b. Dasein
§ 89

[193] Das Sein im Werden als eins mit dem Nichts, so das Nichts [als] eins mit dem Sein sind nur Verschwindende; das Werden fällt durch seinen Widerspruch in sich in die Einheit, in der beide aufgehoben sind, zusammen; sein Resultat ist somit das Dasein.

Es ist an diesem ersten Beispiele ein für allemal an das zu erinnern, was § 82 und Anm. daselbst angegeben ist; was allein einen Fortgang und eine Entwicklung im Wissen[193] begründen kann, ist, die Resultate in ihrer Wahrheit festzuhalten. Wenn in irgendeinem Gegenstande oder Begriff der Widerspruch aufgezeigt wird (und es ist überall gar nichts, worin nicht der Widerspruch, d. i. entgegengesetzte Bestimmungen aufgezeigt werden können und müssen; das Abstrahieren des Verstandes ist das gewaltsame Festhalten an einer Bestimmtheit, eine Anstrengung, das Bewußtsein der anderen [Bestimmtheit], die darin liegt, zu verdunkeln und zu entfernen), – wenn nun solcher Widerspruch erkannt wird, so pflegt man den Schlußsatz zu machen: »Also ist dieser Gegenstand nichts«; wie Zenon zuerst von der Bewegung zeigte, daß sie sich widerspreche, daß sie also nicht sei, oder wie die Alten das Entstehen und Vergehen, die zwei Arten des Werdens, für unwahre Bestimmungen mit dem Ausdrucke erkannten, daß das Eine, d. i. das Absolute, nicht entstehe noch vergehe. Diese Dialektik bleibt so bloß bei der negativen Seite des Resultates stehen und abstrahiert von dem, was zugleich wirklich vorhanden ist, ein bestimmtes Resultat, hier ein reines Nichts, aber [ein] Nichts, welches das Sein, und ebenso ein Sein, welches das Nichts in sich schließt. So ist 1. das Dasein die Einheit des Seins und des Nichts, in der die Unmittelbarkeit dieser Bestimmungen und damit in ihrer Beziehung ihr Widerspruch verschwunden ist, – eine Einheit, in der sie nur noch Momente sind; 2. da das Resultat der aufgehobene Widerspruch ist, so ist es in der Form einfacher Einheit mit sich oder selbst als ein Sein, aber ein Sein mit der Negation oder Bestimmtheit; es ist das Werden in der Form des einen seiner Momente, des Seins, gesetzt.
[194]


§ 90

α) Das Dasein ist Sein mit einer Bestimmtheit, die als unmittelbare oder seiende Bestimmtheit ist, die Qualität. Das Dasein als in dieser seiner Bestimmtheit in sich reflektiert ist Daseiendes, Etwas. – Die Kategorien, die sich an dem Dasein entwickeln, sind nur summarisch anzugeben.


§ 91

[195] Die Qualität als seiende Bestimmtheit gegenüber der in ihr enthaltenen, aber von ihr unterschiedenen Negation ist Realität. Die Negation, nicht mehr das abstrakte Nichts, sondern als ein Dasein und Etwas, ist nur Form an diesem, sie ist als Anderssein. Die Qualität, indem dies Anderssein ihre eigene Bestimmung, aber zunächst von ihr unterschieden ist, ist Sein-für-Anderes, – eine Breite des Daseins, des Etwas. Das Sein der Qualität als solches, gegenüber dieser Beziehung auf Anderes, ist das Ansichsein.
[196]


§ 92

β) Das von der Bestimmtheit als unterschieden festgehaltene Sein, das Ansichsein, wäre nur die leere Abstraktion des Seins. Im Dasein ist die Bestimmtheit eins mit dem Sein, welche zugleich als Negation gesetzt, Grenze, Schranke ist. Daher ist das Anderssein nicht ein Gleichgültiges außer ihm, sondern sein eigenes Moment. Etwas ist durch seine Qualität erstlich endlich und zweitens veränderlich, so daß die Endlichkeit und Veränderlichkeit seinem Sein angehört.


§ 93

[197] Etwas wird ein Anderes, aber das Andere ist selbst ein Etwas, also wird es gleichfalls ein Anderes, und so fort ins Unendliche.
[198]


§ 94

Diese Unendlichkeit ist die schlechte oder negative Unendlichkeit, indem sie nichts ist als die Negation des Endlichen, welches aber ebenso wieder entsteht, somit ebensosehr nicht aufgehoben ist, – oder diese Unendlichkeit drückt nur das Sollen des Aufhebens des Endlichen aus. Der Progreß ins Unendliche bleibt bei dem Aussprechen des Widerspruchs stehen, den das Endliche enthält, daß es sowohl Etwas ist als sein Anderes, und ist das perennierende Fortsetzen des Wechsels dieser einander herbeiführenden Bestimmungen.


§ 95

[199] γ) Was in der Tat vorhanden ist, ist, daß Etwas zu Anderem und das Andere überhaupt zu Anderem wird. Etwas ist im Verhältnis zu einem Anderen selbst schon ein Anderes gegen dasselbe; somit da das, in welches es übergeht, ganz dasselbe ist, was das, welches übergeht – beide haben keine weitere als eine und dieselbe Bestimmung, ein Anderes zu[200] sein –, so geht hiermit Etwas in seinem Übergehen in Anderes nur mit sich selbst zusammen, und diese Beziehung im Übergehen und im Anderen auf sich selbst ist die wahrhafte Unendlichkeit. Oder negativ betrachtet: was verändert wird, ist das Andere, es wird das Andere des Anderen. So ist das Sein, aber als Negation der Negation, wieder hergestellt und ist das Fürsichsein.

