b. Die sittliche Handlung. Das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal

[342] Wie aber in diesem Reiche der Gegensatz beschaffen ist, so ist das Selbstbewußtsein noch nicht in seinem Rechte als einzelne Individualität aufgetreten; sie gilt in ihm auf der einen Seite nur als allgemeiner Willen, auf der ändern als Blut der Familie; dieser Einzelne gilt nur als der unwirkliche Schatten. – Es ist noch keine Tat begangen; die Tat aber ist das wirkliche Selbst. – Sie stört die ruhige Organisation und Bewegung der sittlichen Welt. Was in dieser als Ordnung und Übereinstimmung ihrer beiden Wesen erscheint, deren eins das andere bewährt und vervollständigt, wird durch die Tat zu einem Übergange Entgegengesetzter, worin jedes sich viel mehr als die Nichtigkeit seiner selbst und des anderen beweist denn als die Bewährung; – es wird zu der negativen Bewegung oder der ewigen Notwendigkeit des furchtbaren Schicksals, welche das göttliche wie das menschliche Gesetz sowie die beiden Selbstbewußtsein[e], in denen diese Mächte ihr Dasein haben, in den Abgrund seiner Einfachheit verschlingt – und für uns in das absolute Fürsichsein des rein einzelnen Selbstbewußtseins übergeht.

Der Grund, von dem diese Bewegung aus- und auf dem sie vorgeht, ist das Reich der Sittlichkeit; aber die Tätigkeit dieser Bewegung ist das Selbstbewußtsein. Als sittliches Bewußtsein ist es die einfache reine Richtung auf die sittliche Wesenheit oder die Pflicht. Keine Willkür und ebenso kein Kampf, keine Unentschiedenheit ist in ihm, indem das Geben und das Prüfen der Gesetze aufgegeben worden, sondern die sittliche Wesenheit ist ihm das unmittelbare, Unwankende. Widerspruchslose. Es gibt daher nicht das schlechte Schauspiel, sich in einer Kollision von Leidenschaft[342] und Pflicht, noch das Komische, sich in einer Kollision von Pflicht und Pflicht zu befinden – einer Kollision, die dem Inhalte nach dasselbe ist als die zwischen Leidenschaft und Pflicht; denn die Leidenschaft ist ebenso fähig, als Pflicht vorgestellt zu werden, weil die Pflicht, wie sich das Bewußtsein aus ihrer unmittelbaren substantiellen Wesenheit in sich zurückzieht, zum Formell-Allgemeinen wird, in das jeder Inhalt gleich gut paßt, wie sich oben ergab. Komisch aber ist die Kollision der Pflichten, weil sie den Widerspruch, nämlich eines entgegengesetzten Absoluten, also Absolutes und unmittelbar die Nichtigkeit dieses sogenannten Absoluten oder Pflicht, ausdrückt. – Das sittliche Bewußtsein aber weiß, was es zu tun hat, und ist entschieden, es sei dem göttlichen oder dem menschlichen Gesetze anzugehören. Diese Unmittelbarkeit seiner Entschiedenheit ist ein Ansichsein und hat daher zugleich die Bedeutung eines natürlichen Seins, wie wir gesehen; die Natur, nicht das Zufällige der Umstände oder der Wahl, teilt das eine Geschlecht dem einen, das andere dem anderen Gesetze zu, – oder umgekehrt, die beiden sittlichen Mächte selbst geben sich an den beiden Geschlechtern ihr individuelles Dasein und Verwirklichung.

