2. Der Wille

[426] Das Wollen ist dasjenige, was das Reale vor dem Idealen voraus hat; das Ideale ist die Vorstellung an sich, das Reale ist die gewollte Vorstellung oder die Vorstellung als Willensinhalt.

Ebenso verbreitet wie der Glaube an den Stoff ist die Auffassung des vulgären Theismus, dass das Reale nicht die erscheinende Willensthätigkeit selbst des Weltwesens, sondern ein todtes, stehen geblichenes Product, ein caput mortuum einer früheren, längst erloschenen Willensthätigkeit, des Schöpfungsactes, sei, und dass der eigentliche Repräsentant dieses caput mortuum der Stoff sei. Von diesem Vorurtheil haben wir uns bereits im Cap. C. VII. frei gemacht, wo wir erkannt haben, dass es nur das Unbewusste und seine Thätigkeit giebt, aber nichts Drittes. So lange man das Vorurtheil des todten Stoffes nicht überwunden hatte, blieben freilich nur die zwei Weisen, ihn aufzufassen übrig: entweder als unerschaffene ewige Substanz, wie der Materialismus, oder als caput mortuum eines einmaligen Schöpfungsactes, so wenig sich auch mit einem solchen todten Producte ein klarer Begriff verbinden liess; nachdem aber der Stoff von uns als eine Chimäre, die Materie als ein System von Atomkräften, und die materielle Welt als ein labiler,[426] fortwährend sich ändernder Gleichgewichtszustand sehr vieler sich kreuzender Willensthätigkeiten erkannt worden war (vgl. S. 172 – 173), fiel auch jeder Grund zur Annahme von todten Resten früherer Productivität fort, und wir erkannten nunmehr das Reale in jedem Moment des Processes als gegenwärtige Willens thätigkeit, also das Bestehen der Welt als einen stetigen Schöpfungsact (vgl. 195-196). Dies ist wohl auch der Sinn des »zweiten Folgesatzes« im Anfange der Schelling'schen Naturphilosophie (Werke I. 3, S. 16): »Die Natur existirt als Product nirgends; alle einzelnen Producte in der Natur sind nur Scheinproducte, nicht das absolute Product, in welchem die absolute Thätigkeit sich erschöpft, und das immer wird und nie ist.«

Diese Auffassung widerspricht keineswegs, wie es wohl auf den ersten Anblick scheinen könnte, dem physikalischen Grundsatze, dass die Wirkung einer einmal wirkenden Ursache verharrt; denn der neu herbeigeführte Zustand, in welchem die physikalische Wirkung besteht (z.B. eine Bewegung von der und der Richtung und Geschwindigkeit) verharrt allerdings, vorausgesetzt, dass der Gegenstand verharrt, dessen Zustand sie ist, d.h. vorausgesetzt, dass dieser Gegenstand stetig neu gesetzt wird.

Es hängt mit dieser Auffassung des Bestehens der Welt als eines stetigen Schöpfungsactes zusammen, dass wir das Wollen nicht mehr von der That getrennt betrachten können, das Wollen ist selbst die That.

Am deutlichsten kann man sich diese Wahrheit an dem Atomwillen veranschaulichen, wie es in Cap. C. V. und XI. auseinandergesetzt ist. Wenn es in der Psychologie anders erscheint, so ist dies so zu erklären:

1) ist That im weiteren Sinne zu fassen als äusseres Wirksamwerden des Willens; fasst man dagegen die That im engeren Sinne, nämlich gerade nur als die beabsichtigte Art des Wirksamwerdens, so ist allerdings nur dasjenige Wollen mit der That identisch, was seinen Willen durchsetzt, nicht aber dasjenige, welches zwar handelt und wirkt, aber an der Ausführung der That in der beabsichtigten Weise durch äussere, ihm unüberwindliche Hemmnisse gehindert wird;

2) ist nur das auf die Gegenwart gerichtete Wollen mit der That identisch, ein auf die Zukunft gerichtetes Wollen aber ist auch gar kein eigentliches kategorisches Wollen, sondern nur ein hypothetisches Wollen, ein Vorsatz oder eine Absicht;[427]

3) versteht man unter That in der Psychologie nur ein Handeln der ganzen Person, nicht aber diejenigen vom Willen bewirkten Bewegungen der Hirnmolecüle, welche an sich nicht kräftig genug sind, um eine äussere Handlung des Leibes hervorzurufen, oder daran durch andere, im entgegengesetzten Sinne wirkende Hirnschwingungen verhindert werden.

Daher ist in der Psychologie freilich nur das ganze gegenwärtige Wollen des Individuums, d.h. die Resultante aller gleichzeitigen Einzelwillen oder Begehrungen desselben, mit der That identisch, während die gleichzeitigen Componenten ihre Wirksamkeit an einander im Gehirne erschöpfen, insoweit sie nicht in der Resultante zur That werden. Streng genommen aber ist auch die Bewegung der Hirnmelocüle ein in äussere Wirksamkeit Treten des Willens, d.h. eine That, und in diesem Sinne ist auch jedes einzelne Begehren im Individuum eine That, nur dass sie durch anderweitige Hirnschwingungen vielleicht gehindert wird, sich in ihrer ganzen möglichen Tragweite zu verwirklichen; z.B. der Hunger erzeugt Hirnschwingungen im Bettler, die ihn nöthigen würden, seine Hand nach dem Brode im Bäckerladen auszustrecken, die Scheu vor dem Diebstahl erzeugt andere Hirnschwingungen, welche die That dieser Gliederbewegung verhindert; beide aber, das positive wie das negative Begehren, äussern sich in der That als Hirnschwingungen. –

