b. Das Dasein des Gesetzes
§ 215

[368] Die Verbindlichkeit gegen das Gesetz schließt von den Seiten des Rechts des Selbstbewußtseins (§ 132 mit der Anm.) die Notwendigkeit ein, daß die Gesetze allgemein bekannt gemacht seien.

Die Gesetze so hoch aufhängen, wie Dionysios der Tyrann tat, daß sie kein Bürger lesen konnte, – oder aber sie in den weitläufigen Apparat von gelehrten Büchern, Sammlungen von Dezisionen abweichender Urteile und Meinungen, Gewohnheiten usf. und noch dazu in einer fremden Sprache vergraben, so daß die Kenntnis des geltenden Rechts nur denen zugänglich ist, die sich gelehrt darauf legen, – ist ein und dasselbe Unrecht. – Die Regenten, welche ihren Völkern, wenn auch nur eine unförmliche Sammlung, wie Justinian, noch mehr aber ein Landrecht, als geordnetes und bestimmtes Gesetzbuch, gegeben haben, sind nicht nur die größten Wohltäter derselben geworden und mit Dank dafür von ihnen gepriesen worden, sondern sie haben damit einen großen Akt der Gerechtigkeit exerziert.


§ 216

Für das öffentliche Gesetzbuch sind einerseits einfache, allgemeine Bestimmungen zu fordern, andererseits führt die Natur des endlichen Stoffs auf endlose Fortbestimmung. Der[368] Umfang der Gesetze soll einerseits ein fertiges, geschlossenes Ganzes sein, andererseits ist er das fortgehende Bedürfnis neuer gesetzlicher Bestimmungen. Da diese Antinomie aber in die Spezialisierung der allgemeinen Grundsätze fällt, welche fest bestehen bleiben, so bleibt dadurch das Recht an ein fertiges Gesetzbuch ungeschmälert, sowie daran, daß diese allgemeinen einfachen Grundsätze für sich, unterschieden von ihrer Spezialisierung, faßlich und aufstellbar sind.

Eine Hauptquelle der Verwicklung der Gesetzgebung ist zwar, wenn in die ursprünglichen, ein Unrecht enthaltenden, somit bloß historischen Institutionen mit der Zeit das Vernünftige, an und für sich Rechtliche eindringt, wie bei den römischen oben (§ 180 Anm.) bemerkt worden, dem alten Lebensrechte usf. Aber es ist wesentlich, einzusehen, daß die Natur des endlichen Stoffes selbst es mit sich bringt, daß an ihm die Anwendung auch der an und für sich vernünftigen, der in sich allgemeinen Bestimmungen auf den Progreß ins Unendliche führt. – An ein Gesetzbuch die Vollendung zu fordern, daß es ein absolut fertiges, keiner weiteren Fortbestimmung fähiges sein solle – eine Forderung, welche vornehmlich eine deutsche Krankheit ist –, und aus dem Grunde, weil es nicht so vollendet werden könne, es nicht zu etwas sogenanntem Unvollkommenen, d.h. nicht zur Wirklichkeit kommen zu lassen, beruht beides auf der Mißkennung der Natur endlicher Gegenstände, wie das Privatrecht ist, als in denen die sogenannte Vollkommenheit das Perennieren der Annäherung ist, und auf der Mißkennung des Unterschiedes des Vernunft- Allgemeinen und des Verstandes-Allgemeinen und dessen Anwenden auf den ins Unendliche gehenden Stoff der Endlichkeit und Einzelheit. – Le plus grand ennemi du bien c'est le mieux, ist der Ausdruck des wahrhaften gesunden Menschenverstandes gegen den eitlen räsonierenden und reflektierenden.
[369]


§ 217

Wie in der bürgerlichen Gesellschaft das Recht an sich zum Gesetze wird, so geht auch das vorhin unmittelbare und abstrakte Dasein meines einzelnen Rechts in die Bedeutung des Anerkanntseins als eines Daseins in dem existierenden allgemeinen Willen und Wissen über. Die Erwerbungen und Handlungen über Eigentum müssen daher mit der Form, welche ihnen jenes Dasein gibt, vorgenommen und ausgestattet werden. Das Eigentum beruht nun auf Vertrag und auf den dasselbe des Beweises fähig und rechtskräftig machenden Förmlichkeiten.

Die ursprünglichen, d. i. unmittelbaren Erwerbungsarten und Titel (§ 54 ff.) fallen in der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich hinweg und kommen nur als einzelne Zufälligkeiten oder beschränkte Momente vor. – Es ist teils das im Subjektiven stehenbleibende Gefühl, teils die Reflexion, die am Abstraktum ihrer Wesentlichkeiten hält,[370] welche die Förmlichkeiten verwirft, die seinerseits wieder der tote Verstand gegen die Sache festhalten und ins Unendliche vermehren kann. – Übrigens liegt es im Gange der Bildung, von der sinnlichen und unmittelbaren Form eines Inhaltes mit langer und harter Arbeit zur Form seines Gedankens und damit einem ihm gemäßen einfachen Ausdruck zu gelangen, daß im Zustande einer nur erst beginnenden Rechtsbildung die Solennitäten und Formalitäten von großer Umständlichkeit [sind] und mehr als Sache selbst denn als das Zeichen gelten; woher denn auch im römischen Rechte eine Menge von Bestimmungen und besonders von Ausdrücken aus den Solennitäten beibehalten worden sind, statt durch Gedankenbestimmungen und deren adäquaten Ausdruck ersetzt worden zu sein.


§ 218

Indem Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit haben, so ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv[371] Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat. Es tritt damit der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft ein, wodurch einerseits die Größe des Verbrechens verstärkt wird; andererseits aber setzt die ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung herunter und führt daher eine größere Milde in der Ahndung desselben herbei.

Daß in einem Mitgliede der Gesellschaft die anderen alle verletzt sind, verändert die Natur des Verbrechens nicht nach seinem Begriffe, sondern nach der Seite der äußeren Existenz, der Verletzung, die nun die Vorstellung und das Bewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft, nicht nur das Dasein des unmittelbar Verletzten trifft. In den Heroenzeiten (siehe die Tragödien der Alten) sehen sich die Bürger durch die Verbrechen, welche die Glieder der Königshäuser gegeneinander begehen, nicht als verletzt an. – Indem das Verbrechen, an sich eine unendliche Verletzung, als ein Dasein nach qualitativen und quantitativen Unterschieden bemessen werden muß (§ 96), welches nun wesentlich als Vorstellung und Bewußtsein von dem Gelten der Gesetze bestimmt ist, so ist die Gefährlichkeit für die bürgerliche Gesellschaft eine Bestimmung seiner Größe oder auch eine seiner qualitativen Bestimmungen. – Diese Qualität nun oder Größe ist aber nach dem Zustande der bürgerlichen Gesellschaft veränderlich, und in ihm liegt die Berechtigung, sowohl einen Diebstahl von etlichen Sous oder einer Rübe mit dem Tode als einen Diebstahl, der das Hundert- und Mehrfache von dergleichen Werten beträgt, mit einer gelinden Strafe zu belegen. Der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit für die bürgerliche Gesellschaft, indem er die Verbrechen zu aggravieren scheint, ist es vielmehr vornehmlich, der ihre Ahndung vermindert hat. Ein Strafkodex gehört darum vornehmlich seiner Zeit und dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft in ihr an.[372]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 7, Frankfurt a. M. 1979, S. 368-373.
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