Hierdurch nun, daß einesteils die Sittlichkeit wesentlich in dieser unmittelbaren Entschiedenheit besteht und darum für das Bewußtsein nur das eine Gesetz das Wesen ist, andernteils, daß die sittlichen Mächte in dem Selbst des Bewußtseins wirklich sind, erhalten sie die Bedeutung, sich auszuschließen und sich entgegengesetzt zu sein; sie sind in dem Selbstbewußtsein für sich, wie sie im Reiche der Sittlichkeit nur an sich sind. Das sittliche Bewußtsein, weil es für eins derselben entschieden ist, ist wesentlich Charakter; es ist für es nicht die gleiche Wesenheit beider; der Gegensatz erscheint darum als eine unglückliche Kollision der Pflicht nur mit der rechtlosen Wirklichkeit. Das sittliche Bewußtsein ist als Selbstbewußtsein in diesem Gegensatze, und als solches geht es zugleich darauf, dem Gesetze, dem es angehört, diese entgegengesetzte[343] Wirklichkeit durch Gewalt zu unterwerfen oder sie zu täuschen. Indem es das Recht nur auf seiner Seite, das Unrecht aber auf der ändern sieht, so erblickt von beiden dasjenige, welches dem göttlichen Gesetze angehört, auf der ändern Seite menschliche zufällige Gewalttätigkeit, das aber dem menschlichen Gesetze zugeteilt ist, auf der ändern den Eigensinn und den Ungehorsam des innerlichen Fürsichseins; denn die Befehle der Regierung sind der allgemeine am Tage liegende öffentliche Sinn; der Wille des anderen Gesetzes aber ist der unterirdische, ins Innere verschlossene Sinn, der in seinem Dasein als Wille der Einzelheit erscheint und im Widerspruche mit dem ersten der Frevel ist.

Es entsteht hierdurch am Bewußtsein der Gegensatz des Gewußten und des Nichtgewußten, wie in der Substanz [der] des Bewußten und Bewußtlosen, und das absolute Recht des sittlichen Selbstbewußtseins kommt mit dem göttlichen Rechte des Wesens in Streit. Für das Selbstbewußtsein als Bewußtsein hat die gegenständliche Wirklichkeit als solche Wesen; nach seiner Substanz aber ist es die Einheit seiner und dieses Entgegengesetzten, und das sittliche Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein der Substanz; der Gegenstand, als dem Selbstbewußtsein entgegengesetzt, hat darum gänzlich die Bedeutung verloren, für sich Wesen zu haben. Wie die Sphären, worin er nur ein Ding ist, längst verschwunden [sind], so auch diese Sphären, worin das Bewußtsein etwas aus sich befestigt und ein einzelnes Moment zum Wesen macht. Gegen solche Einseitigkeit hat die Wirklichkeit eine eigene Kraft; sie steht mit der Wahrheit im Bunde gegen das Bewußtsein und stellt diesem erst dar, was die Wahrheit ist. Das sittliche Bewußtsein aber hat aus der Schale der absoluten Substanz die Vergessenheit aller Einseitigkeit des Fürsichseins, seiner Zwecke und eigentümlichen Begriffe getrunken und darum in diesem stygischen Wasser zugleich alle eigene Wesenheit und selbständige Bedeutung der gegenständlichen Wirklichkeit ertränkt. Sein absolutes Recht ist[344] daher, daß es, indem es nach dem sittlichen Gesetze handelt, in dieser Verwirklichung nicht irgend etwas anderes finde als nur die Vollbringung dieses Gesetzes selbst und die Tat nichts anderes zeige, als das sittliche Tun ist. – Das Sittliche, als das absolute Wesen und die absolute Macht zugleich, kann keine Verkehrung seines Inhalts erleiden. Wäre es nur das absolute Wesen ohne die Macht, so könnte es eine Verkehrung durch die Individualität erfahren; aber diese als sittliches Bewußtsein hat mit dem Aufgeben des einseitigen Fürsichseins dem Verkehren entsagt; so wie die bloße Macht umgekehrt vom Wesen verkehrt werden würde, wenn sie noch ein solches Fürsichsein wäre. Um dieser Einheit willen ist die Individualität reine Form der Substanz, die der Inhalt ist, und das Tun ist das Übergehen aus dem Gedanken in die Wirklichkeit, nur als die Bewegung eines wesenlosen Gegensatzes, dessen Momente keinen besonderen, voneinander verschiedenen Inhalt und Wesenheit haben. Das absolute Recht des sittlichen Bewußtseins ist daher, daß die Tat, die Gestalt seiner Wirklichkeit, nichts anderes sei, als es weiß.