»Der Wille an sich ist die Potenz kat' exochên das Wollen der Actus kat' exochên« dieser Ausspruch Schelling's ist gewiss nur zu unterschreiben. So viel ist wenigstens allgemein anerkannt, dass das Wollen als ein Actus zu betrachten sei, dem eine Potenz zu Grunde liege, und diese Potenz, dieses Wollenkönnende, von dem wir weiter nichts als dieses wissen, dass es wollen kann, nennen wir Wille. Was ein Wollenkönnendes sein soll, dem muss auch die Möglichkeit offen stehen, unter Umständen ein Nichtwollendes zu sein,31d.h. der Begriff des wollen-Könnens schliesst den des nichtwollen-Könnens[428] ein, oder: das wollen-Könnende ist nur dann ein richtig gewählter Name, wenn das damit Bezeichnete zugleich auch ein unter Umständen nichtwollen-Könnendes ist. Wenn nämlich diese Möglichkeit, unter Umständen auch nichtwollend zu sein, dem Wollenkönnenden abgeschnitten wäre, so wäre es ein nicht nichtwollen-Könnendes oder wollen-Müssendes, und zwar nicht ein bedingungsweise unter gewissen Umständen oder für eine gewisse Zeit Wollenmüssendes, sondern ein ewig unabänderlich Wollenmüssendes. Dies würde aber den Begriff des Wollenkönnenden oder der Potenz umstossen, und nur den Begriff des absoluten grundlosen Wollens, das von Ewigkeit zu Ewigkeit will, übrig lassen. So überflüssig der Begriff der Kraft einer ewigen Bewegung gegenüber, ebenso überflüssig würde der Begriff Wille (als Potenz des Wollens) einem ewigen Wollen gegenüber sein; das Wollen wäre dann potenzloser actus purus. Es würde mit dieser Annahme jede Möglichkeit nicht nur einer individuellen, sondern auch einer universellen Erlösung abgeschnitten, jede Hoffnung auf ein Aufhören des Processes (sei es auf ein beabsichtigtes und erwirktes, sei es auf ein blind-gesetzmässig oder zufällig sich einstellendes) zerstört sein. Die Trostlosigkeit einer solchen Annahme kann natürlich für uns keine Instanz gegen die Zulässigkeit oder Wahrscheinlichkeit derselben sein; wir werden daher nach anderer Richtung dieselbe einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit zu unterwerfen haben.

Die Ewigkeit des Wollens bedingt die Unendlichkeit des Processes, und zwar nach vorwärts und rückwärts. In der Unendlichkeit des Processes nach vorwärts liegt keine Schwierigkeit, weil dieselbe in jedem Moment, in jedem Jetzt, eine bloss ideale, postulirte, nicht reale, gegebene ist. Sie bleibt ewig blosse Aufgabe, gesetztes Fortschreiten unter Negation eines Endes, und verfällt daher niemals dem Widerspruch der vollendeten Unendlichkeit.[429] Diesem hingegen ist der in jedem Moment realisirte Theil des Processes stets verfallen. Das Denken vermag von dem gegebenen Jetzt aus den Weg nach rückwärts ganz ebenso mit dem unvollziehbaren Postulat der Endlosigkeit zu durchlaufen, wie den nach vorwärts aber das beweist gar nichts für den realen Process, der in umgekehrter Richtung wie dieses in die Vergangenheit hinauf- Denken seinen Weg wandelt. Die Unendlichkeit, die dem nach rückwärts Denken anerfüllbares ideales Postulat bleibt, soll dem vorwärts gehenden Process fertiges geleistetes Resultat sein, und hier tritt der Widerspruch zu Tage, dass eine (wenn auch nur einseitige) Unendlichkeit als vollendete Realisation gegeben sein soll. Auch Schopenhauer ist sich über diese Unmöglichkeit vollständig klar (W. a. W. n. V. 3. Aufl. I. S. 592 Z. 23-27 u. S. 593 Z. 9 bis unten), sie kommt nur für unser Problem bei ihm deshalb nicht in Betracht, weil er die Realität der Zeit – und damit des Processes – läugnet, und die Frage des Weltanfangs oder der Weltanfangslosigkeit nur im subjectiv-idealistischen Sinne behandelt, wo eben das Denken in sich nach rückwärts so wenig wie nach vorwärts eine Grenze findet (ebenda S. 594). Die Realität des Processes schliesst aber die Endlichkeit desselben nach rückwärts, d.h. seinen Anfang vor einer von jetzt ab gerechneten endlichen Zeit, ein. Der Anfangspunct des Processes (mit und durch welchen erst die Zeit anfängt) ist also der Grenzpunct zwischen Zeit und zeitloser Ewigkeit; nur in der ersteren war der Wille wollend, in der letzteren war er also nicht wollend. Hiermit ist bewiesen, dass das Wollende unter Umständen auch ein Nichtwollendes sein kann, womit sofort die Nothwendigkeit gesetzt ist, hinter dem actuellen Wollen ein wollen- (und nichtwollen-)Könnendes, eine Potenz des Wollens, einen Willen zu supponiren. Da jenseits des Processanfangs diese Potenz ohne Actualität war, so bleibt die Möglichkeit offen, dass von Neuem Umstände eintreten können, wo sie wiederum eine actualitätslose Potenz wird, d.h. es ist nunmehr möglich, dass der reale Process auch nach vorwärts endlich sei. (Die Nothwendigkeit des zukünftigen Endes des Processes ist nicht aus dem Begriff des Processes oder der Zeit, sondern nur aus dem der Entwickelung nachzuweisen, unter Vorraussetzung der Annahme, dass der Weltprocess Entwickelung sei, – wie ich dies am Schlusse des mehrfach erwähnten Aufsatzes »Ueber die Umbildung der Hegel'schen Philosophie« in den Ges. philos. Abhandl. Nr. II gezeigt habe.)[430]

Aus der Unmöglichkeit eines rückwärts oder vorwärts unendlichen Weltprocesses folgt also, dass das Wollen als solches nicht ein ewiges sein kann, dass es nicht ein letztes, keiner Erklärung weiter Fähiges und Bedürftiges ist, sondern dass vor seiner Erhebung etwas gewesen sein muss, das zwar nicht selbst Wollen war, aber doch das Vermögen des Wollens in sich enthielt. Dies nennen wir aber den reinen Willen. Indem wir zu diesem Begriff aus der Anerkennung der Thatsache kommen, dass ein und dasselbe bald will, bald nicht will, haben wir in diesem Begriff eben die Momente des Wollenkönnens und Nichtwollenkönnens gesetzt. Dies ist aber nur als ein contradictorischer, nicht als ein conträrer Gegensatz zu verstehen. Ein conträrer Gegensatz ist das Gegeneinander-Ringen des in einen positiven und einen negativen Theil gespaltenen Wollens, wie wir es beim Ende des Weltprocesses angenommen haben; hier sind zwei entgegengesetzt gerichtete Specien des Genus »Wollen« gegeben, aber das Nichtwollen, um das es sich vor Anfang des Processes handelt, ist die bloss privative Negation des Genus Wollen überhaupt; denn erst wenn ein positives Wollen schon gegeben ist, kann eine hiergegen gerichtete Negation als activ-negatives Wollen entstehen. Das Nichtwollenkönnen ist mithin auch nicht, wie das Wollenkönnen, als actives Vermögen, sondern als bloss passive Möglichkeit der Unterlassung des Gebrauchs des activen Vermögens zu verstehen.

