den nivellirenden und abschwächenden Einflüssen des modernen Lebens kein unerhebliches Gebiet hat räumen müssen, und dieser Abschwächungs-Process wird um so erheblichere weitere Resultate erzielen, je geordnetere Zustände des Rechts und der Sitte die persönliche Willkür einengen, und je verstandesmässiger das Leben nach der Schablone trivialer Lebensklugheit von Kind auf gegängelt wird. Es gehört mit zu der Signatur des Alterns der Menschheit, dass dem Wachsthum an intellectueller Klarheit nicht ein Wachsthum, sondern eine Verminderung der Energie des[407] Gefühls und der Leidenschaft gegenübersteht, dass also der unleugbar auf jeder Stufe vorhandene motivirende Einfluss des bewussten Intellects auf das Gebiet des Fühlens und Wollens aus zwiefachem Grunde beständig im Zunehmen ist, bis sie im Greisenalter der entschieden dominirende wird. Auch aus diesem Gesichtspuncte erscheint also die Möglichkeit nichts weniger als fernliegend, dass das pessimistische Bewusstsein dereinst zum dominirenden Motiv der Willensentscheidung werde. – Wir können diese zweite Bedingung noch dahin modificiren, dass nicht die ganze Menschheit, sondern nur ein so grosser Theil derselben von diesem Bewusstsein durchdrungen zu sein braucht, dass der in ihr wirksame Geist die grössere Hälfte des in der ganzen Welt thätigen Geistes ist.

Die dritte Bedingung ist eine genügende Communication unter der Erdbevölkerung, um einen gleichzeitigen gemeinsamen Entschluss derselben zu gestatten. In diesem Puncte, dessen Erfüllung nur von Vervollkommnung und geschickterer Anwendung technischer Erfindungen abhängt, hat die Phantasie freien Spielraum.

Nehmen wir diese Bedingungen als gegeben an, so ist die Möglichkeit vorhanden, dass die Majorität des in der Welt thätigen Geistes den Beschluss fasse, das Wollen aufzuheben.


Es entsteht nun die weitere Frage, ob in der Natur des Willens, seiner Functionsweise und der Art seiner Bestimmung durch Motive überhaupt die Möglichkeit gegeben sei, zu einer universellen Willensverneinung zu gelangen, vorausgesetzt, dass der überwiegende Theil des actuellen Weltwillens in derjenigen Masse bewussten Geistes enthalten sei, welche sich a tempo zum Nichtmehrwollen entschliesst, – gleichviel ob diese Voraussetzung innerhalb der Menschheit oder einer andern Species, oder ob sie erst unter ganz andern Existenzbedingungen einer künftigen Entwickelungsphase des Kosmos erfüllt werden mag. Wir haben zur Entscheidung dieser letzten Frage auf unsre Kenntnisse von der Natur des Wollens und der aus ihr folgenden Gesetze der Motivation zurückgreifen (vgl. Cap. B. XI. Anfang und 4.), wobei wir annehmen, dass diese beiden in jeder möglichen Objectivationsform des Willens identisch bleiben müssen.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein besonderes Wollen im Menschen, ein Begehren, Affect oder Leidenschaft unter Umständen durch den Einfluss der bewussten Vernunft für den besonderen Fall, um den es sich handelt, aufgehoben werden kann. Wenn ich z.B.[408] mit einer That oder einem Werk nach Ehre strebe, und die Vernunft mir sagt, dass Diejenigen, nach deren Anerkennung ich geize, Narren und Dummköpfe sind, so wird diese Einsicht, wenn sie überzeugend und kräftig genug dazu ist, im Stande sein, meinen Ehrgeiz, für diesen Fall wenigstens, aufzuheben. Nun sind aber alle Psychologen darüber einig, dass eine solche Aufhebung nicht durch directen Einfluss der Vernunft, auf das aufzuhebende Begehren zu denken sei, sondern nur indirect durch Motivation oder Erregung eines entgegengesetzt gerichteten Begehrens, welches nun seinerseits mit dem ersten in eine Collision kommt, deren Resultat ist, dass beide sich zur Null paralysiren. Nur auf dieselbe Weise ist die Aufhebung des positiven Weltwillens zu denken, den Schopenhauer den Willen zum Leben nennt. Nicht die bewusste Erkenntniss direct kann den Willen mindern oder aufheben, sondern sie kann nur einen entgegengesetzt gerichteten, also negativen Willen erregen, der um seinen Stärkegrad den positiven Willen vermindert. Ganz unstatthaft ist hiernach Schopenhauer's Lehre von dem in einer ganz anderartigen Erkenntnissweise bestehenden Quietiv des Wollens, vor welchem die Motive unwirksam werden sollen, und welches der einzige mögliche Fall eines Eingreifens der transcendenten Freiheit des Willens in die Welt der Erscheinungen sein soll. (Vgl. W. a. W. und V. Bd. II. S. 476-477.) Solche unbegreifliche, durch Nichts zu rechtfertigende Wunder sind bei unserer Auffassung überflüssig. Wie schön sagt dagegen Schelling (II. 3., S. 206): »Selbst Gott kann den Willen nicht anders als durch ihn selbst besiegen.«