Aber das sittliche Wesen hat sich selbst in zwei Gesetze gespalten, und das Bewußtsein, als unentzweites Verhalten zum Gesetze, ist nur einem zugeteilt. Wie dies einfache Bewußtsein auf dem absoluten Rechte besteht, daß ihm als sittlichem das Wesen erschienen sei, wie es an sich ist, so besteht dieses Wesen auf dem Rechte seiner Realität oder darauf, gedoppeltes zu sein. Dies Recht des Wesens steht aber zugleich dem Selbstbewußtsein nicht gegenüber, daß es irgendwo anders wäre, sondern es ist das eigene Wesen des Selbstbewußtseins; es hat darin allein sein Dasein und seine Macht, und sein Gegensatz ist die Tat des letzteren. Denn dieses, eben indem es sich als Selbst ist und zur Tat schreitet, erhebt sich aus der einfachen Unmittelbarkeit und setzt selbst die Entzweiung. Es gibt durch die Tat die Bestimmtheit der Sittlichkeit auf, die einfache Gewißheit der unmittelbaren Wahrheit zu sein, und setzt die Trennung seiner[345] selbst in sich als das Tätige und in die gegenüberstehende, für es negative Wirklichkeit. Es wird also durch die Tat zur Schuld. Denn sie ist sein Tun und das Tun sein eigenstes Wesen; und die Schuld erhält auch die Bedeutung des Verbrechens: denn als einfaches sittliches Bewußtsein hat es sich dem einen Gesetze zugewandt, dem anderen aber abgesagt und verletzt dieses durch seine Tat. – Die Schuld ist nicht das gleichgültige doppelsinnige Wesen, daß die Tat, wie sie wirklich am Tage liegt, Tun ihres Selbsts sein könne oder auch nicht, als ob mit dem Tun sich etwas Äußerliches und Zufälliges verknüpfen könnte, das dem Tun nicht angehörte, von welcher Seite das Tun also unschuldig wäre. Sondern das Tun ist selbst diese Entzweiung, sich für sich und diesem gegenüber eine fremde äußerliche Wirklichkeit zu setzen; daß eine solche ist, gehört dem Tun selbst an und ist durch dasselbe. Unschuldig ist daher nur das Nichttun wie das Sein eines Steines, nicht einmal eines Kindes. – Dem Inhalte nach aber hat die sittliche Handlung das Moment des Verbrechens an ihr, weil sie die natürliche Verteilung der beiden Gesetze an die beiden Geschlechter nicht aufhebt, sondern vielmehr als unentzweite Richtung auf das Gesetz innerhalb der natürlichen Unmittelbarkeit bleibt und als Tun diese Einseitigkeit zur Schuld macht, nur die eine der Seiten des Wesens zu ergreifen und gegen die andere sich negativ zu verhalten, d.h. sie zu verletzen. Wohin in dem allgemeinen sittlichen Leben Schuld und Verbrechen, Tun und Handeln fällt, wird nachher bestimmter ausgedrückt werden; es erhellt unmittelbar soviel, daß es nicht dieser Einzelne ist, der handelt und schuldig ist; denn er, als dieses Selbst, ist nur der unwirkliche Schatten, oder er ist nur als allgemeines Selbst und die Individualität rein das formale Moment des Tuns überhaupt, und der Inhalt [sind] die Gesetze und Sitten und, bestimmt für den Einzelnen, die seines Standes;[346] er ist die Substanz als Gattung, die durch ihre Bestimmtheit zwar zur Art wird, aber die Art bleibt zugleich das Allgemeine der Gattung. Das Selbstbewußtsein steigt innerhalb des Volkes vom Allgemeinen nur bis zur Besonderheit, nicht bis zur einzelnen Individualität herab, welche ein ausschließendes Selbst, eine sich negative Wirklichkeit in seinem Tun setzt; sondern seinem Handeln liegt das sichere Vertrauen zum Ganzen zugrunde, worin sich nichts Fremdes, keine Furcht noch Feindschaft einmischt.