Das nunmehr gerechtfertigte Verhältniss von Potenz und Actus, Wille und Wollen, erscheint nun zwar zunächst ganz klar und durchsichtig; indessen wird dasselbe von Neuem verwickelter, sobald wir auf den realen Uebergang der reinen (noch actualitätslosen) Potenz in den Actus des Wollens unsere Blicke richten. Wir wissen nämlich aus Cap. A. IV., dass das Wollen nur dann wahrhaft existiren kann, wenn es bestimmtes Wollen ist, d.h. wenn es etwas Bestimmtes will, und dass die Bestimmung dessen, was gewollt wird, eine ideale Bestimmung ist, d.h. dass das Wollen eine Vorstellung zum Inhalt haben muss.

Andererseits wissen wir aus Cap. C. I., dass die Vorstellung von sich selbst nicht existentiell werden, nicht aus dem Nichtsein in's Sein übergehen kann, – denn sonst wäre sie ja Potenz oder Wille, oder enthielte diesen in sich – dass also nur der Wille ihr Existenz verleihen kann. Hier sind wir aber in einem Zirkel: das Wollen soll erst durch die Vorstellung existentiell werden, und die Vorstellung erst durch das Wollen. Durch den Willen an sich,[431] d.h. sofern er blosse Potenz und nicht actuell ist, kann doch gewiss keine Wirkung (Action) auf die Vorstellung ausgeübt werden, sondern wirken kann der Wille offenbar nur, insofern er nicht mehr blosse Potenz ist. Wenn nun einerseits der Wille als blosse Potenz überhaupt nicht, also auch nicht auf die Vorstellung wirken kann, wenn andererseits das Wollen als eigentlicher Actus erst existentiell wird durch die Vorstellung, und doch die Vorstellung von sich selbst nicht existentiell werden kann, so bleibt nur die Annahme übrig, dass der Wille in einem zwischen reiner Potenz und wahrem Actus gleichsam in der Mitte stehendem Zustande auf die Vorstellung wirkt, in welchem er zwar bereits aus der latenten Ruhe der reinen Potenzialität herausgetreten ist, also dieser gegenüber sich schon actuell zu verhalten scheint, aber doch noch nicht zur realen Existenz, zur gesättigten Actualität gelangt ist, also von dieser aus betrachtet noch zur Potenzialität gehört. Nicht als ob dieser Zwischenzustand sich als zeitliches Intervall zwischen die vorweltliche Ruhe und den realen Weltprocess einschaltete, – dies ist, wie wir später sehen werden, unmöglich, sondern er repräsentirt nur den Moment der Initiative. Wer unter Willen sich wesentlich Initiative zu denken gewohnt ist, der könnte sagen, dass es innerhalb des Weltprocesses gar keinen Willen in seinem Sinne gebe, da das Wollen hier stetiger, zum Verhängniss gewordener Zustand ist, an dem sich bloss noch der ideelle Inhalt ändert, und dass nur jener Moment der das Erhobensein des Willens für die ganze Dauer des Weltprocesses bestimmenden Initiative der wahre Willensact sei. Soviel ist gewiss, dass von den beiden: Wille und Vorstellung, nur dem ersteren die Initiative zugeschrieben werden kann, und dass der Zustand des Willens im Moment der Initiative ein andrer ist, als er vor derselben war, und ein andrer als er dann wird, wenn der ursprüngliche Impuls seine Schuldigkeit gethan hat, und durch Mitbetheiligung der Vorstellung zur vollen Action geworden ist. Da wir diesen Zustand des Willens in der Initiative (in dem auf das Absolute übertragenen »Anstoss« Fichte's) noch näher betrachten müssen, so brauchen wir eine feste Bezeichnung für denselben, und wählen den Ausdruck: »leeres (d.h. des Inhalts noch entbehrendes) Wollen«.

Auch Schelling kennt dieses leere Wollen; er sagt (II. 1, S. 462): »Nun aber drängt sich von selbst eine für die ganze Folge wichtige Unterscheidung auf – des Wollens, das eigentlich gegenstandslos[432] ist, das nur sich will (- Sucht), und des Wollens, das nun sich hat und als Erzeugniss jenes ersten Wollens stehen bleibt.«

Das leere Wollen ist noch nicht, denn es liegt noch vor jener Actualität und Realität, welche wir allein unter dem Prädicat Sein zu befassen gewohnt sind; es weset aber auch nicht mehr bloss, wie der Wille an sich, als reine Potenz, denn es ist ja schon Folge von dieser, und verhält sich mithin zu ihr als Actus; wenn wir das richtige Prädicat anwenden wollen, so können wir nur sagen: das leere Wollen wird, – das Werden in jenem eminenten Sinne gebraucht, wo es nicht Uebergang aus einer Form in eine andere, sondern aus dem absoluten Nichtsein (reinem Wesen) in's Sein bedeutet. Das leere Wollen ist das Ringen nach dem Sein, welches das Sein erst erreichen kann, wenn eine gewisse äussere Bedingung erfüllt ist. Wenn der Wille an sich der wollen könnende (folglich auch nicht- wollen könnende oder velle et nolle potens) Wille ist, so ist das leere Wollen der Wille, der sich zum Wollen entschieden hat (also nicht mehr nichtwollen kann), der wollen zwar wollende, nun aber für sich allein das Wollen noch nicht zu Stande bringen könnende (velle volens, sed velle non potens) Wille, bis die Vorstellung hinzukommt, welche er wollen kann.