Wenn bei dem Kampf der speciellen Begehrungen oftmals zwei Begehren trotz des Kampfes keine gegenseitige Aufhebung bewirken, so kommt dies entweder daher, dass sie nur theilweise entgegengesetzt sind, theilweise aber verschiedene Seitenziele verfolgen, also ihre Richtungen gleichsam nur einen Winkel bilden; oder aber es kommt daher, dass das eine Begehren zwar in der That fortwährend vernichtet wird, aber ebenso fortwährend aus dem fortbestehenden Grunde des Unbewussten instinctiv neu geboren wird, so dass der Schein entsteht, als wäre es gar nicht alterirt worden. Bei der Opposition der Willensbejahung und Willensverneinung ist der Gegensatz so mathematisch streng, dass ersterer Fall gewiss nicht eintreten kann, und für ein sofortiges Wiederauftauchen des Weltwillens nach seiner totalen Vernichtung fehlt wenigstens die Analogie mit dem einzelnen Begehren vollständig, weil bei letzterem der Hintergrund des actuellen Weltwillens, bei ersterem aber gar[409] nichts Actuelles mehr bestehen bleibt. (Uebrigens wird die Möglichkeit eines Wiederauftauchens im folgenden Capitel noch Berücksichtigung finden.) So lange also der vom Bewusstsein motivirte Oppositionswille noch nicht die Stärke des aufzuhebenden Weltwillens erreicht hat, so lange wird der stetig vernichtete Theil sich stetig wieder erneuen, gestützt auf den übrig bleibenden Theil, welcher die positive Richtung des Wollens auch fernerhin sichert, sobald aber ersterer die gleiche Stärke wie letzterer erlangt hat, so ist kein Grund abzusehen, warum nicht beide sich vollständig paralysiren und auf Null reduciren, d.h. ohne Rest vernichten sollten. Ein negativer Ueberschuss ist schon darum undenkbar, weil der Nullpunct das Ziel des negativen Willens ist, welches er ja gar nicht überschreiten will.

Die Motivirung oder Erregung des negativen Willens durch die bewusste Erkenntniss ist nach Analogie der Erregung eines speciellen negativen Begehrens durch vernünftige Einsicht nicht bloss denkbar, sondern gefordert, denn hier im Universellen ist gerade wie im Einzelnen der Grund, aus dem heraus die Vernunft den bewussten Oppositionswillen motivirt, kein anderer als ein eudämonologischer, die Rücksicht auf den erreichbar glücklichsten Gesammtzustand, über welches Ziel der positiv gerichtete unbewusste Wille in seiner Blindheit hinwegschiesst zu seiner Qual. Dieses Streben nach grösstmöglichem Befriedigungszustand, welchen der blinde Wille nur aus Unverstand in verkehrter Richtung sucht, gehört also wirklich ganz universell zur Natur des Willens selbst, und wo immer im Kosmos ein so hohes Bewusstsein entstehen mag, dass es die Verkehrtheit des Weges zum Ziele einsieht, da überall wird nothwendig ein bewusstes Wollen aus dieser Erkenntniss motivirt werden, welches den grösstmöglichen Befriedigungszustand auf dem entgegengesetzten Wege, nämlich auf dem Wege der Willensverneinung, zu erreichen sucht.

Das Resultat der letzten drei Capitel ist also folgendes. Das Wollen hat seiner Natur nach einen Ueberschuss von Unlust zur Folge. Das Wollen, welches das »Dass« der Welt setzt, verdammt also die Welt, gleichviel wie sie beschaffen sein möge, zur Qual. Zur Erlösung von dieser Unseligkeit des Wollens, welche die Allweisheit oder das Logische der unbewussten Vorstellung direct nicht herbeiführen kann, weil es selbst unfrei gegen den Willen ist, schafft es die Emancipation der Vorstellung durch das Bewusstsein, indem es in der Individuation den Willen so zersplittert, dass seine gesonderten[410] Richtungen sich gegen einander wenden. Das Logische leitet den Weltprocess auf das Weiseste zu dem Ziele der möglichsten Bewusstseinsentwickelung, wo anlangend das Bewusstsein genügt, um das gesammte actuelle Wollen in das Nichts zurückzuschleudern, womit der Process und die Welt aufhört, und zwar ohne irgend welchen Rest aufhört, an welchem sich ein Process weiterspinnen könnte. Das Logische macht also, dass die Welt eine bestmögliche wird, nämlich eine solche, die zur Erlösung kommt, nicht eine solche, deren Qual in unendlicher Dauer perpetuirt wird.A90[411]

A80

S. 391 Z. 9. (»Ges. Stud. u. Aufsätze« D. III.)

26

Man darf dieses Alogische, das nach der Hand zu einem Antilogischen wird, nicht etwa als ein sich hierbei Veränderndes ansehen, sondern alogisch ist es an und für sich, insofern es ausser aller Beziehung und Berührung mit dem Logischen und diesem gänzlich fern steht, während es sich als antilogisch erweist, indem es durch seine Bethätigung zu dem Logischen in Beziehung kommt, welches letztere nun nicht umhin kann, in dieser Bethätigung des Alogischen einen Gegensatz zu seiner eigenen Natur, also ein Antilogisches im Gegensatz zum Logischen, zu finden und ihm als solchen entgegenzutreten. Gäbe es gar kein logisches Princip, wäre das andre Princip, welches nicht das logische ist, das einzige, so könnte auch seine Bethätigung niemals antilogisch genannt werden, und insofern ist es dem Alogischen zufällig, dass es hintennach zum Antilogischen wird, in demselben Sinne wie es ihm zufällig ist, dass es neben und ausser ihm überhaupt noch ein logisches Princip giebt.