Der Dualismus, welcher den Gegensatz von Endlichem und Unendlichem unüberwindlich macht, macht die einfache Betrachtung nicht, daß auf solche Weise sogleich das Unendliche nur das eine der beiden ist, daß es hiermit zu einem nur Besonderen gemacht wird, wozu das Endliche das andere Besondere ist. Ein solches Unendliches, welches nur ein Besonderes ist, neben dem Endlichen ist, an diesem eben damit seine Schranke, Grenze hat, ist nicht das, was es sein soll, nicht das Unendliche, sondern ist nur endlich. – In solchem Verhältnisse, wo das Endliche hüben, das Unendliche drüben, das erste diesseits, das andere jenseits gestellt ist, wird dem Endlichen die gleiche Würde des Bestehens und der Selbständigkeit mit dem Unendlichen zugeschrieben; das Sein des Endlichen wird zu einem absoluten Sein gemacht; es steht in solchem Dualismus fest für sich. Vom Unendlichen sozusagen berührt, würde es vernichtigt; aber es soll vom Unendlichen nicht berührt werden können, es soll ein Abgrund, eine unübersteigbare Kluft zwischen beiden sich befinden, das Unendliche schlechthin drüben und das Endliche hüben verharren. Indem die Behauptung von dem festen Beharren des Endlichen dem Unendlichen gegenüber über alle Metaphysik hinweg zu sein meint, steht sie ganz nur auf dem Boden der ordinärsten Verstandesmetaphysik. Es geschieht hier dasselbe, was der unendliche Progreß ausdrückt: das eine Mal wird zugegeben, daß das Endliche nicht an und für sich sei, daß ihm nicht selbständige Wirklichkeit, nicht absolutes Sein zukomme, daß es nur ein Vorübergehendes ist; das andere Mal wird dies sogleich vergessen und das[201] Endliche dem Unendlichen nur gegenüber, schlechthin getrennt von demselben und der Vernichtung entnommen, als selbständig, für sich beharrend vorgestellt. – Indem das Denken auf solche Weise sich zum Unendlichen zu erheben meint, so widerfährt ihm das Gegenteil, – zu einem Unendlichen zu kommen, das nur ein Endliches ist, und das Endliche, – welches von ihm verlassen worden, vielmehr immer beizubehalten, zu einem Absoluten zu machen. Wenn man nach der angestellten Betrachtung der Nichtigkeit des Verstandesgegensatzes vom Endlichen und Unendlichen (womit Platons Philebos mit Nutzen verglichen werden kann) auch hier leicht auf den Ausdruck verfallen kann, daß das Unendliche und Endliche hiermit eins sei, daß das Wahre, die wahrhafte Unendlichkeit als Einheit des Unendlichen und Endlichen bestimmt und ausgesagt werde, so enthält solcher Ausdruck zwar Richtiges, aber er ist ebensosehr schief und falsch, wie vorhin von der Einheit des Seins und Nichts bemerkt worden ist. Er führt ferner auf den gerechten Vorwurf von der Verendlichung der Unendlichkeit, von einem endlichen Unendlichen. Denn in jenem Ausdruck erscheint das Endliche als belassen; es wird nicht ausdrücklich als aufgehoben ausgedrückt. – Oder indem darauf reflektiert würde, daß es, als eins mit dem Unendlichen gesetzt, allerdings nicht bleiben könnte, was es außer dieser Einheit war, und wenigstens an seiner Bestimmung etwas litte (wie das Kali mit der Säure verbunden von seinen Eigenschaften verliert), so widerführe eben dies dem Unendlichen, das als das Negative seinerseits gleichfalls an dem Anderen abgestumpft würde. In der Tat geschieht solches auch dem abstrakten, einseitigen Unendlichen des Verstandes. Aber das wahrhafte Unendliche verhält sich nicht bloß wie die einseitige Säure, sondern es erhält sich; die Negation der Negation ist nicht eine Neutralisation; das Unendliche ist das Affirmative und nur das Endliche das Aufgehobene. Im Fürsichsein ist die Bestimmung der Idealität eingetreten.[202] Das Dasein, zunächst nur nach seinem Sein oder seiner Affirmation aufgefaßt, hat Realität (§ 91), somit ist auch die Endlichkeit zunächst in der Bestimmung der Realität. Aber die Wahrheit des Endlichen ist vielmehr seine Idealität. Ebensosehr ist auch das Verstandes-Unendliche, welches, neben das Endliche gestellt, selbst nur eins der beiden Endlichen ist, ein unwahres, ein ideelles. Diese Idealität des Endlichen ist der Hauptsatz der Philosophie, und jede wahrhafte Philosophie ist deswegen Idealismus. Es kommt allein darauf ein, nicht das für das Unendliche zu nehmen, was in seiner Bestimmung selbst sogleich zu einem Besonderen und Endlichen gemacht wird. – Auf diesen Unterschied ist deswegen hier weitläufiger aufmerksam gemacht worden; der Grundbegriff der Philosophie, das wahrhafte Unendliche, hängt davon ab. Dieser Unterschied erledigt sich durch die ganz einfachen, darum vielleicht unscheinbaren, aber unwiderleglichen Reflexionen, die im § enthalten sind.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 8, Frankfurt a. M. 1979, S. 193-203.
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