Das leere Wollen ist also insofern actuell, als es nach seiner Verwirklichung ringt, aber insofern ist es nicht actuell, als es durch sich selbst ohne Hinzutreten eines äusseren Umstandes diese Verwirklichung nicht erringen kann. Als leere Form kann es erst wirklich existentiell werden, wenn es seine Erfüllung erlangt hat, diese Erfüllung kann es aber an sich selbst nicht finden, weil es eben nur Form und nichts weiter ist. Während also das Streben des bestimmten Wollens die Verwirklichung seines Inhaltes (sein Geltendmachen gegen entgegengesetzte Bestrebungen) zum Ziele hat, hat das Streben des leeren Wollens kein anderes Ziel, als das, sich selbst, sich als Form zu verwirklichen, seiner selbst habhaft zu werden, zum Sein, oder was dasselbe ist, zum Wollen d.h. zu sich selbst zu kommen.

Ein anderes Streben, als dieses, aus der Leerheit der reinen, noch nicht seienden Form herauszukommen, lässt sich auch in dem absolut vorstellungslosen und blinden Willen gar nicht denken. Man könnte sagen, sein Inhalt oder Ziel sei die Negation seiner Inhaltlosigkeit, wenn dies nicht in sich widersprechend und zugleich sachlich unrichtig wäre, insofern damit ein begrifflicher, d.h. idealer Inhalt angezeigt wäre, so dass das leere Wollen dann doch wieder[433] schon einen idealen Inhalt hätte und durch diesen allein schon existenzfähig wäre. Vielmehr ist das Verhältniss ein positives: die Potenz enthält das formale Moment des Actus in sich als an sich seiendes, noch nicht als gesetztes, und die Initiative strebt danach, es als das, was es an sich ist, d.h. als reine Form des Actus, auch zu setzen, was aber niemals gelingen könnte, so lange das andere ebenso unentbehrliche, nämlich inhaltliche Moment des Actus fehlt. So bleibt es, insoweit nicht letzteres zum leeren Wollen hinzukommt, bei einem unaufhörlichen Anlaufnehmen, ohne je zum Sprunge zu kommen, es bleibt bei einem Werden, aus dem nichts wird, bei dem nichts herauskommt. Das wollen-Wollen schmachtet nach Erfüllung, und doch kann die Form des Wollens nicht eher verwirklicht werden, bis sie einen Inhalt erfasst hat; sobald und in wieweit sie dies gethan hat, ist das Wollen wieder nicht mehr leeres Wollen, nicht mehr wollen- Wollen, sondern bestimmtes Wollen, etwas-Wollen. Der Zustand des leeren Wollens ist also ein ewiges Schmachten nach einer Erfüllung, welche ihm nur durch die Vorstellung gegeben werden kann, d.h. es ist absolute Unseligkeit, Qual ohne Lust, selbst ohne Pause. Insoweit das leere Wollen nur momentaner Impuls ist, der sogleich, in demselben Augenblick, wo er auftaucht, die (mit ihm wesensidentische, also sich ihm gar nicht entziehen könnende) Idee als Inhalt ergreift, insoweit kommt es realiter nicht zu der abgesonderten Existenz einer solchen verweltlichen Unseligkeit, wenngleich letztere Bedingung der Weltentstehung, also naturâ prius ist. Wohl aber kommt es auch realiter zu einer ausserweltlichen Unseligkeit leeren Wollens neben dem erfüllten Weltwillen. Denn der Wille ist potentiell unendlich, und in demselben Sinne ist seine Initiative, das leere Wollen unendlich; die Idee aber ist endlich ihrem Begriff nach (wenn schon unendlicher Durchbildung in sich fähig), so dass auch nur ein endlicher Theil des leeren Wollens von ihr erfüllt werden kann (und nur eine endliche Welt entstehen kann). Es bleibt also ein unendlicher Ueberschuss des hungrigen leeren Wollens neben und ausser dem erfüllten Weltwillen bestehen, welcher nun in der That bis zur Rückkehr des gesammten Willens zur reinen Potenzialität rettungslos der Unseligkeit verfällt. Der Leser erinnere sich, dass nach Cap. C. III. jede Nichtbefriedigung eines Willens eo ipso Bewusstsein erzeugt. Der einzige Inhalt dieses einzigen ausserweltlichen Bewusstseins ist, wie wir schon oben (S. 545-546) sahen, nicht etwa eine Vorstellung, sondern die absolute Unlust und Unseligkeit,[434] während in der Welt (im erfüllten Wollen) doch nur eine relative Unlust, d.h. ein Ueberschuss von Unlust über Lust, besteht.

Wille und Vorstellung, die beide vor dem Beginn des realen Processes etwas Vorseiendes, oder wie Schelling sagt: Ueberseiendes waren, vereinigen sich also in der (partiellen) Erfüllung des leeren Wollens durch die (ganze) Idee zum erfüllten Wollen oder zur gewollten Idee, womit der Actus als reale Existenz erreicht ist. Man kann diese Verbindung von Wollen und Vorstellung zum existentiellen erfüllten Wollen, welche von Seiten des Willens betrachtet ein Hervorziehen und Ergreifen der Vorstellung ist, mit demselben Rechte von Seiten der Vorstellung ein Hingeben an den Willen nennen, denn auch das Hingeben ist ein gänzlich Passives, welches keine positive Activität fordert, sondern nur jede negative Activität, jeden Widerstand, ausschliesst. Es tritt hier recht klar hervor, dass Wille und Vorstellung sich wie Männliches und Weibliches zu einander verhalten; denn das bloss Weibliche bringt es über eine widerstandslose passive Hingabe nirgends hinaus. Wollen wir das Bild weiter ausführen, so befindet sich die Idee vor dem Sein (als rein-Seiendes) im Stande der seligen Unschuld; der Wille aber, der durch die Erhebung aus der lauteren Potenz in das leere Wollen sich in den Stand der Unseligkeit versetzt hat, reisst die Vorstellung oder Idee in den Strudel des Seins und die Qual des Processes mit hinein; und die Idee giebt sich ihm hin, opfert gleichsam ihre jungfräuliche Unschuld um seiner endlichen Erlösung willen, die er an sich selbst nicht finden kann.A94 Dadurch, dass die Idee eines activen Widerstandes gegen den Willen gar nicht fähig ist, und dass der blind um sich greifende Wille gar nicht umhin kann dieselbe zu ergreifen, weil sie das einzige Ergreifbare ist, und ihm gleichsam vor der Nase liegt, mit einem Worte dadurch, dass die Wesensidentität des Willens und der Vorstellung ein Nichtzusammengehen beider nach einmal gegebenem Impulse unmöglich macht, wird an jenem Verhältniss beider zu einander nichts geändert, es wird vielmehr dasselbe nur aus dem Gegebensein als unverständliche Thatsache in die Sphäre der Nothwendigkeit erhoben, und wird dadurch zugleich der Beweis der obigen Behauptung geliefert, dass ein Intervall von leerem Wollen zwischen dem Moment der Initiative und dem realen Weltprocess unmöglich sei, weil die Idee nothwendig schon im ersten Moment der Initiative des Willens sich in den Strudel des Processes hineingerissen sieht, so dass der Anfang der durch das leere Wollen gesetzten unbestimmten Zeit[435] zugleich der Anfang der durch die Idee bestimmten Zeit ist. Aus dieser Umarmung der beiden überseienden Principe, des zum Sein entschiedenen Seinkönnenden und des Reinseienden, wird also das Sein gezeugt; wie wir schon wissen, hat es vom Vater sein »Dass«, von der Mutter sein »Was und Wie«.