A81

S. 397 Z. 19. Diesen »fortdauernden Kampf des Logischen mit dem Unlogischen« darf man nicht als einen realen Widerstreit auffassen, in welchem das Logische und das Unlogische wie getrennte Heerhaufen mit einander ringen, und noch weniger als einen realdialectischen Process, durch welchen innerhalb jedes Individuums ein beständiger Widerspruch zwischen den verkoppelten feindlichen Brüdern gesetzt wäre, sondern nur als einen logischen oder ideellen Gegensatz, der erst beim Abschluss des Weltprocesses, d.h. im Moment des Sieges des Logischen, eine reale Bedeutung gewinnt. Keiner von den beiden Gliedern des Gegensatzes ist an und für sich reell; schon darum können sie nicht in reellen Widerstreit gegen einander eintreten. Keiner von den beiden ist aber auch an und für sich gegen den andern selbstständig; jeder ist nur in und mit dem andern, und ohne ihn so gut wie nichts. Die Idee ist rein ideal, d.h. ohne Realisirungstrieb, wenn nicht der Wille hinzukommt; der Wille ist zwar Realisationtendenz, ist aber wegen seiner Leerheit unfähig, etwas zu realisiren, wenn nicht die Idee hinzukommt und ihm einen Inhalt giebt. In realen Widerstreit können also immer nur Factoren treten, deren jeder schon Einheit von Idee und Wille ist; dies gilt in gleichem Maasse für den Kampf der Völker oder Individuen gegen einander wie für den Widerstreit entgegengesetzter Bestrebungen und Gefühle im menschlichen Herzen. Aller reale Kampf zwischen ideeerfüllten Willensacten in der Welt ist aber letzten Endes ebenso wie alle Spaltung des Willens oder Individuation nur ein Mittel für den Austrag des ideellen Widerstreites zwischen Idee und Wille, oder zwischen Logischem und Unlogischem; denn indem die Idee dem Willen einen solchen Inhalt giebt, dass er sich selbst bekämpft und schliesslich sich selbst vernichtet, macht sie den blinden Willen zum realen Werkzeug ihres ideellen Widerstreites gegen ihn.

A85

S. 397 Z. 4 v. u. »Ges. Stud. u. Aufs.« S. 629-634.

A82

S. 399 Z. 26. Man sieht hieraus, dass die individuelle Willensverneinung, selbst wenn sie zu irgend einem Resultat fahren könnte, doch nur die concrete Erscheinung betreffen würde, ohne jemals das dieser Erscheinung zu Grunde liegende Wesen zu alteriren. Wenn aber im Ernst die Behauptung festgehalten werden sollte, dass die individuelle Willensverneinung das Wesen des Willens zum Leben selbst afficiren und negiren könne, so würde sich aus den monistischen Voraussetzungen sofort ergeben, dass alsdann das erste die Willensverneinung wirklich in sich vollbringende Individuum den Allwillen, den Willen zum Leben in seiner absoluten Totalität aufheben, d.h. die ganze Welt mit einem Schlage vernichten müsste. Diese Consequenz sieht sogar Schopenhauer selbst sich genöthigt, gelegentlich anzuerkennen. Er sagt (W. a. W. u. V. I, S. 153) nach einer Erörterung der von der Vielheit der Objectivationsstufen und der Individuenzahl auf jeder Stufe unberührten Einheit des Willens Folgendes: »Daher könnte man auch behaupten, dass wenn, per impossibile, ein einziges Wesen, und wäre es das geringste, gänzlich vernichtet würde, mit ihm die ganze Welt untergehen müsste.« Im Gefühl hiervon sagt der grosse Mystiker Angelus Silesius:

»Ich weiss, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben:

Werd' ich zunicht; er muss von Noth den Geist aufgeben.«

An dieser Stelle leuchtet ihm selbst ein, dass man eine solche Annahme nur per impossibile machen könne; bei seiner individuellen Erlösungstheorie hat er diese Unmöglichkeit sichtlich aus den Augen gelassen, wenn er sich bemüht, einen Unterschied im Effect zwischen Selbstmord und asketischer Abtödtung des Leibes und des Lebenswillens aufrecht zu halten.

A83

S. 399 letzte Z. Obwohl diese Stelle schon in der ersten Auflage dieses Werkes gestanden hat, ist sie nicht im Stande gewesen, mich gegen die immer wiederkehrende Beschuldigung zu schützen, dass ich einen »Massenselbstmord der Menschheit« lehre, den ich auch auf S. 405 Z. 13-16 ausdrücklich perhorrescire. Was für das Aussterben des Menschengeschlechts durch geschlechtliche Enthaltsamkeit gilt, würde doch wohl erst recht für einen Collectivselbst mord der Menschheit (etwa durch Dynamit oder noch aufzufindende Gewaltmittel) gelten. Der Process ginge in beiden Fällen nicht nur ruhig weiter, sondern wäre einfach auf das Stadium vor Entstehung der Menschheit auf Erden zurückgeschraubt, anstatt irgendwie gefordert zu sein. Es liegt auf der Hand, dass ein »Ende des Weltprocesses« nicht innerhalb der anorganischen Gesetze des Weltprocesses entspringen kann, da aus diesen immer nur Umformungen der Kraft nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft hervorgehen können. Ein Ende des Weltprocesses kann nur als ein übernatürlicher Act gedacht werden, durch welchen das Weltwesen sich aus der bisherigen Willensmanifestation zurückzieht und mit der Erscheinungswelt auch ihre Gesetze und ihre Scheinsubstanz (die Materie) aufhebt. Wessen Verstand einen so unüberwindlichen Respect vor den Naturgesetzen hat, dass er dieselben für ewig hält, der muss den Gedanken an ein Ende des Weltprocesses als eine bodenlose Phantasie belächeln. Das kann ich Niemandem verwehren, wenngleich ich als Metaphysiker sagen muss, dass mein Respect vor den Naturgesetzen nicht weiter reicht wie die Erscheinungswelt und die innerhalb ihrer sich abspielenden Processe. Aber das muss ich jedem verwehren, dass er mir als meine Lehre einen Unsinn unterstellt, an den ich niemals auch nur von Ferne gedacht habe, nämlich die Behauptung, dass durch natürliche Mittel, wie einen Collectivselbstmord der Menschheit, eine mehr als natürliche Wirkung innerhalb der Erscheinungswelt zu Stande kommen könne. Für einen übernatürlich verstandenen Act der universellen Willensverneinung würde die Bezeichnung »universeller Selbstmord« schon darum nicht passen, weil »Mord« nur die gewaltsame Ueberführung aus Leben in Tod, d.h. aus einem natürlichen Zustand in den andern bedeutet, aber niemals der Uebergang aus der phänomenalen Existenzweise in eine rein metaphysische actualitätslose Wesenheit bedeuten kann, für welche Tod und Leben gleichmässig aufgehört haben.