Die entwickelte Natur des wirklichen Handelns erfährt nun das sittliche Selbstbewußtsein an seiner Tat, ebensowohl wenn es dem göttlichen als wenn es dem menschlichen Gesetze sich ergab. Das ihm offenbare Gesetz ist im Wesen mit dem entgegengesetzten verknüpft; das Wesen ist die Einheit beider; die Tat aber hat nur das eine gegen das andere ausgeführt. Aber im Wesen mit diesem verknüpft, ruft die Erfüllung des einen das andere hervor, und, wozu die Tat es machte, als ein verletztes und nun feindliches, Rache forderndes Wesen. Dem Handeln liegt nur die eine Seite des Entschlusses überhaupt an dem Tage; er ist aber an sich das Negative, das ein ihm Anderes, ein ihm, der das Wissen ist, Fremdes gegenüberstellt. Die Wirklichkeit hält daher die andere, dem Wissen fremde Seite in sich verborgen und zeigt sich dem Bewußtsein nicht, wie sie an und für sich ist, – dem Sohne nicht den Vater in seinem Beleidiger, den er erschlägt, – nicht die Mutter in der Königin, die er zum Weibe nimmt. Dem sittlichen Selbstbewußtsein stellt auf diese Weise eine lichtscheue Macht nach, welche erst, wenn die Tat geschehen, hervorbricht und es bei ihr ergreift; denn die vollbrachte Tat ist der aufgehobene Gegensatz des wissenden Selbsts und der ihm gegenüberstehenden Wirklichkeit. Das Handelnde kann das Verbrechen und seine Schuld nicht verleugnen; die Tat ist dieses, das Unbewegte zu bewegen und das nur erst in der Möglichkeit Verschlossene hervorzubringen und hiermit das Unbewußte dem Bewußten, das Nichtseiende dem Sein zu verknüpfen. In dieser Wahrheit tritt also die[347] Tat an die Sonne, – als ein solches, worin ein Bewußtes einem Unbewußten, das Eigene einem Fremden verbunden ist, als das entzweite Wesen, dessen andere Seite das Bewußtsein, und auch als die seinige, erfährt, aber als die von ihm verletzte und feindlich erregte Macht.

Es kann sein, daß das Recht, welches sich im Hinterhalte hielt, nicht in seiner eigentümlichen Gestalt für das handelnde Bewußtsein, sondern nur an sich, in der inneren Schuld des Entschlusses und des Handelns vorhanden ist. Aber das sittliche Bewußtsein ist vollständiger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenübertritt, sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht. Die vollbrachte Tat verkehrt seine Ansicht; die Vollbringung spricht es selbst aus, daß, was sittlich ist, wirklich sein müsse; denn die Wirklichkeit des Zwecks ist der Zweck des Handelns. Das Handeln spricht gerade die Einheit der Wirklichkeit und der Substanz aus, es spricht aus, daß die Wirklichkeit dem Wesen nicht zufällig ist, sondern mit ihm im Bunde keinem gegeben wird, das nicht wahres Recht ist. Das sittliche Bewußtsein muß sein Entgegengesetztes um dieser Wirklichkeit willen und um seines Tuns willen als die seinige, es muß seine Schuld anerkennen;


weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt.


Dies Anerkennen drückt den aufgehobenen Zwiespalt des sittlichen Zweckes und der Wirklichkeit, es drückt die Rückkehr zur sittlichen Gesinnung aus, die weiß, daß nichts gilt als das Rechte. Damit aber gibt das Handelnde seinen Charakter und die Wirklichkeit seines Selbsts auf und ist zugrunde gegangen. Sein Sein ist dieses, seinem sittlichen Gesetze als seiner Substanz anzugehören; in dem Anerkennen des Entgegengesetzten hat dies aber aufgehört, ihm Substanz zu sein; und statt seiner Wirklichkeit hat es die Unwirklichkeit, die Gesinnung, erreicht. – Die Substanz erscheint zwar an[348] der Individualität als das Pathos derselben und die Individualität als das, was sie belebt und daher über ihr steht; aber sie ist ein Pathos, das zugleich sein Charakter ist; die sittliche Individualität ist unmittelbar und an sich eins mit diesem seinem Allgemeinen, sie hat ihre Existenz nur in ihm und vermag den Untergang, den diese sittliche Macht durch die entgegengesetzte leidet, nicht zu überleben.

