Erster Artikel

[275] Das Publikum ist dem verehrten Herrn Herausgeber den größten Dank schuldig, daß es durch dessen Veranstaltung und Ausdauer sich Hamanns Werke in die Hände gefördert sieht, nachdem sie früher schwer und vollständig nur wenigen zugänglich waren und nachdem sich so manche Aussichten zu einem gesamten Wiederabdruck derselben zerschlagen hatten; Hamann leistete (S. X, Vorrede) der vielfältigen Aufforderung, eine Sammlung seiner Schriften zu veranstalten, nicht selbst Genüge. Wenige nur besaßen eine vollständige Sammlung derselben; Goethe (Aus meinem Leben, XII. Buch) hatte den Gedanken gehabt, eine Herausgabe der Hamannschen Werke zu besorgen, aber ihn noch nicht ausgeführt. Jacobi, der ernstliche Anstalten dazu machte, hatte es das Schicksal nicht mehr vergönnt, ingleichen ein jüngerer Freund Hamanns, Wirkl. Geh. Oberregierungsrat Herr L. Nicolovius in Berlin, diese Besorgung abgelehnt und den jetzigen Herrn Herausgeber vielmehr dazu aufgefordert, welcher als der in der letzten Lebensperiode Jacobis mit ihm aufs innigste vertraute Freund von diesem zum Gehilfen der Herausgabe gewählt worden war; so vollführte denn dieser das Vermächtnis des ehrwürdigen, teuren Freundes und befriedigte die Wünsche des Publikums, ausnehmend begünstigt zugleich von dem weiteren Glücke (S. XII), von Freunden Hamanns oder deren Erben eine große Anzahl von Briefen, und zum Teil in einer mehrjährigen Reihenfolge, zum Abdruck überlassen[275] zu erhalten und so diese Ausgabe so ausstatten zu können, daß nur wenige Umstände oder Verwicklungen des Lebens Hamanns sein werden, über die man nicht Auskunft erhielte. Zu dem in dieser Sammlung Vereinigten ist noch die dritte Abteilung des IV. Bandes von Jacobis Werken hinzuzunehmen, worin sich der vorzüglich interessante Briefwechsel Hamanns mit diesem innigen Freunde befindet, deren Verleger nicht eingewilligt hat, daß ein neuer Abdruck dieses Briefwechsels für die gegenwärtige Sammlung gemacht würde. Dem versprochenen achten Bande dieser Ausgabe, welcher Erläuterungen, zum Teil von Hamann selbst, vielleicht Nachträge von Briefen und ein Register enthalten soll, haben wir ein paar Jahre vergebens entgegengesehen; da die Erscheinung desselben sich dem Vernehmen nach leicht noch geraume Zeit verzögern kann, wollen wir diese längst vorgehabte Anzeige nicht länger aufschieben, so wünschenswert es gewesen wäre, die versprochenen Erläuterungen schon zur Hand zu haben. Man fühlt deren dringendes Bedürfnis beim Lesen Hamannscher Schriften; aber die Hoffnung, durch das Versprochene große Erleichterung zu erhalten, vermindert sich ohnehin schon sehr, indem man Vorrede S. X zum ersten Teil liest, daß die von Hamann selbst anerkannte Unmöglichkeit, alles Dunkle in seinen Schriften aufzuhellen, es war, was ihn zurückgehalten hatte, die Ausgabe derselben zu veranstalten. Auch Jacobi wurde durch die Scheu dieser Forderung früher daran verhindert, und der jetzige Herr Herausgeber sagt S. XIII ebenda, daß die Erläuterungen, die im achten Bande folgen sollen, nur eine sehr mäßige Erwartung vielleicht befriedigen werden und daß die Zeitfolge der Schriften, hauptsächlich die vielen auf Hamanns Autorschaft bezüglichen Briefe, die vornehmlichste Erleichterung des Verständnisses gewähren müssen. Außerdem findet man bald aus, daß das Rätselhafte selbst zum Charakteristischen der Schriftstellerei und der Individualität Hamanns gehört und einen wesentlichen Zug derselben ausmacht.