A84

S. 402 Z. 1. Aus dieser Stelle geht hervor, wie unbegründet der häufig gegen mich erhobene Vorwurf ist, dass meine Weltanschauung geocentrisch oder anthropocentrisch sei. Ich leugne gar nicht die Möglichkeit, dass die Menschheit und damit die Erde unfähig zur Lösung einer so schweren Aufgabe sein könne, sei es, dass die Arbeit der Menschheit als ein vergeblicher Anlauf ungenutzt aus dem Weltprocesse ausscheidet, sei es, dass sie in einer uns jetzt noch nicht verständlichen Weise als werthvolle Stufe zum aufgehobenen Moment einer weitergehenden Entwickelung wird (vgl. »Senk., Schop. Hegel.« S. 233-234). Meine Weltanschauung ist nur noocentrisch; d.h. der bewusste Geist ist in ihr der ideale und teleologische Mittelpunkt, um den der Weltprocess einschliesslich des Naturprocesses sich dreht. Nur deshalb, weil der bewusste Geist sich unserer Erfahrung bis jetzt ausschliesslich in der Menschheit auf Erden darbietet, nur deshalb sind wir bis jetzt genöthigt, unsern Blick auf die Menschheit zu concentriren und auf der Erde den alleinigen Schauplatz unserer Pflichterfüllung und unserer Mitwirkung am Weltprocess zu suchen. In dem Augenblick, wo es uns gelingen würde, bewusste Geister auf andern Schauplätzen erfahrungsmässig zu constatiren, würden dieselben Mittel, welche zu dieser Feststellung geführt haben, vermuthlich auch hinreichen, eine Verbindung der Menschheit mit diesen planetarischen Geistern zu eröffnen, durch welche unsre geistige Actionssphäre über die Erde hinaus erweitert würde. So lange dies nicht der Fall ist, steht es uns frei, aus der mit unseren Beobachtungsmitteln festgestellten physischen Beschaffenheit anderer Himmelskörper Schlüsse zu ziehen auf die Möglichkeit ihres Bewohntseins durch geistige Individuen; aber wir sind ausser Stande, diese geistigen Individuen anders als nach der Analogie des uns bekannten menschlichen Geistes zu denken, und gewinnen darum durch solche Vermuthungen eben so wenig eine Erweiterung unserer Kenntnisse über die Beschaffenheit der bewussten Geister wie eine Erweiterung unserer geistigen Actionssphäre.

Wenn eine gemeinsame Action der geistigen Bewohner verschiedener Himmelskörper in dem Plane der Vorsehung oder in der unbewussten Idee liegt, so können wir mit Sicherheit darauf rechnen, dass zur rechten Zeit, d.h. wenn beide Theile die Reife für die geistige Communication und deren fruchtbringende Ausnutzung erreicht haben werden, die Verbindung auch entdeckt und hergestellt werden wird; so lange dies nicht der Fall ist, dürfen wir uns der Annahme hingeben, dass eine solche Verbindung von der Vorsehung gar nicht beabsichtigt ist, und dass die Menschheit ihre Aufgabe im Weltprocess ausschliesslich auf Erden zu erfüllen bestrebt sein muss. Für durchaus unrichtig halte ich dagegen die Behauptung, dass die Menschheit ausser Stande sein müsse, einen universalen Zweck zu erfüllen, weil die Erde nur ein Pünktchen im Himmelsraume sei. Bei geistigen Gewichtsbestimmungen spielt die rohe Masse ebensowenig eine Rolle wie die räumliche Ausdehnung. Wie ein Hündchen einem Nashorn, ein Zwerg einem Biesen, das kleine Hellenenvolk den grossen Barbarenvölkern geistig überlegen sein kann, so kann auch die auf der kleinen Erde wohnende Menschheit allem sonst noch im Universum gleichzeitig vorhandenen Geist überlegen sein. Das Staunen vor der unermesslichen Grösse des materiellen Weltgebäudes und vor der unermesslichen Masse seiner Körper ist eine gar armselige und stupide Stufe der blöden Verwunderung im Vergleich zu dem Staunen vor der geistigen Grösse eines Shakespeare Goethe oder Beethoven. Wenn der Vorwurf der anthropocentrischen centrischen und geocentrischen Beschaffenheit meiner Weltanschauung sich schon dagegen richten soll, dass ich als noocentrisch Denkender den jeweiligen ideellen Mittelpunkt des Universums da suche, wo der jeweilige Schwerpunkt des bewussten Geistes liegt, dass ich auf die räumliche Ausdehnung dieses Schauplatzes für das bewusste Geistesleben kein Gewicht lege, und dass ich die Möglichkeit festhalte, diesen Schwerpunkt zeitweilig auf Erden zu finden, dann allerdings nehme ich diesen Vorwurf ruhig auf mich (vgl. »Neuk., Schop. und Hegel.« S. 234-235).