Sie hat aber dabei die Gewißheit, daß diejenige Individualität, deren Pathos diese entgegengesetzte Macht ist, nicht mehr Übel erleidet, als sie zugefügt. Die Bewegung der sittlichen Mächte gegeneinander und der sie in Leben und Handlung setzenden Individualitäten hat nur darin ihr wahres Ende erreicht, daß beide Seiten denselben Untergang erfahren. Denn keine der Mächte hat etwas vor der anderen voraus, um wesentlicheres Moment der Substanz zu sein. Die gleiche Wesentlichkeit und das gleichgültige Bestehen beider nebeneinander ist ihr selbstloses Sein; in der Tat sind sie als Selbstwesen, aber ein verschiedenes, was der Einheit des Selbsts widerspricht und ihre Rechtlosigkeit und notwendigen Untergang ausmacht. Der Charakter gehört ebenso teils nach seinem Pathos oder Substanz nur der einen an, teils ist nach der Seite des Wissens der eine wie der andere in ein Bewußtes und Unbewußtes entzweit; und indem jeder selbst diesen Gegensatz hervorruft und durch die Tat auch das Nichtwissen sein Werk ist, setzt er sich in die Schuld, die ihn verzehrt. Der Sieg der einen Macht und ihres Charakters und das Unterliegen der ändern Seite wäre also nur der Teil und das unvollendete Werk, das unaufhaltsam zum Gleichgewichte beider fortschreitet. Erst in der gleichen Unterwerfung beider Seiten ist das absolute Recht vollbracht und die sittliche Substanz als die negative Macht, welche beide Seiten verschlingt, oder das allmächtige und gerechte Schicksal aufgetreten.

Werden beide Mächte nach ihrem bestimmten Inhalte und dessen Individualisation genommen, so bietet sich das Bild ihres gestalteten Widerstreits nach seiner formellen Seite als[349] der Widerstreit der Sittlichkeit und des Selbstbewußtseins mit der bewußtlosen Natur und einer durch sie vorhandenen Zufälligkeit (diese hat ein Recht gegen jenes, weil es nur der wahre Geist, nur in unmittelbarer Einheit mit seiner Substanz ist) und seinem Inhalte nach als der Zwiespalt des göttlichen und menschlichen Gesetzes dar. – Der Jüngling tritt aus dem bewußtlosen Wesen, aus dem Familiengeiste, und wird die Individualität des Gemeinwesens; daß er aber der Natur, der er sich entriß, noch angehöre, erweist sich so, daß er in der Zufälligkeit zweier Brüder heraustritt, welche mit gleichem Rechte sich desselben bemächtigen; die Ungleichheit der früheren und späteren Geburt hat für Sie, die in das sittliche Wesen eintreten, als Unterschied der Natur keine Bedeutung. Aber die Regierung, als die einfädle Seele oder das Selbst des Volksgeistes, verträgt nicht eine Zweiheit der Individualität; und der sittlichen Notwendigkeit dieser Einheit tritt die Natur als der Zufall der Mehrheit gegenüber auf. Diese beiden werden darum uneins, und ihr gleiches Recht an die Staatsgewalt zertrümmert beide, die gleiches Unrecht haben. Menschlicherweise angesehen, hat derjenige das Verbrechen begangen, welcher, nicht im Besitze, das Gemeinwesen, an dessen Spitze der andere stand, angreift; derjenige dagegen hat das Recht auf seiner Seite, welcher den anderen nur als Einzelnen, abgelöst von dem Gemeinwesen, zu fassen wußte und in dieser Machtlosigkeit vertrieb; er hat nur das Individuum als solches, nicht jenes, nicht das Wesen des menschlichen Rechts angetastet. Das von der leeren Einzelheit angegriffene und verteidigte Gemeinwesen erhält sich, und die Brüder finden beide ihren wechselseitigen Untergang durch einander; denn die Individualität, welche an ihr Fürsichsein die Gefahr des Ganzen knüpft, hat sich selbst vom Gemeinwesen ausgestoßen und löst sich in sich auf. Den einen aber, der auf seiner Seite sich fand, wird es ehren; den anderen hingegen, der schon auf den Mauern seine Verwüstung aussprach, wird die Regierung, die wiederhergestellte Einfachheit des Selbsts des Gemeinwesens,[350] um die letzte Ehre bestrafen; wer an dem höchsten Geiste des Bewußtseins, der Gemeine, sich zu vergreifen kam, muß der Ehre seines ganzen vollendeten Wesens, der Ehre des abgeschiedenen Geistes, beraubt werden.

