a. Aufgabe des Werks

»Vorstellungen zu haben, und sich ihrer doch nicht bewusst zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen, denn wie können wir wissen, dass wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. – Allein wir können uns doch mittelbar bewusstsein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewusst sind.« (Kant, Anthropologie §. 5. »Von den Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewusst zu sein«) Diese klaren Worte des klaren grossen Königsberger Denkers enthalten den Ausgangspunct unserer Untersuchungen, wie das zur Aufnahme gegebene Feld.

Das Gebiet des Bewusstseins ist ein nach allen Richtungen so durchpflügter Weinberg, dass das Verfolgen dieser Arbeiten dem Publikum fast schon zum Ueberdruss geworden ist, und noch immer ist der gesuchte Schatz nicht gefunden, wenn auch unverhoffte reiche Ernten aus dem durcharbeiteten Boden hervorgesprosst sind. Dass man mit der philosophischen Betrachtung dessen begann, was das Bewusstsein unmittelbar in sich fand, war sehr natürlich; sollte es nun aber nicht verlockend um der Neuheit willen und hoffnungsreich in Bezug auf den Gewinn sein, den goldenen Schatz in den Tiefen des Berges, in den edlen Erzen seines Felsgesteins, statt auf der Oberfläche des fruchtbaren Erdbodens zu suchen? Freilich bedarf es dazu des Bohrers und Meissels und langer mühevoller Arbeit, bis man auf die goldenen Adern trifft, und endlich langer Bearbeitung der Erze, bis der Schatz gehoben ist – wer die Mühe nicht scheut, der folge mir, in der Arbeit selbst liegt ja der höchste Genuss![1]

Der Begriff »unbewusste Vorstellung« hat allerdings für den natürlichen Verstand etwas Paradoxes, indess ist der darin enthaltene Widerspruch, wie auch Kant sagt, nur scheinbar. Denn wenn wir nur von dem wissen können, was wir im Bewusstsein haben, also von dem nichts wissen können, was wir nicht im Bewusstsein haben, welches Recht haben wir dann zu der Behauptung, dass dasjenige, dessen Existenz in unserem Bewusstsein wir kennen, nicht auch ausserhalb unseres Bewusstseins sollte existiren können? Allerdings würden wir in diesem Falle weder die Existenz, noch die Nichtexistenz behaupten können, und aus diesem Grunde bei der Annahme der Nichtexistenz stehen bleiben müssen, bis wir zu der positiven Behauptung der Existenz anderswoher ein Recht bekommen. Dies war im Allgemeinen der bisherige Standpunct. Je mehr indess die Philosophie den dogmatischen Standpunct der instinctiven Sinnlichkeit und der instinctiven Verstandesüberzeugung verliess, und die nur höchst indirecte Erkennbarkeit alles bisher für unmittelbaren Bewusstseinsinhalt Gehaltenen einsah, desto mehr Werth musste natürlich ein indirecter Nachweis der Existenz einer Sache erhalten, und so konnte es nicht fehlen, dass hier und da in denkenden Köpfen sich das Bedürfniss zeigte, behufs der anderweitig unmöglichen Erklärung gewisser Erscheinungen im Gebiete des Geistes auf die Existenz unbewusster Vorstellungen als deren Ursache zurückzugehen. Alle diese Erscheinungen zusammen zu fassen, aus jeder einzelnen die Existenz unbewusster Vorstellungen und unbewussten Willens wahrscheinlich zu machen, und durch ihre Summe das in allen übereinstimmende Princip zur Höhe einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu erheben, ist die Aufgabe der beiden ersten Abschnitte dieses Werks. Der erste derselben betrachtet Erscheinungen von physiologischer und zoopsychologischer Natur, der zweite bewegt sich auf dem Gebiete des menschlichen Geistes.

Durch dieses Princip des Unbewussten erhalten zugleich die betrachteten Erscheinungen ihre einzig richtige Erklärung, die zum Theil noch nicht ausgesprochen war, zum Theil aber bloss darum keine Anerkennung finden konnte, weil das Princip selbst erst durch die Zusammenstellung aller hierher gehörigen Erscheinungen constatirt werden kann. Ausserdem eröffnen sich aus der Anwendung dieses bisher im embryonalen Zustande befindlich gewesenen Princips die bedeutendsten Perspectiven auf neue Behandlungsweisen scheinbar bekannter Gegenstände, eine Menge Gegensätze und Widersprüche früherer Systeme und Ansichten finden ihre umfassende[2] Lösung durch Herstellung des höheren, beide Seiten als unvollkommene Wahrheiten in sich befassenden Standpunctes. Mit einem Wort, das Princip erweist sich höchst fruchtbar für Specialfragen. Weit wichtiger als dies aber ist die Art, wie das Princip des Unbewussten unvermerkt aus dem physischen und psychischen Gebiet sich zu Ansichten und Lösungen von Aufgaben erweitert, die man nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch als dem metaphysischen Gebiet angehörig bezeichnen würde. An unserem Princip aber spinnen sich diese Resultate so einfach und natürlich aus naturwissenschaftlichen und psychologischen Betrachtungen heraus, dass man den Uebergang in ein anderes Gebiet gar nicht merken würde, wenn einem der Inhalt dieser Fragen nicht schon anderweitig bekannt wäre. Es drängt und zieht sich alles nach dem Einen hin, es krystallisirt gewissermassen in jedem neuen Capitel ein Stück mehr von der Welt um diesen Kern herum, bis es zur All-Einheit erwachsen das Weltall umfasst und sich zuletzt plötzlich als das darstellt, was den Kern aller grossen Philosophien gebildet hat, Spinoza's Substanz, Fichte's absolutes Ich, Schelling's absolutes Subject-Object, Plato's und Hegel's absolute Idee, Schopenhauer's Wille u.s.w.