27

Ich brauche für den denkenden Leser wohl kaum besonders darauf aufmerksam zu machen, dass der Begriff der Erlösung hier nicht in Bezug auf die Sünde, sondern in Bezug auf das Uebel vom Individuum auf die Menschheit und das in ihr und der übrigen Natur empfindende All-Eine Weltwesen erweitert ist; ersteres wäre völlig sinnlos, letzteres ist eine unvermeidliche Consequenz der monistischen Weltanschauung.

A86

S. 403 Z. 10. (Vgl. »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. Zweiter Theil A III 10 »Das Moralprincip des Zweckes«, B III »Das Moralprincip der sittlichen Weltordnung« und C III »Das Moralprincip der absoluten Teleologie als der des eignen Wesens«, S. 439-472, 570-612 und 659-664.)

28

Vergl. hierzu Ges. phil. Abhandlungen Nr. IV: »Ist der pessimistische Monismus trostlos?«

A87

S. 403 Z. 6 v. u. »Wie eine auf diesen Principien errichtete praktische Philosophie sich gestalten würde«, hat sich inzwischen in meiner Ethik und Religionsphilosophie gezeigt (»Das sittl. Bewusstsein« 2. Aufl. und »Die Religion des Geistes« 2. Aufl.); wenn die hier gegebenen Andeutungen in dem ersten Jahrzehnt nach Erscheinen der »Phil. d. Unb.« unbeachtet und für die Beurtheilung dieses Buches und meines ganzen Standpunkts einflusslos blieben, so kann man jetzt nach meiner ausführlichen Bearbeitung der praktischen Philosophie nicht mehr daran denken, diese Wendung in's Positive als eine »wohl nicht ernst gemeinte und nicht ernst zu nehmende Ausschmückungsphrase« bei Seite zu schieben. Wer über die culturgeschichtliche Bedeutung eines Philosophen urtheilen will, wird viel weniger Gefahr laufen, völlig fehlzugreifen, wenn er sich bloss an seine praktische Philosophie, als wenn er sich bloss an seine theoretische Philosophie hält; denn nur aus der ersteren ist die Stellungnahme eines Philosophen zu den praktischen Aufgaben der Welt und des Lebens erkennbar. Wer dagegen die philosophische Bedeutung eines Denkers richtig abschätzen will, wird sein Urtheil auf die theoretische und praktische Philosophie desselben in gleichem Maasse stützen müssen.

A88

S. 404. Z. 14. Nichts scheint der lebenden Generation unverständlicher und unannehmbarer an meiner Philosophie vorzukommen, als die Begründung der thatkräftigen Mitarbeit am Process durch pessimistische Erwägungen. Der eine Theil der Zeitgenossen glaubt zwar an die Wahrheit des Pessimismus, perhorrescirt dann aber den teleologischen Evolutionismus, der ihm eine Ueberwindung seiner Trägheit und seines schmollenden Quietismus zumuthet; der andre Theil will zwar Culturfortschritt und Opferung der persönlichen Bequemlichkeit für denselben, perhorrescirt dann aber meine Lehre von der unüberwindlichen Antinomie zwischen Culturfortschritt und Völkerglückseligkeit. Der erstere Theil zieht den Schopenhauer'schen Pessimismus vor, welcher ihm gestattet, sich um die verachtete Welt und die gescholtene Menschheit nicht zu bekümmern und einem egoistischen geistigen Sybaritismus zu huldigen, welcher auch das Schwelgen in weltschmerzlicher Empfindsamkeit einschliessen kann; der letztere Theil bleibt im dritten Stadium der Illusion befangen, lässt den Pessimismus nur im empirischen Sinne und als einen bloss zeitweilig berechtigten gelten, und betrachtet meinen absoluten Pessimismus als eine abzustreifende Eierschale, welche an meiner Philosophie beim Auskriechen aus der Schopenhauer'schen leider noch hängen geblieben sei. Auf beiden Seiten ist es ein Stück des glückshungrigen Eigenwillens, das nicht abdanken will, nur dass bei dem ersteren Theil der Egoismus nach Abdankung des positiven Glückseligkeitstriebes, bei dem letzteren Theil der positive Glückseligkeitstrieb nach Abdankung des Egoismus stehen geblieben ist.

Der erstere Theil eröffnet sich nämlich der pessimistischen Einsicht und damit der Motivationskraft des Pessimismus, aber der Egoismus will die Früchte dieser Gesinnungsumwandlung sofort und für sich selbst einheimsen; der letztere Theil will zwar das eigne Wohl hinter das Wohl des Ganzen in einer ferneren Zukunft zurückstellen, aber er verschliesst sich der pessimistischen Motivation, weil der positive Glückseligkeitsdrang unter keiner Bedingung abdanken will, und würde sich von der eventuellen Wahrheit des Pessimismus wie von dem Anblick eines versteinernden Medusenhauptes gelähmt fühlen. Der erstere Theil hält zwar die Erlösung vom Uebel des Daseins für ein erstrebenswerthes Ziel, ja sogar für das relativ erstrebenswertheste unter allen möglichen, will das Ziel aber nur für sich als persönlichen Gewinn erringen, wozu freilich positive Arbeit und Hingabe an den Process unmittelbar nichts beitragen kann. Der letztere Theil will sich zwar dem Process des Ganzen widmen, aber nur wenn er eine positive Glückseligkeit für dasselbe zu erringen hoffen darf, und leugnet jede Motivationsfähigkeit eines bloss negativen Zieles. Der erstere Theil ist in der Illusion befangen, dass die Erlösung des eignen Selbst möglich sei ohne Erlösung des Universums, der letztere Theil in der Illusion, dass das relativ erstrebenswertheste Ziel erst als positiv eudämonistisches der Mühe des Strebens werth sein könne. Der erstere Theil leidet an dem sittlichen Mangel, die Erlösung nur für sich statt für Alle zu erstreben, der letztere Theil an dem andern, seine Pflicht nur thun zu wollen gegen positive Entlohnung seiner Erben.