Aber wenn so das Allgemeine die reine Spitze seiner Pyramide leicht abstößt und über das sich empörende Prinzip der Einzelheit, die Familie, zwar den Sieg davonträgt, so hat es sich dadurch mit dem göttlichen Gesetze, der seiner selbst bewußte Geist sich mit dem bewußtlosen nur in Kampf eingelassen; denn dieser ist die andere wesentliche und darum von jener unzerstörte und nur beleidigte Macht. Er hat aber gegen das gewalthabende, am Tage liegende Gesetz seine Hilfe zur wirklichen Ausführung nur an dem blutlosen Schatten. Als das Gesetz der Schwäche und der Dunkelheit unterliegt er daher zunächst dem Gesetze des Tages und der Kraft, denn jene Gewalt gilt unten, nicht auf Erden. Allein das Wirkliche, das dem Innerlichen seine Ehre und Macht genommen, hat damit sein Wesen aufgezehrt. Der offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbstsichere und sich versichernde Gewißheit des Volks hat die Wahrheit ihres Alle in Eins bindenden Eides nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wässern der Vergessenheit. Hierdurch verwandelt sich die Vollbringung des offenbaren Geistes in das Gegenteil, und er erfährt, daß sein höchstes Recht das höchste Unrecht, sein Sieg vielmehr sein eigener Untergang ist. Der Tote, dessen Recht gekränkt ist, weiß darum für seine Rache Werkzeuge zu finden, welche von gleicher Wirklichkeit und Gewalt sind mit der Macht, die ihn verletzt. Diese Mächte sind andere Gemeinwesen, deren Altäre die Hunde oder Vögel mit der Leiche besudelten, welche nicht durch die ihr gebührende Zurückgabe an das elementarische Individuum in die bewußtlose Allgemeinheit erhoben, sondern über der Erde im Reiche der Wirklichkeit geblieben [ist] und als die Kraft des göttlichen Gesetzes nun eine selbstbewußte wirkliche Allgemeinheit erhält. Sie machen sich feindlich auf und zerstören[351] das Gemeinwesen, das seine Kraft, die Pietät der Familie, entehrt und zerbrochen hat.

