3. Das Gedächtnis
§ 461

[277] Die Intelligenz durchläuft als Gedächtnis gegen die Anschauung des Worts dieselben Tätigkeiten des Erinnerns wie als Vorstellung überhaupt gegen die erste unmittelbare Anschauung (§ 451 ff.). – αα) Jene Verknüpfung, die das Zeichen[277] ist, zu dem Ihrigen machend, erhebt sie durch diese Erinnerung die einzelne Verknüpfung zu einer allgemeinen, d.i. bleibenden Verknüpfung, in welcher Name und Bedeutung objektiv für sie verbunden sind, und macht die Anschauung, welche der Name zunächst ist, zu einer Vorstellung, so daß der Inhalt, die Bedeutung, und das Zeichen identifiziert, eine Vorstellung sind und das Vorstellen in seiner Innerlichkeit konkret, der Inhalt als dessen Dasein ist; – das Namen behaltende Gedächtnis.


§ 462

Der Name ist so die Sache, wie sie im Reiche der Vorstellung vorhanden ist und Gültigkeit hat. Das ββ) reproduzierende Gedächtnis hat und erkennt im Namen die Sache und mit der Sache den Namen, ohne Anschauung und Bild. Der Name als Existenz des Inhalts in der Intelligenz ist die Äußerlichkeit ihrer selbst in ihr, und die Erinnerung des Namens als der von ihr hervorgebrachten Anschauung ist zugleich die Entäußerung, in der sie innerhalb ihrer selbst sich setzt. Die Assoziation der besonderen Namen liegt in der Bedeutung der Bestimmungen der empfindenden, vorstellenden oder denkenden Intelligenz, von denen sie Reihen als empfindend usf. in sich durchläuft.

Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solches Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfädle Vorstellung. Es ist in Namen, daß wir denken.[278]

Die vor einiger Zeit wieder aufgewärmte und billig wieder vergessene Mnemonik der Alten besteht darin, die Namen in Bilder zu verwandeln und hiermit das Gedächtnis wieder zur Einbildungskraft herabzusetzen. Die Stelle der Kraft des Gedächtnisses vertritt ein in der Einbildungskraft befestigtes, bleibendes Tableau einer Reihe von Bildern, an welche dann der auswendig zu lernende Aufsatz, die Folge seiner Vorstellungen, angeknüpft wird. Bei der Heterogeneität des Inhalts dieser Vorstellungen und jener permanenten Bilder, wie auch wegen der Geschwindigkeit, in der es geschehen soll, muß dies Anknüpfen nicht anders als durch schale, alberne, ganz zufällige Zusammenhänge geschehen. Nicht nur wird der Geist auf die Folter gesetzt, sich mit verrücktem Zeuge zu plagen, sondern das auf solche Weise Auswendiggelernte ist eben deswegen schnell wieder vergessen, indem ohnehin dasselbe Tableau für das Auswendiglernen. Jeder anderen Reihe von Vorstellungen gebraucht und daher die vorher daran geknüpften wieder weggewischt werden. Das mnemonisch Eingeprägte wird nicht wie das im Gedächtnis Behaltene auswendig, d.h. eigentlich von innen heraus, aus dem tiefen Schachte des Ich hervorgebracht und so hergesagt, sondern es wird von dem Tableau der Einbildungskraft sozusagen abgelesen. – Die Mnemonik hängt mit den gewöhnlichen Vorurteilen zusammen, die man von dem Gedächtnis im Verhältnis zur Einbildungskraft hat, als ob diese eine höhere, geistigere Tätigkeit wäre als das Gedächtnis. Vielmehr hat es das Gedächtnis nicht mehr mit dem Bilde zu tun, welches aus dem unmittelbaren, ungeistigen Bestimmtsein der Intelligenz, aus der Anschauung, hergenommen ist, sondern mit einem Dasein, welches das Produkt der Intelligenz selbst ist, – einem solchen Auswendigen, welches in das Inwendige der Intelligenz eingeschlossen bleibt und nur innerhalb ihrer selbst deren auswendige, existierende Seite ist.
[279]

§ 463

γγ) Insofern der Zusammenhang der Namen in der Bedeutung liegt, ist die Verknüpfung derselben mit dem Sein als Namen noch eine Synthese und die Intelligenz in dieser ihrer Äußerlichkeit nicht einfach in sich zurückgekehrt. Aber die Intelligenz ist das Allgemeine; die einfache Wahrheit ihrer besonderen Entäußerungen und ihr durchgeführtes Aneignen ist das Aufheben jenes Unterschiedes der Bedeutung und des Namens; diese höchste Erinnerung des Vorstellens ist ihre höchste Entäußerung, in der sie sich als das Sein, den allgemeinen Raum der Namen als solcher, d.i. sinnloser Worte setzt. Ich, welches dies abstrakte Sein ist, ist als Subjektivität zugleich die Macht der verschiedenen Namen, das leere Band, welches Reihen derselben in sich befestigt und in fester Ordnung behält. Insofern sie nur seiend sind und die Intelligenz in sich hier selbst dies ihr Sein ist, ist sie diese Macht als ganz abstrakte Subjektivität, – das Gedächtnis, das um der gänzlichen Äußerlichkeit willen, in der die Glieder solcher Reihen gegeneinander sind, und das selbst diese, obgleich subjektive Äußerlichkeit ist, mechanisch (§ 195) genannt wird.