Wann werden endlich jene Illusionen weichen, wann die sittliche Kraft so weit erstarken, dass ein jeder willig sich hingiebt an das Heil des Ganzen, auch wenn dasselbe nur in der Erlösung vom Uebel besteht? Ist denn die höchste Noth und die Sehnsucht, von ihr los zu kommen, nicht der stärkste aller Impulse zum Ringen und Kämpfen, weit stärker als die Aussicht auf lockenden Gewinn? Und soll es immer nur die eigne Noth sein, deren Abhilfe den Menschen motivirt, nicht auch die Noth und Erlösungsbedürftigkeit des Ganzen? Wann wird endlich das sittliche Bewusstsein der Menschheit so weit erstarken, um den Verzicht auf Egoismus und den Verzicht auf künftige positive Glückseligkeit zugleich zu ertragen und zu begreifen, dass erst mit diesem doppelten Verzicht das Reich achter Sittlichkeit beginnt? (Vgl. meine Aufsätze »Die Bedeutung des Leids«, »Ist der Pessimismus schädlich?« und »Kann der Pessimismus erziehlich wirken?« in der Schrift »Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus«. 2. Aufl.)

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Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass alle Verklausulirungen hinsichtlich der rein problematischen Beschaffenheit der folgenden Andeutungen nicht im Stande gewesen sind, gegen das absichtliche oder unabsichtliche Missverständniss zu schützen, als sollten darin irgend welche positive Behauptungen über das Wie des Endes aufgestellt werden. Wenn ich für den Erfolg schriebe, so hätte freilich die allergemeinste Klugheit geboten, diese für das ganze Buch ziemlich gleichgültigen vier Seiten schon in der ersten Auflage zu unterdrücken. Es ist für den Autor stets profitabler, die Schwierigkeiten der Sache, die vorläufig unlösbar sind, nicht allzu bloss zu legen; für den Forttschritte der Wissenschaft hingegen ist die klarste Blosslegung am förderlichsten.

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S. 406 Z. 7. Von den Planeten unseres Sonnensystems dürfte es höchstens der Mars sein, welcher zur Zeit geeignet wäre, Organismen höherer Ordnung zu tragen, womit aber noch keineswegs ausgemacht ist, ob dieser Planet wirklich Organismen von einer Stufe der Entwickelung tragen kann und trägt, welche ein bewusstes Geistesleben nach Art des menschlichen gestattet. Ueber die etwaigen Planeten andrer Sonnensysteme wissen wir einfach nichts und können ihre Existenz nur nach Analogie des unsrigen vermuthen. Wenn man auf die grosse Zahl der Fixsterne hingewiesen hat, um aus ihr eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die gleichzeitige Existenz anderer Schauplätze des geistigen Lebens neben dem unsrigen abzuleiten, so hat man dabei übersehen, dass die colossalen Zeiträume in den kosmischen Entwickelungsprocessen dem zeitweiligen Zusammentreffen gleicher Phasen wieder ebensoviel an Wahrscheinlichkeit rauben, als die grosse Zahl der Fixsterne ihm zu gewähren scheint.

Rechnet man die Lebensdauer eines Planeten von dem Zeitpunkt seiner Ablösung als Nebelring bis zur Zerstreuung und Wiederauflösung des Meteoritenschwarms, in welchen er nach der Erstarrung zersplittert, so kann die Zeit, in welcher er für Organismen bewohnbar ist, nur ein sehr kleiner Bruchtheil seiner Lebensdauer sein; die Frist aber, innerhalb deren er für Organismen mit höherem Geistesleben bewohnbar ist, wird, wenn sie einmal ausnahmsweise nicht gleich Null ist, doch jedenfalls wieder nur ein sehr kleiner Bruchtheil von der Frist seiner Bewohnbarkeit überhaupt sein. Rechnet man die Lebensdauer eines Sonnensystems von seiner Zusammenballung als gasförmiger Nebel bis zu seiner Zerstreuung in kleinste feste Partikel, so wird die Zeit, innerhalb deren auf einem der zu ihm gehörigen Himmelskörper organisches Leben irgend welcher Stufe möglich ist, nur einen sehr kleinen Bruchtheil seiner Lebensdauer ausmachen. Dieselbe Betrachtung könnten wir in Bezug auf die Weltlinse wiederholen, welche unser Milchstrassensystem darstellt; d.h. die Zeit, in welcher dieses Milchstrassensystem Sonnensysteme mit bewohnbaren Theilen umfasst, wird nur ein sehr kleiner Bruchtheil seiner individuellen Lebensdauer als Weltlinse ausmachen können, und wird nur in Folge sehr unwahrscheinlicher Zufälligkeit mit den entsprechenden Entwickelungsphasen in andern Weltlinsen zusammentreffen.