Wir sahen, dass der Wille unersättlich ist; wie viel er auch habe, er will immer mehr haben, denn er ist der Potenz nach unendlich; und doch kann seine Erfüllung niemals unendlich sein, weil eine erfüllte oder vollendete Unendlichkeit der realisirte Widerspruch wäre. Eigentlich ist es also ganz gleichgültig, ob dasjenige Stück des leeren Wollens, welches an der Vorstellung eine Erfüllung gefunden hat, gross oder klein ist, d.h. ob die Welt gross oder klein (im intensiven Sinne) ist, denn das erfüllte Wollen wird sich zum leeren Wollen stets verhalten, wie etwas Endliches zu einem Unendlichen, was darum möglich ist, weil es sich zu ihm wie Actus zur Potenz verhält. Da mithin das leere Wollen unendlich ist und bleibt, so ist es auch für die unendliche absolute Unseligkeit dieses leeren Wollens ganz gleichgültig, ob neben ihrer unendlichen, durch keine noch so geringe Lust gemilderten Unseligkeit eine Welt der Qual und Lust besteht oder nicht.

Wir freilich spüren von jener ausserweltlichen Unseligkeit des leeren Wollens nichts, denn wir gehören ja eben zur Welt, zum erfüllten Wollen. Endlich können wir durchaus nicht uns der Meinung hingeben, dass der mit Vorstellung erfüllte Wille nicht doch erhebliche Nichtbefriedigungen und Unlustempfindungen erdulden müsse (z.B. die Atomkräfte), wenn wir auch mit Gewissheit sagen können, dass er vor Entstehung des organischen Bewusstseins keine Befriedigung als Lust empfinden könne. Nach alledem würde die unendliche Unseligkeit perpetuirt werden, wenn nicht die Möglichkeit einer radicalen Erlösung gegeben wäre.

Diese Möglichkeit existirt aber, wie wir wissen, in der Emancipation der Vorstellung vom Willen durch das Bewusstsein; dasselbe fordert freilich im Laufe des Processes noch grössere Opfer, denn wenn es zwar auch die Lust empfindlich macht, so macht es dafür die Unlust durch die Reflexion um so drückender fühlbar, so dass die innerweltliche Unlust, wie wir gesehen haben, mit der Steigerung des Bewusstseins im Ganzen nicht fällt, sondern steigt; aber durch die endliche Erlösung wird diese Steigerung des Schmerzes zweckmässig. Diese endgültige Erlösung ist mit unseren Principien wohl verträglich, denn wenn auch bei dem Weltende unmittelbar nur der [436] erfüllte Wille zur Umwendung gebracht wird, so ist doch dieser der allein actuelle und existentielle, und verhält sich folglich in Bezug auf seine reelle Macht zu dem bloss nach Existenz ringenden leeren Wollen als ein Wirkliches zu einem Unwirklichen, als ein Etwas zu einem Nichts, obwohl von ganz gleichartiger Natur. Wird also das existentielle Wollen plötzlich durch ein existentielles nichtwollen-Wollen zu Nichte, bestimmt auf diese Weise das Wollen selbst sich zum nicht-mehr-Wollen, indem das ganze Wollen, in zwei gleiche und entgegengesetzte Richtungen sich spaltend, sich selbst verschlingt, so hört selbstverständlich auch das leere wollen-Wollen (und wollen-Nichtkönnen) auf, und die Rückkehr in die reine an sich seiende Potenz ist vollzogen, der Wille ist wieder, was er vor allem Wollen war, wollen und nichtwollen könnender Wille; – denn das wollen-Können freilich ist ihm auf keine Weise zu nehmen.

Es giebt nämlich im Unbewussten weder eine Erfahrung, noch eine Erinnerung, dasselbe kann also auch durch den einmal zurückgelegten Weltprocess nicht alterirt sein, es kann weder etwas erhalten haben, was es vorher nicht besass, noch etwas früher Besessenes eingebüsst haben, es kann weder durch die Erinnerung an den Reichthum des überstandenen Processes seine frühere vorweltliche Leere erfüllt haben, noch durch die an demselben gemachte Erfahrung sich eine Lehre nehmen, um sich hinfort vor der Wiederholung seines früheren faux pas zu hüten (denn zu allem diesen würde Erinnerung und Gedächtniss, ja sogar Reflexion gehören); mit einem Worte: es befindet sich in keiner Beziehung anders, als vor dem ersten Beginne jenes Processes. Ist dem aber so, und muss bei der Unmöglichkeit, eine Erinnerung im Unbewussten zu statuiren, die einschmeichelnde Illusion der Hoffnung auf endgültigen, wohl gar seine Endgültigkeit geniessenden Frieden nach Schluss des Weltprocesses als frommer Wahn beseitigt werden (vgl. S. 364-365), so bleibt unzweifelhaft die Möglichkeit offen, dass die Potenz des Willens noch einmal und von Neuem sich zum Wollen entscheidet, woraus dann sofort die Möglichkeit folgt, dass der Weltprocess sich schon beliebig oft in derselben Weise abgespielt haben kann. Verweilen wir noch einen Augenblick, um den Grad ihrer Wahrscheinlichkeit zu bestimmen.

