Zweite Abteilung der Logik

Die Lehre vom Wesen

§ 112

[231] Das Wesen ist der Begriff als gesetzter Begriff, die Bestimmungen sind im Wesen nur relative, noch nicht als schlechthin in sich reflektiert; darum ist der Begriff noch nicht als Fürsich. Das Wesen, als das durch die Negativität seiner selbst sich mit sich vermittelnde Sein, ist die Beziehung auf sich selbst, nur indem sie Beziehung auf Anderes ist, das aber unmittelbar nicht als Seiendes, sondern als ein Gesetztes und Vermitteltes ist. – Das Sein ist nicht verschwunden, sondern erstlich ist das Wesen, als einfache Beziehung auf sich selbst, Sein; fürs andere ist aber das Sein nach seiner einseitigen Bestimmung, unmittelbares zu sein, zu einem nur negativen herabgesetzt, zu einem Scheine. – Das Wesen ist hiermit das Sein als Scheinen in sich selbst.

Das Absolute ist das Wesen. – Diese Definition ist insofern dieselbe als die, daß es das Sein ist, insofern Sein gleichfalls die einfache Beziehung auf sich ist; aber sie ist zugleich höher, weil das Wesen das in sich gegangene Sein ist, d. i. seine einfädle Beziehung auf sich ist diese Beziehung, gesetzt als die Negation des Negativen, als Vermittlung seiner in sich mit sich selbst. – Indem das Absolute als Wesen bestimmt wird, wird aber die Negativität häufig nur in dem Sinne einer Abstraktion von allen bestimmten Prädikaten genommen. Dieses negative Tun, das Abstrahieren, fällt dann außerhalb des Wesens, und das Wesen selbst ist so nur als ein Resultat ohne diese seine Prämisse, das caput mortuum der Abstraktion. Aber da diese Negativität dem Sein nicht äußerlich, sondern seine eigene Dialektik ist, so ist seine Wahrheit, das Wesen, als das in sich gegangene oder in sich seiende Sein; seinen Unterschied vom unmittelbaren Sein macht jene Reflexion, sein Scheinen in sich selbst, aus, und sie ist die eigentümliche Bestimmung des Wesens selbst.
[231]

§ 113

Die Beziehung-auf-sich im Wesen ist die Form der Identität, der Reflexion-in-sich, diese ist hier an die Stelle der Unmittelbarkeit des Seins getreten; beide sind dieselben Abstraktionen der Beziehung-auf-sich.[234]

Die Gedankenlosigkeit der Sinnlichkeit, alles Beschränkte und Endliche für ein Seiendes zu nehmen, geht in die Hartnäckigkeit des Verstandes über, es als ein mit sich Identisches, sich in sich nicht Widersprechendes zu fassen.


§ 114

Diese Identität erscheint, als aus dem Sein herkommend, zunächst nur mit den Bestimmungen des Seins behaftet und darauf als auf ein Äußerliches bezogen. Wird dasselbe so von dem Wesen abgesondert genommen, so heißt es das Unwesentliche. Aber das Wesen ist Insichsein, es ist wesentlich, nur insofern es das Negative seiner in ihm selbst, die Beziehung-auf-Anderes, die Vermittlung in ihm selbst hat. Es hat daher das Unwesentliche als seinen eigenen Schein in sich. Aber indem das Unterscheiden im Scheinen oder Vermitteln enthalten ist, das Unterschiedene aber im Unterschiede von derjenigen Identität, aus der es kommt und in der es nicht ist oder als Schein liegt, selbst die Form der Identität erhält, so ist dasselbe so in der Weise der sich auf sich beziehenden Unmittelbarkeit oder des Seins; die Sphäre des Wesens wird dadurch zu einer noch unvollkommenen Verknüpfung der Unmittelbarkeit und der Vermittlung. Es ist in ihr alles so gesetzt, daß es sich auf sich bezieht und daß zugleich darüber hinausgegangen ist, – als ein Sein der Reflexion, ein Sein, in dem ein Anderes scheint und das in einem Anderen scheint. – Sie ist daher auch die Sphäre des gesetzten Widerspruches, der in der Sphäre des Seins nur an sich ist.

Es kommen in der Entwicklung des Wesens, weil der eine Begriff in allem das Substantielle ist, dieselben Bestimmungen vor als in der Entwicklung des Seins, aber in reflektierter Form. Also statt des Seins und Nichts treten jetzt die Formen des Positiven und Negativen ein, jenes zunächst dem gegensatzlosen Sein als Identität entsprechend, dieses entwickelt (in sich scheinend) als der Unterschied, – so ferner das Werden als Grund sogleich selbst[235] des Daseins, das, als auf den Grund reflektiert, Existenz ist usf. – Dieser (der schwerste) Teil der Logik enthält vornehmlich die Kategorien der Metaphysik und der Wissenschaften überhaupt, – als Erzeugnisse des reflektierenden Verstandes, der die Unterschiede als selbständig annimmt und zugleich auch ihre Relativität setzt, beides aber nur neben- oder nacheinander durch ein Auch verbindet und diese Gedanken nicht zusammenbringt, sie nicht zum Begriffe vereint.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 8, Frankfurt a. M. 1979, S. 231-232,234-236.
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