Wenn das bewusste Geistesleben viele Schauplätze im Weltgebäude hat, so ist es doch höchst wahrscheinlich, dass es auf denselben nicht gleichzeitig anzutreffen ist, sondern über dieselben hinwandert, vielleicht mit längeren zeitlichen Zwischenpausen. Ob alsdann die nicht zum Ziele führenden Anläufe des bewussten Geisteslebens ganz vergebliche und rein verlorene Mühe sind, oder ob sie in irgend welcher Weise kapitalisirt werden und als Phasen und aufgehobene Momente im Process des Ganzen dienen, das ist eine Frage, zu deren Aufstellung uns ebenso die empirischen Voraussetzungen wie zu ihrer Beantwortung die Mittel fehlen. Diese Dinge können wir getrost der Vorsehung überlassen, und dürfen überzeugt sein, ihrem Gesammtplan am besten zu dienen, wenn wir auf demjenigen Schauplatz unser Bestes thun, auf welchen sie uns gestellt hat. An der Erkenntniss dessen, was wir unsrerseits für den Process des Ganzen thun können, würde der Ausblick über die Gränzen des Menschheitslebens vorläufig schwerlich etwas ändern können. Deshalb ist das Streben nach Ueberwindung der Enge unsres irdischen Gesichtskreises vorläufig ebenso zwecklos für die praktische Philosophie wie unfruchtbar für die theoretische Philosophie des Geistes, und hat ein rein naturphilosophisches Interesse.

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S. 411 Z. 9. Die Negativität des Endziels, deren Annahme sowohl deductiv aus dem Begriff der Entwickelung als auch inductiv aus der Wahrheit des Pessimismus folgt, ist für die occidentalischen Leserkreise dieses Buches zu dem Punkt geworden, auf den sich alle Angriffe concentriren, und aus dem alle Widerlegungen sowohl meiner Philosophie im Ganzen wie ihrer einzelnen Lehren dectutiv abgeleitet worden. Das Schlagwort für die durch diesen Gedanken erregten Antipathien ist »Nihilismus«, und die Gleichheit dieses Wortes mit dem russischen Nihilismus genügt, meine Philosophie als einen Bundesgenossen der gefährlichsten Umsturzbestrebungen und einer culturfeindlichen Zerstörungssucht anzuklagen. Wie der Bettler den Communismus nur als Aufforderung zur Plünderung im Hause des nächsten Reichen versteht, so begreift der Bildungsphilister unsrer Zeit die Negativität des Endziels nur nach Maassgabe des bekannten Refrains »Alles muss verungeniret sein!« Dieser vermeintliche Nihilismus ist es, auf Grund dessen man meine Philosophie anklagt, den Staat und die Gesellschaft zu untergraben, das Volk zu verderben und die Jugend zu verführen. Die Welt mit ihrer Herrlichkeit als etwas Nichtiges im Vergleich zu Gott anzusehen und sich mit dem Gedanken an die provisorische Beschaffenheit dieses nothwendigen Uebels vertraut zu machen, diese Zumuthung erscheint dem Bildungsphilister nicht nur ungeheuerlich, sondern geradezu empörend, blasphemisch und sakrilegisch, und der durch dieselbe in seiner Selbstgewissheit bedrohte Wille zum Leben bäumt sich mit allem Hasse, dessen er fähig ist, gegen eine Lehre auf, die solche Zumuthungen stellt. Nur so erklärt sich die Menge von Entrüstung, Abscheu und Erbitterung, welche meine Philosophie erweckt hat, und die Menge der albernen Unterstellungen, Verdächtigungen, Verleumdungen, Denunciationen und Anklagen vor dem Richterstuhl der öffentlichen Meinung, in welchen diese Empörung sich entladen hat. Die Schopenhauer'sche Lehre einer individuellen Willensverneinung konnte in den Augen der Bildungsphilister als verhältnissmässig unschuldig gelten, weil sie voraussichtlich doch immer nur Einzelne würde anstecken können, mit denen es ohnehin schon im Oberstübchen nicht richtig wäre, aber die Lehre einer universellen Willensverneinung und schliesslichen Weltvernichtung erschien ihnen als eine höchst gefährliche Umsturzlehre für die Massen. Dass das Endziel des Weltprocesses mindestens noch Jahrtausende fern vor uns läge und dass zu seiner Erreichnung alle die nämlichen Culturstufen durchlaufen werden müssten, welche den Optimisten als Selbstzweck vorschweben, das wurde dabei einfach ignorirt; die blosse formelle Negativität des gleichviel wann und gleichviel durch welche Mittel erreichbaren Endziels wirkte auf den optimistischen Zeitgeist wie der rothe Lappen auf den Puter und versetzte ihn in eine Aufregung von völliger Blindheit gegen allen besondern Inhalt und Nebenumstände dieses Zieles.