Der wollen und nicht-wollen könnende Wille oder die Potenz, welche sich zum Sein bestimmen kann oder auch nicht, ist das absolut Freie. Die Idee ist durch ihre logische Natur zu einer[437] logischen Nothwendigkeit verurtheilt, das Wollen ist die ausser sich gerathene Potenz, welche ihre Freiheit, auch nicht-wollen zu können, verwirkt hat; nur die Potenz vor dem Actus ist frei, ist das von keinem Grunde mehr Bestimmte und Bestimmbare, jener Urgrund, der selbst erst der Urgrund von Allem ist. So wenig seine Freiheit von Aussen beschränkt ist, so wenig ist sie es von Innen, sie wird erst in dem Moment von Innen beschränkt, wo sie auch vernichtet wird, wo die Potenz selbst sich ihrer entäussert. Man sieht sofort, dass diese absolute Freiheit das Dümmste ist, was man sich nur denken kann, was ganz damit übereinstimmt, dass sie nur in dem Unlogischen denkbar ist.

Wenn es nun gar nichts mehr giebt, was das Wollen oder Nicht- wollen bestimmt, so ist es mathematisch gesprochen zufällig, ob in diesem Moment die Potenz will oder nicht will, d.h. die Wahrscheinlichkeit = 1/2. Nur wo die Wahrscheinlichkeit jedes der möglichen Fälle = 1/2 ist, nur wo der absolute Zufall spielt, nur da ist die absolute Freiheit denkbar. Freiheit und Zufall sind als absolute, d.h. von ihren Relationen entblösste Begriffe identisch. Aehnlich fasst Schelling das Verhältniss, wenn er sagt (II. 1, 8. 464): »Das Wollen, das für uns der Anfang einer anderen, ausser der Idee gesetzten Welt ist.... ist das Urzufällige, der Urzufall selbst.«

Wäre nun die Potenz zeitlich, so würde, da ja die Zeit unendlich ist, die Wahrscheinlichkeit = 1, d.h. Gewissheit sein, dass die Potenz mit der Zeit sich auch einmal wieder zum Actus entschliesst; da aber die Potenz ausser der Zeit steht, welche ja der Actus erst schafft, und diese ausserzeitliche Ewigkeit sich in zeitlicher Beziehung von dem Moment in nichts unterscheidet (wie gross und klein sich in Bezug auf die Farbe durch nichts unterscheiden), so ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Potenz in ihrer ausserzeitlichen Ewigkeit sich zum Wollen bestimme, gleich der, dass sie sich im Moment dazu bestimme, d.h. = 1/2. Hieraus geht hervor, dass die Erlösung vom Wollen für keine endgültige betrachtet werden kann, sondern dass sie nur die Qual des Wollens und Seins von der Wahrscheinlichkeit 1 (welche sie während des Processes hat) auf die Wahrscheinlichkeit 1/2 reducirt, also immerhin einen für die Praxis nicht zu verachtenden Gewinn giebt.

Natürlich kann die Wahrscheinlichkeit des künftig Geschehenden nicht durch die Vergangenheit beeinflusst werden, also der Wahrscheinlichkeitscoëfficient von 1/2 für das nochmalige Auftauchen des Wollens aus der Potenz dadurch nicht vermindert werden, dass[438] sie vorher sich schon einmal zum Wollen entschieden hatte; betrachtet man aber a priori die Wahrscheinlichkeit, dass das Auftauchen des Wollens aus der Potenz mit dem gesammten Weltprocess sich n Mal wiederhole, so ist dieselbe offenbar = (1/2)n ebenso wie die apriorische Wahrscheinlichkeit, n Mal hinter einander die Kopfseite eines Geldstückes nach oben zu werfen.

Da nämlich mit dem Ende eines Weltprocesses die Zeit aufhört, so ist auch bis zum Beginn des nächsten keine Zeitpause gewesen, sondern die Sache ist genau ebenso, als wenn die Potenz im Moment der Vernichtung ihres vorigen Actus sich von Neuem zum Actus entäussert hätte. Es ist aber klar, dass die Wahrscheinlichkeit 1/2n bei wachsendem n so klein wird, dass sie praktisch zur Beruhigung genügt.A95

31

»Gewissermassen ist es a priori einzusehen, vulgo versteht es sich von selbst, dass Das, was jetzt das Phänomen der Welt hervorbringt, auch fähig sein müsse, diess nicht zu thun, mithin in Ruhe zu verbleiben, – oder mit anderen Worten, dass es zur gegenwärtigen diastolê auch eine systolê geben müsse. Ist nun die erstere die Erscheinung des Wollens des Lebens, so wird die andere die Erscheinung des Nichtwollens desselben sein. – Gegen gewisse alberne Einwürfe bemerke ich, dass die Verneinung des Willens zum Leben keineswegs die Vernichtung einer Substanz besage, sondern den blossen Actus das Nichtwollens« (soll heissen die Verneinung des Actus des Wollens); »das Selbe, was bisher gewollt hat, will nicht mehr. Da wir das Wesen, den Willen als Ding an sich bloss in und durch den Actus des Wollens kennen, so sind, wir unvermögend zu sagen oder zu fassen, was es, nachdem es diesen Actus aufgegeben hat, noch ferner sei oder treibe« (dieser Zusatz: »oder treibe« ist begrifflich sehr unpassend); »daher ist die Verneinung für uns, die wir die Erscheinung des Wollens sind, ein Uebergang in's Nichts« (Schopenhauer, Parerga § 162). Das »in Ruhe verbleibende« inactive Wesen ist allerdings für uns, die wir auf dem Standpunct der actuellen Realität stehen, gleich nichts; jedoch können wir wohl sagen und fassen, was es an sich sei, nämlich das wollen und nichtwollen Könnende; dies hat Schopenhauer übersehen, obwohl er es eigentlich in dein obigen Worte »fähig« (die Welt hervorzubringen oder nicht) selbst ausgesprochen hat. Es zeigt die angeführte Stelle, dass diejenigen Anhänger Schopenhauer's, welche den Willen als ein wollen-müssendes und nicht nichtwollen-könnendes Wesen auffassen, sich hierin nicht auf ihren Meister berufen können, sondern dessen tiefere Ansichten nur verballhornt haben.