Man weiß bekanntlich einen Aufsatz erst dann recht auswendig, wenn man keinen Sinn bei den Worten hat; das Hersagen solches Auswendiggewußten wird darum von selbst akzentlos. Der richtige Akzent, der hineingebracht wird, geht auf den Sinn; die Bedeutung, Vorstellung, die herbeigerufen wird, stört dagegen den mechanischen Zusammenhang und verwirrt daher leicht das Hersagen. Das Vermögen, Reihen von Worten, in deren Zusammenhang kein Verstand ist oder die schon für sich sinnlos sind (eine Reihe von Eigennamen), auswendig behalten zu können, ist darum so höchst wunderbar, weil der Geist wesentlich dies ist, bei sich selbst zu sein, hier aber derselbe als in ihm selbst entäußert, seine Tätigkeit als ein Mechanismus ist. Der Geist aber ist nur bei sich als Einheit der Subjektivität und der Objektivität, und hier im[281] Gedächtnis, nachdem er in der Anschauung zunächst als Äußerliches so ist, daß er die Bestimmungen findet und in der Vorstellung dieses Gefundene in sich erinnert und zu dem Seinigen macht, macht er sich als Gedächtnis in ihm selbst zu einem Äußerlichen, so daß das Seinige als ein Gefundenwerdendes erscheint. Das eine der Momente des Denkens, die Objektivität, ist hier als Qualität der Intelligenz selbst in ihr gesetzt. – Es liegt nahe, das Gedächtnis als eine mechanische, als eine Tätigkeit des Sinnlosen zu fassen, wobei es etwa nur durch seinen Nutzen, vielleicht seine Unentbehrlichkeit für andere Zwecke und Tätigkeiten des Geistes gerechtfertigt wird. Damit wird aber seine eigene Bedeutung, die es im Geiste hat, übersehen.


§ 464

Das Seiende als Name bedarf eines Anderen, der Bedeutung der vorstellenden Intelligenz, um die Sache, die wahre Objektivität, zu sein. Die Intelligenz ist als mechanisches Gedächtnis in einem jene äußerliche Objektivität selbst und die Bedeutung. Sie ist so als die Existenz dieser Identität gesetzt, d.i. sie ist für sich als solche Identität, welche sie als Vernunft an sich ist, tätig. Das Gedächtnis ist auf diese Weise der Übergang in die Tätigkeit des Gedankens, der keine Bedeutung mehr hat, d.i. von dessen Objektivität nicht mehr das Subjektive ein Verschiedenes ist, so wie diese Innerlichkeit an ihr selbst seiend ist.

Schon unsere Sprache gibt dem Gedächtnis, von dem es zum Vorurteil geworden ist, verächtlich zu sprechen, die hohe Stellung der unmittelbaren Verwandtschaft mit dem Gedanken. – Die Jugend hat nicht zufälligerweise ein besseres Gedächtnis als die Alten, und ihr Gedächtnis wird nicht nur um der Nützlichkeit willen geübt, sondern sie hat das gute Gedächtnis, weil sie sich noch nicht nachdenkend verhält, und es wird absichtlich oder unabsichtlich darum geübt, um den Boden ihrer Innerlichkeit zum reinen Sein, zum reinen Räume zu ebnen, in welchem die[282] Sache, der an sich seiende Inhalt ohne den Gegensatz gegen eine subjektive Innerlichkeit, gewähren und sich explizieren könne. Ein gründliches Talent pflegt mit einem guten Gedächtnisse in der Jugend verbunden zu sein. Aber dergleichen empirische Angaben helfen nichts dazu, das zu erkennen, was das Gedächtnis an ihm selbst ist; es ist einer der bisher ganz unbeachteten und in der Tat der schwersten Punkte in der Lehre vom Geiste, in der Systematisierung der Intelligenz die Stellung und Bedeutung des Gedächtnisses zu fassen und dessen organischen Zusammenhang mit dem Denken zu begreifen. Das Gedächtnis als solches ist selbst die nur äußerliche Weise, das einseitige Moment der Existenz des Denkens; der Übergang ist für uns oder an sich die Identität der Vernunft und der Weise der Existenz, welche Identität macht, daß die Vernunft nun im Subjekte existiert, als seine Tätigkeit ist; so ist sie Denken.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 10, Frankfurt a. M. 1979, S. 277-283.
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