Die Anhänger der theistischen Weltanschauung gingen bei dieser »Pessimistenhetze« Hand in Hand mit ihren schlimmsten Gegnern, den Materialisten, Sensualisten und Positivisten, und vergassen ganz, dass meine Lehre doch nichts ist als die philosophische Ausführung des alten christlichen Dogma's von der schliesslichen Wiederbringung aller Dinge in Gott. Nur eine völlig unchristliche Verweltlichung der Gesinnung kann sich gegen den Gedanken sträuben, dass die Welt ein Jammerthal, ein nothwendiges Uebel, ein zur Aufhebung bestimmtes Provisorium ist, und dass der Zustand Gottes vor der Schöpfung, den er eine halbe Ewigkeit lang ertragen hat, auch wenn er nach dem Weltende wieder eintritt, keinenfalls ein Gottes unwürdiger Zustand sein kann. Es ist richtig, dass der Zustand einer bloss potenziellen Wesenheit das »Nicht« der Actualität ist; aber es ist ebenso richtig, dass der Zustand der Actualität, wie er während des Weltprocesses besteht, das »Nicht« der reinen potentiellen Wesenheit ist. Welches von beiden »Nicht« vor dem andern vorzuziehen sei, steht der Erwägung offen; aber keine Art der Entscheidung dieser Frage vermag, das eine dieser »Nicht« zu einem »Nichts« oder nihil umzugestalten, also den Vorwurf eines metaphysischen oder ontologischen »Nihilismus« zu begründen. Die eigentliche Differenz zwischen meiner und der christlichen Lehre von der Wiederbringung aller Dinge liegt in der That ganz wo anders. Dass die Welt einmal aufhört und Gott wieder Alles in Allem ist, dagegen haben die Theologen gar nichts: nur eine Bedingung stellen sie: sie müssen dann auch noch dabei sein, um die ungetrübte Herrlichkeit Gottes mit zu geniessen. In dieser Selbstsucht des nicht abdanken wollenden Individualeudämonismus steckt des Pudels Kern; der christliche Egoist will wohl nach Ablauf des tausendjährigen Reiches und nach dem Aufhören der Zeit ganz in Gott eingehen und mit Gott eins werden, aber nicht ohne diese mystische Einheit als seine ewige Seligkeit zu empfinden.

Es ist dies der unausrottbare Selbstwiderspruch aller Mystik, nur dass der orthodoxe Christ auf die Mystik in der Gegenwart verzichtet zu Gunsten einer fernen Zukunft, in welcher der Widerspruch sich der Controle des Denkens leichter zu entziehen scheint. So weit der fromme Christ frei von unchristlicher Verweltlichung ist, muss demnach sein Schauder vor einer schliesslichen Zurücknahme der Welt in Gott als haare Heuchelei entlarvt werden, hinter welcher sich lediglich der Schauder vor der Zurücknahme seines lieben Ich in Gott versteckt. Dieser letztere Schauder aber ist nicht nur ein unsittlicher, unfrommer und widergöttlicher Egoismus, sondern er ist auch eine Thorheit, wenn man ihn vom monistischen Standpunkt betrachtet, weil ja das Subject, das dem Ich zu Grunde liegt, kein andres ist als das absolute Subject selbst, also mit der Aufhebung des Ich in Gott nicht mit aufgehoben, sondern nur einer Einschränkung entkleidet wird. – Einen gerechten Grund, vor dem Gedanken schliesslicher Weltvernichtung zu schaudern, haben nur jene schlechthin irreligiösen Kinder der Welt, welche in ihrer stolzen Freude darüber, wie wir's so herrlich weit gebracht, keines der bereits errungenen oder noch zu erringenden Culturgüter jemals wieder der Vernichtung anheimfallen wissen möchten (z.B. Lotze und Wundt). Sie befinden sich in der Verwechselung, etwas, das nur Mittel, und als solches bis zur Erreichung des Zweckes von gar nicht zu unterschätzendem Werthe ist, als Selbstzweck zu schätzen und ohne Rücksicht auf sonstige Zweckerfüllung als Eigenwerth conserviren zu wollen. Dieses Verfahren gleicht ganz der Verwechselung des Geizhalses, der jedes in seine Hand gelangte Geldstück als Selbstzweck behandelt und als Eigenwerth conservirt, anstatt einzusehen, dass alles Geld der Welt schlechthin werthlos ist, ausser insofern man bereit und Willens ist, sich seiner im rechten Zeitpunkt zu entäussern.

Welche Stellung man nun aber auch zu der Negativität des Endziels einnehmen möge, so ist doch soviel klar, dass diese Lehre zu der letzten inductiven Spitze meines Systems gehört, dass man den Unterbau und Mittelbau und sogar verschiedene andere Bausteine der Spitze unverändert annehmen kann, auch wenn man die Negativität des Endziels verwirft, und dass es ein baarer Unverstand und eine methodologische Verkehrtheit ist, um dieser missfallenden Spitze willen mein ganzes System zu verwerfen, wenn man dasselbe nicht aus andern Gründen ohnehin verwerfen würde, die mit dieser Frage nichts zu thun haben. In einem deductiven System, in welchem alles aus der Spitze abgeleitet ist, müssen natürlich mit dieser auch alle Folgerungen hinfällig werden; in einem inductiven System ist die reductio ad absurdum in diesem Sinne unmöglich. Jedem steht es frei, eine andere Spitze aufzusetzen, oder, wenn sein systematisches Bedürfniss ihm das gestattet, mein System gleichsam als abgestumpfte Pyramide anzunehmen; an jedem Punkte der Entwickelung kann er das weitere Mitgehen verweigern. Dafür kann ich aber auch verlangen, dass die Unrichtigkeit des Unter- und Mittelbaues durch die Aufzeigung meiner vorher begangenen Fehler oder durch Anführung unverträglicher Thatsachen erwiesen werde. Eine Widerlegung oberer Schichten kann die unter ihr liegenden niemals erschüttern, sondern zunächst nur die Vermuthung begründen , dass in dem Fortgang von diesen zu jenen, ein Feuer stecken müsse, den es aufzusuchen gilt. Leider ist dieser selbstverständliche methodologische Grundsatz unsren Zeitgenossen etwas ganz Neues und Befremdliches, und ich muss immer und immer wieder erfahren, dass die bis jetzt ausschliesslich an deductive Systeme gewöhnte Kritik auch meinem inductiven System das Unrecht anthut, es durch Widerlegung der Spitze widerlegen zu wollen. (Vgl. »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus« S. 283-286 u. 321-328).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 391-412.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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