Ich bitte deshalb, an dem Begriff der unbewussten Vorstellung vorläufig keinen Anstoss zu nehmen, wenn er auch zuerst wenig positive Bedeutung hat; der positive Inhalt des Begriffs kann sich erst im Laufe der Untersuchung bilden; vorerst genüge es, dass damit eine ausserhalb des Bewusstseins fallende und doch nicht wesensfremde unbekannte Ursache gewisser Vorgänge gemeint ist, welche den Namen Vorstellung deshalb erhalten hat, weil sie mit dem uns im Bewusstsein als Vorstellung Bekannten das gemein hat, dass sie wie jene einen idealen Inhalt besitzt, der selbst keine Realität hat, sondern höchstens einer äusseren Realität im idealen Bilde gleichen kann. Der Begriff des unbewussten Willens ist an sich schon klarer und erscheint minder paradox (vgl. Cap. A. I. Schluss). Da sich in Cap. B. III. zeigen wird, dass das Gefühl sich in Willen und Vorstellung auflösen lässt, also letztere beiden die alleinigen psychischen Grundfunctionen sind, welche nach Cap. A. IV. untrennbar Eins sind, insoweit sie unbewusst sind, so bezeichne ich den unbewussten Willen und die unbewusste Vorstellung in Eins gefasst mit dem Ausdruck »das Unbewusste«; da diese Einheit aber wieder nur in der Identität des unbewusst wollenden und unbewusst vorstellenden Subjects beruht (Cap. C. XV. 4), so bezeichnet der Ausdruck »das Unbewusste« auch dieses identische[3] Subject der unbewusst-psychischen Functionen, – ein zwar zunächst Unbekanntes, von dem man aber schon hier wenigstens so viel sagen kann, dass ihm ausser den negativen Attributen »unbewusst sein und unbewusst functioniren« auch sehr wesentliche positive Attribute »wollen und vorstellen« zukommen. So lange die Betrachtung nicht über die Grenzen eines Individuums hinausgeht, möchte dies deutlich sein; fassen wir aber die Welt als Ganzes in's Auge, so nimmt der Ausdruck »das Unbewusste« nicht nur die Bedeutung einer Abstraction von allen unbewussten Individualfunctionen und Subjecten, sondern auch die Bedeutung eines Collectivums an, welches alle diese nicht nur unter sich, sondern in sich begreift. Endlich aber stellt sich in Cap. C. VII. heraus, dass alle unbewussten Functionen von Einem identischen Subjecte herrühren, welches in den vielen Individuen nur seine phänomenale Offenbarung hat, so dass alsdann »das Unbewusste« dieses Eine absolute Subject bedeutet. Soviel nur zur vorläufigen Orientirung. –

»Die Philosophie ist die Geschichte der Philosophie« – dieses Wort unterschreibe ich von ganzem Herzen. Wer aber das Wort so versteht, als ob nur hinter uns die Wahrheit läge, der möchte in tiefem Irrthum stecken, denn es giebt einen todten und einen lebenden Theil in der Geschichte der Philosophie, und das Leben ist nur in der Gegenwart. So wird an einem Baume der feste, den Stürmen trotzende Stamm von todtem Holze, von dem Zuwachs früherer Jahre gebildet, und nur eine dünne Schicht enthält das Leben des mächtigen Gewächses, bis auch sie im nächsten Jahre zu den Todten zählt. Nicht der Blätter- und Blüthenschmuck, der die Beschauer früherer Sommer am meisten bestach, war es, was dem Baume dauernde Stärkung verlieh, – sie halfen höchstens abgefallen und verfault seine Wurzeln düngen, – sondern der unbeachtete kleine Ringzuwachs am Stamm, und die unscheinbaren neuen Aestchen, das war es, was seine Ausdehnung, Höhe und Festigkeit mehrte. Und nicht bloss Festigkeit verdankt der lebensfrische Ring seinen todten Vorfahren, sondern indem er sie umfasst, auch die Grösse seines Umfangs; darum ist, wie am Baume, das erste Gesetz für einen neu anschiessenden Ring, dass er alle seine Vorgänger auch wirklich umfasse und in sich beschliesse, das zweite aber, dass er selbstständig aus den Wurzeln von unten auf erwachse. Die Aufgabe, dies beides in der Philosophie zu vereinigen, ist fast paradox, denn wer auf der Höhe der Situation steht, pflegt die Unbefangenheit verloren zu haben, von vorn anfangen[4] zu können, und wer einen selbstständigen Anfang unternimmt, liefert meist ein dilettantisch unreifes Product, weil er die bisherige historische Entwickelung nicht inne hat.

Ich glaube, dass das Princip des Unbewussten, welches den alle Strahlen in sich vereinenden Brennpunct dieser Untersuchung bildet, in dieser Allgemeinheit gefasst, wohl als ein neuer Standpunct zu betrachten sein dürfte. Wie weit es mir gelungen sei, in den Geist der bisherigen Entwickelung der Philosophie einzudringen, muss ich dem Urtheil der Leser überlassen; nur bemerke ich, dass in Rücksicht auf den Plan des Werks der Nachweis, dass ziemlich Alles, was in der Geschichte der Philosophie als wahres Kernholz betrachtet werden kann, in den letzten Resultaten umfasst ist, sich nur auf kurze Hindeutungen beschränken muss, welche zum Theil in manchen Specialuntersuchungen, auf die an geeigneter Stelle verwiesen wird, eine nähere Ausführung gefunden haben.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 1-5.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
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