In dieser Vorstellung hat die Bewegung des menschlichen und göttlichen Gesetzes den Ausdruck ihrer Notwendigkeit an Individuen, an denen das Allgemeine als ein Pathos und die Tätigkeit der Bewegung als individuelles Tun erscheint, welches der Notwendigkeit derselben den Schein der Zufälligkeit gibt. Aber die Individualität und das Tun macht das Prinzip der Einzelheit überhaupt aus, das in seiner reinen Allgemeinheit das innere göttliche Gesetz genannt wurde. Als Moment des offenbaren Gemeinwesens hat es nicht nur jene unterirdische oder in seinem Dasein äußerliche Wirksamkeit, sondern ein ebenso offenbares, an dem wirklichen Volke wirkliches Dasein und Bewegung. In dieser Form genommen erhält das, was als einfache Bewegung des individualisierten Pathos vorgestellt wurde, ein anderes Aussehen und das Verbrechen und die dadurch begründete Zerstörung des Gemeinwesens die eigentliche Form ihres Daseins. – Das menschliche Gesetz also in seinem allgemeinen Dasein, das Gemeinwesen, in seiner Betätigung überhaupt die Männlichkeit, in seiner wirklichen Betätigung die Regierung, ist, bewegt und erhält sich dadurch, daß es die Absonderung der Penaten oder die selbständige Vereinzelung in Familien, welchen die Weiblichkeit vorsteht, in sich aufzehrt und sie in der Kontinuität seiner Flüssigkeit aufgelöst erhält. Die Familie ist aber zugleich überhaupt sein Element, das einzelne Bewußtsein allgemeiner betätigender Grund. Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewußtseins in das allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen inneren Feind. Diese – die ewige Ironie des Gemeinwesens – verändert durch die Intrige den allgemeinen Zweck der Regierung in einen Privatzweck, verwandelt ihre allgemeine Tätigkeit in ein Werk dieses bestimmten Individuums und verkehrt das allgemeine[352] Eigentum des Staats zu einem Besitz und Putz der Familie. Sie macht hierdurch die ernsthafte Weisheit des reifen Alters, das, der Einzelheit – der Lust und dem Genüsse sowie der wirklichen Tätigkeit – abgestorben, nur das Allgemeine denkt und besorgt, zum Spotte für den Mutwillen der unreifen Jugend und zur Verachtung für ihren Enthusiasmus, erhebt überhaupt die Kraft der Jugend zum Geltenden, des Sohnes, an dem die Mutter ihren Herrn geboren, des Bruders, an dem die Schwester den Mann als ihresgleichen hat, des Jünglings, durch den die Tochter, ihrer Unselbständigkeit entnommen, den Genuß und die Würde der Frauenschaft erlangt. – Das Gemeinwesen kann sich aber nur durch Unterdrückung dieses Geistes der Einzelheit erhalten, und, weil er wesentliches Moment ist, erzeugt es ihn zwar ebenso, und zwar durch die unterdrückende Haltung gegen denselben als ein feindseliges Prinzip. Dieses würde jedoch, da es vom allgemeinen Zwecke sich trennend nur böse und in sich nichtig ist, nichts vermögen, wenn nicht das Gemeinwesen selbst die Kraft der Jugend, die Männlichkeit, welche, nicht reif, noch innerhalb der Einzelheit steht, als die Kraft des Ganzen anerkennte. Denn es ist ein Volk, es ist selbst Individualität und wesentlich nur so für sich, daß andere Individualitäten für es sind, daß es sie von sich ausschließt und sich unabhängig von ihnen weiß. Die negative Seite des Gemeinwesens, nach innen die Vereinzelung der Individuen unterdrückend, nach außen aber selbsttätig, hat an der Individualität seine Waffen. Der Krieg ist der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz, die absolute Freiheit des sittlichen Selbstwesens von allem Dasein, in ihrer Wirklichkeit und Bewährung vorhanden ist. Indem er einerseits den einzelnen Systemen des Eigentums und der persönlichen Selbständigkeit wie auch der einzelnen Persönlichkeit selbst die Kraft des Negativen zu fühlen gibt, erhebt andererseits in ihm eben dies negative Wesen sich als das Erhaltende des Ganzen; der tapfere Jüngling, an welchem die Weiblichkeit ihre Lust hat,[353] das unterdrückte Prinzip des Verderbens tritt an den Tag und ist das Geltende. Nun ist es die natürliche Kraft und das, was als Zufall des Glücks erscheint, welche über das Dasein des sittlichen Wesens und die geistige Notwendigkeit entscheiden; weil auf Stärke und Glück das Dasein des sittlichen Wesens beruht, so ist schon entschieden, daß es zugrunde gegangen. – Wie vorhin nur Penaten im Volksgeiste, so gehen die lebendigen Volksgeister durch ihre Individualität jetzt in einem allgemeinen Gemeinwesen zugrunde, dessen einfache Allgemeinheit geistlos und tot und dessen Lebendigkeit das einzelne Individuum, als Einzelnes, ist. Die sittliche Gestalt des Geistes ist verschwunden, und es tritt eine andere an ihre Stelle.

Dieser Untergang der sittlichen Substanz und ihr Übergang in eine andere Gestalt ist also dadurch bestimmt, daß das sittliche Bewußtsein auf das Gesetz wesentlich unmittelbar gerichtet ist; in dieser Bestimmung der Unmittelbarkeit liegt, daß in die Handlung der Sittlichkeit die Natur überhaupt hereinkommt. Ihre Wirklichkeit offenbart nur den Widerspruch und den Keim des Verderbens, den die schöne Einmütigkeit und das ruhige Gleichgewicht des sittlichen Geistes eben an dieser Ruhe und Schönheit selbst hat; denn die Unmittelbarkeit hat die widersprechende Bedeutung, die bewußtlose Ruhe der Natur und die selbstbewußte unruhige Ruhe des Geistes zu sein. – Um dieser Natürlichkeit willen ist überhaupt dieses sittliche Volk eine durch die Natur bestimmte und daher beschränkte Individualität und findet also ihre Aufhebung an einer anderen. Indem aber diese Bestimmtheit, die im Dasein gesetzt, Beschränkung, aber ebenso das Negative überhaupt und das Selbst der Individualität ist, verschwindet, ist das Leben des Geistes und diese in allen ihrer selbst bewußte Substanz verloren. Sie tritt als eine formelle Allgemeinheit an ihnen heraus, ist ihnen nicht mehr als lebendiger Geist inwohnend, sondern die einfache Gediegenheit ihrer Individualität ist in viele Punkte zersprungen.[354]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 3, Frankfurt a. M. 1979, S. 342-355.
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