A94

S. 435 Z. 25. Die 18 Zeilen von Z. 8-25 suchen das Verhältniss von Wille und Vorstellung durch ein Bild zu erläutern, das dem Verhältniss der Geschlechter zu einander entlehnt ist. Das diese Illustration durchaus nur ein Bild sein soll, ist auf Z. 18 mit einer nichts zu wünschen übrig lassenden Deutlichkeit aus gesprochen. Niemals ist es mir eingefallen, Bilder an Stelle von Begriffen setzen zu wollen, wie die Mythologie es thut; vielmehr ist meine ganze Arbeit der Herausarbeitung der Begriffe gewidmet. Ob das gebrauchte Bild ein passendes oder unpassendes Gleichniss darbietet, darüber steht jedem Leser das Urtheil frei. Aber es steht niemanden frei, um dieser 18 Zeilen willen meine metaphysische Principienlehre für haare Mythologie zu erklären, bloss darum, weil alle Mythologien das Bild der Männlichen und Weiblichen mehr oder weniger an Stelle von begrifflichen Principien gesetzt haben. Leider hat es sich fast keiner meiner Gegner versagen können, um dieser 18 Zeilen willen meine Philosophie als mythologisch gefärbt zu discretiren, und es ist dieser Taktik gelungen, in weiten Kreisen des Publicums von meiner Philosophie nichts weiter bekannt werden zu lassen, als dass sie mythologisirend in ihren Principien und nihilistisch in ihrem phantastischen Endziel sei. Wer meine begrifflich construirten Hypothesen phantastisch finden will, dem kann ich das nicht wehren; sind doch alle Hypothesen, so lange sie noch neu und ungewohnt erscheinen, von jeher als phantastisch belächelt worden. Wer aber dem Publicum vorredet, dass meine Principienlehre Mythologie sei, der ist entweder unfähig, den Unterschied von begrifflichem Ausdruck und erläuterndem Bilde zu begreifen, oder er ignonirt diesen Unterschied geflissentlich, um eine falsche Vorstellung über meine Philosophie zu verbreiten.

A95

S. 439 Z. 13. (Vgl. zu dem vorhergehenden Abschnitt »Neuk. Schop. u. Heg.« S. 286-290.) Gegen die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung in dem vorliegenden Falle hat v. Kirchmann Protest eingelegt (Princip des Realismus S. 46-47), weil die Grundsätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung nur unter Voraussetzung einer gesetzmässig wirkenden Causalität zulässig seien, welche Voraussetzung hier eben nicht erfüllt ist. Dagegen ist zu bemerken, dass eine feste gesetzmässige Causalität im Gegentheil jede Wahrscheinlichkeitsrechnung ausschliesst, welche letztere vielmehr die Annahme des causalitätsfreien Zufall voraussetzt und allein auf dieser beruht. Wir wissen nun freilich, dass innerhalb des Weltprocesses der causalitätsfreie Zufall keine Stelle hat, und es basirt deshalb die ganze Wahrscheinlichkeitsrechnung streng genommen auf einer unwahren Fiction. Diese Fiction ist nur möglich wegen der Unzulänglichkeit unserer Kenntniss der im concreten Falle wirkenden Ursachen, da bei vollständiger Kenntniss dieser nicht mehr von Wahrscheinlichkeit, sondern von Gewissheit die Rede sein wurde. Andrerseits ist aber doch diese Fiction für unser Erkennen unentbehrlich, da die Wahrscheinlichkeit uns den einzigen Ersatz für die uns ewig fehlende Gewissheit bietet. Dass nun trotz ihrer fictiven Basis die Wahrscheinlichkeitsrechnung so relativ exacte Resultate liefert, liegt daran, dass bei einer häufigeren Wiederkehr des nämlichen Vorgangs meistens nur ein Theil der mitwirkenden Ursachen constant bleibt, ein anderer Theil aber variabel ist in der Weise, dass die Abweichungen sich um so vollständiger compensiren, je öfter der Vorgang sich wiederholt. Die constanten Ursachen, welche als solche erkannt sind, können nun nicht mehr Grundlage der Wahrscheinlichkeitsrechnung werden, da ihre Wirkungen als nothwendig gewusst werden; die sich compensirenden variabeln Ursachen aber lassen dem Eintritt der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht darum Spielraum, weil sie in jedem einzelnen Falle mit gesetzmässiger Causalität wirken, sondern vielmehr grade darum, weil sie in einer grösseren Reihe von Fällen ihre Wirksamkeit compensiren, d.h. weil dasselbe Resultat dabei herauskommt, als ob gar keine Causalität gewirkt hätte, sondern als ob die Abweichungen der einzelnen Fälle rein zufällig gewesen wären. Was hier innerhalb des Weltprocesses eine blosse Fiction ist (die freilich nicht nur praktisch unschädlich, sondern sogar ein positiv nützliches Surrogat des wahren Sachverhalts ist), das ist in dem Beispiele von der causalitätlosen Entschliessung des Willens zum Wollen volle Wahrheit; die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die auf die eigentlich streng nothwendigen Vorgänge innerhalb des Weltprocesses bewusstermaassen nur abusive angewandt wird, ist in diesem als Unicum dastehenden Beispiel rite anwendbar.

Es ist von andrer Seite der Einwand erhoben worden, dass jede Motivationskraft der Hoffnung auf universale Willensvereinung dadurch zerstört werde, wenn doch die Möglichkeit neuer Erhebungen des Willens zum Wollen nicht zu beseitigen sei. Dieser Einwand scheint mir grade so triftig, wie wenn das Dienstmädchen die Teppiche gar nicht erst ausklopfen mag, weil sie doch immer wieder staubig werden, oder wie wenn der Fieberkranke dem Arzte, der ihm Chinin verordnet, erklären wollte: »ich nehme kein Chinin, um dieses Fieber aufzuheben, da Sie mir doch keine Garantie gegen späteres Auftreten neuer Fiebererkrankungen gewähren können.« Der Kranke hat es immer nur mit der Genesung für den vorliegenden Krankheitsfall zu thun, und dieses Verlangen in ihm wird auf keine Weise dadurch geschwächt, dass er sich nach der erlangten Genesung doch wieder von derselben und von tausend neuen Krankheiten bedroht weiss; er wendet trotz dieser Kenntniss die letzte Kraft und den letzten Groschen auf, um das gegenwärtige Uebel zu überwinden. Die Wahrscheinlichkeit für das Leid des Wollens ist jetzt, d.h. während dieses Weltprocesses = 1, im Augenblick seiner Ueberwindung momentan 0; dass alsdann wieder eine zeitlose ewige Wahrscheinlichkeit von 1/2 eintritt, kann die Motivationskraft der Aussicht auf Reduction der 1 auf 0 unmöglich vermindern, sondern bleibt eine cura posterior. Mag das Unbewusste zusehen, wie es sich von neuem aus der Verlegenheit hilft, wenn es noch einmal das Unglück haben sollte sich hineinzustürzen; mit dieser Frage werden die Individuen eines neuen Weltprocesses sich zu beschäftigen haben, nicht wir. Wir können nur hoffen, dass das nächste Mal das Unbewusste mehr Glück haben wird, wie der Kranke hofft, dass er gesund bleiben werde, wenn er nur erst diese Krankheit überwunden habe. – Uebrigens hat der Gedanke an die Möglichkeit vieler aufeinander folgender Weltprocesse nur für die christlich-occidentalische Weltanschauung etwas Befremdliches; der Brahmanismus und Buddhismus nehmen sie sogar als feststehendes Dogma an und nennen sie das Ein- und Ausathmen Brahma's oder die Reihe der Kalpa's. Ich nehme also auch in diesem Punkte eine Mittelstellung zwischen jüdisch-christlicher und brahmanisch-buddhistischer Weltanschauung ein; denn ich halte den Fortgang des Weltwesens zu einer neuen Weltschöpfung nach Zurücknahme der jetzigen Erscheinungswelt weder für unmöglich, wie die erstere, noch für nothwendig und gewiss, wie die letztere, sondern nur für möglich, und zwar genauer gesagt für ebenso möglich wie ihr Gegentheil. Wenn die indische Weltanschauung so weit geht, eine unendliche Zahl von aufeinanderfolgenden Weltschöpfungen und Weltresorptionen durch das Urwesen als sicher hinzustellen, so schreibe ich im Gegentheil der Annahme einer solchen unendlichen Zahl von Wiederholungen des Weltprocesses eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit zu, während ich der christlichen Annahme, dass es selbstverständlich mit dem einen Weltprocess ein für allemal abgethan sein müsse, wenigstens die Wahrscheinlichkeit von ein halb zuerkennen muss. Ich stehe also auch in diesem Punkte der christlichen Weltanschauung immerhin um Vieles näher als der indischen. – Auch den Einwand kann ich nicht gelten lassen, dass im Fall einer Wiederholung jeder folgende Weltprocess sich genau in derselben Weise wie der erste abspielen müsse, weil alles in ihm mit logischer Nothwendigkeit bestimmt sei und aus gleichen Prämissen gleiche Consequenzen folgen müssen. Es ist nämlich dabei übersehen, dass die Welteinrichtung nach ihrer mechanischen und physikalischen Seite eine Anzahl Constanten zeigt, deren bestimmte Grösse keinen logischen Vorzug gegen irgend eine andre Bestimmung ihrer Grösse zeigt, die also logisch zufällig in ihrer Bestimmtheit, und doch logisch unentbehrlich als irgendwie bestimmte sind. Das Unbewusste musste beim Beginn des Weltprocesses diesen Constanten irgend eine bestimmte Grösse geben; aber es ist reine Zufallssache, welche bestimmte Grösse es ihnen gegeben hat. Wenn nun das Unbewusste kein Gedächtniss hat also bei der Bestimmung der Constanten für einen neuen Weltprocess nicht durch die Erinnerung an die Grösse derselben in früheren Weltprocessen beeinflusst werden kann, dann ist die Bestimmung ihrer Grösse in jedem Wiederholungsfall eben so zufällig wie beim ersten Mal, also die Wahrscheinlichkeit unendlich klein, dass unter den unendlich vielen möglichen Grössenbestimmungen grade die eine, mit dem früheren Process übereinstimmende getroffen werde. Jede Aenderung einer einzigen solchen Constante muss aber eine Aenderung des ganzen Weltprocesses zur Folge haben, so dass die inhaltliche Uebereinstimmung mehrerer aufeinander folgenden Weltprocesse unendlich unwahrscheinlich ist. Allerdings ist die Annahme, dass die bestimmte Grösse der Constanten in der physikalischen Naturgesetzlichkeit in logischer Hinsicht schlechthin zufällig sei, nicht zu erweisen, da unsre Unwissenheit über diesen Gegenstand nicht als Beweis gelten kann. Aber wenn sie logisch bedingt sind durch etwas Andres, so muss es letzten Endes die endliche Grösse der Welt in extensiver und intensiver Beziehung sein, wovon sie abhängen, d.h. zwei oder drei letzte Urconstanten, (Zahl der Atome, Kraftgrösse eines Atoms und Anfangsstellung der Atome zu einander), die selbst nun ihrerseits schlechthin zufällig sein müssen, weil es gar keine anderweitige Daten mehr giebt, von denen sie logisch bedingt sein könnten. Für diese Urconstanten gilt alsdann das Gesagte ganz sicher. Die etwaigen verschiedenen Weltprocesse würden verschieden ausfallen darum, weil die zufällige Bestimmtheit ihrer endlichen Grösse verschieden ausfällt, weil die actuelle Idee und das erfüllte Wollen das eine Mal ein grösseres, das andere Mal ein kleineres Stück der unendlichen idealen Entfaltungsmöglichkeit und des unendlichen leeren Wollens zur Verwirklichung bringt.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 426-439.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
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