[276] Das Hauptdunkel aber, das über Hamann überhaupt lag, ist damit schon verschwunden, daß dessen Schriften nun vor uns liegen. Die Allgemeine Deutsche Bibliothek hatte sich freilich viel mit ihm zu tun gemacht, aber nicht auf eine Weise, die ihm Anerkennung und Eingang beim Publikum verschaffen sollte. Herder dagegen und Jacobi insbesondere (abgesehen von Goethes einzelner Äußerung, die Vorrede S. X angeführt ist, aber durch dessen ausführlichere gründliche Würdigung Hamanns am vorhin angeführten Orte ihre Einschränkung erhält) erwähnten desselben so, daß sie sich auf ihn wie auf einen zu berufen schienen, der da habe kommen sollen, der im vollen Besitze der Mysterien sei, in deren Abglanz ihre eigenen Offenbarungen nur spielten, wie in den Freimaurerlogen die Mitglieder vornehmlich auf höhere Obere hingewiesen werden sollen, welche sich in dem Mittelpunkte aller liefen der Geheimnisse Gottes und der Natur befänden. Ein Nimbus hatte sich so um den Magus aus Norden – dies war eine Art von Titel Hamanns geworden – verbreitet. Dem entsprach, daß er selbst in seinen Schriften überall nur fragmentarisch und sibyllinisch gesprochen hatte und die einzelnen Schriften, deren man habhaft werden konnte, auf die übrigen neugierig machten, in denen man sich Aufschluß versprechen mochte. Durch diese Ausgabe seiner Werke, die nun vor uns liegen, sind wir instand gesetzt, zu sehen, wer Hamann, was seine Weisheit und Wissenschaft war.

Fassen wir zuerst die allgemeine Stellung auf, in welcher sich Hamann zeigt, so gehört er der Zeit an, in welcher der denkende Geist in Deutschland, dem seine Unabhängigkeit zunächst in der Schulphilosophie aufgegangen war, sich nunmehr in der Wirklichkeit zu ergehen anfing und, was in dieser als fest und wahr galt, in Anspruch zu nehmen und ihr ganzes Gebiet sich zu vindizieren begann. Es ist dem deutschen Vorwärtsgehen des Geistes zu seiner Freiheit eigentümlich, daß das Denken sich in der Wolffschen[277] Philosophie eine methodische, nüchterne Form verschaffte; nachdem der Verstand nun mit Befassung auch der anderen Wissenschaften, der Mathematik ohnehin, unter diese Form den allgemeinen Unterricht und die wissenschaftliche Kultur durchdrungen hatte, fing er jetzt an, aus der Schule und seiner schulgerechten Form herauszutreten und mit seinen Grundsätzen alle Interessen des Geistes, die positiven Prinzipien der Kirche, des Staats, des Rechts auf eine populäre Weise zu besprechen. Sowenig als diese Anwendung des Verstandes etwas Geistreiches an sich hatte, sowenig hatte der Inhalt einheimische Originalität. Man muß es nicht verhehlen wollen, daß dies Aufklären allein darin bestand, die Grundsätze des Deismus, der religiösen Toleranz und der Moralität, welche Rousseau und Voltaire zur allgemeinen Denkweise der höheren Klassen in Frankreich und außer Frankreich erhoben hatten, auch in Deutschland einzuführen. Während Voltaire in Berlin am Hofe Friedrichs II. selbst sich eine Zeitlang aufgehalten hatte, viele andere regierende deutsche Fürsten (vielleicht die Mehrzahl) es sich zur Ehre rechneten, mit Voltaire oder seinen Freunden in Bekanntschaft, Verbindung und Korrespondenz zu sein, ging von Berlin der Vertrieb derselben Grundsätze aus in die Sphäre der Mittelklassen, mit Einschluß des geistlichen Standes, unter dem, während in Frankreich der Kampf vornehmlich gegen denselben gerichtet war, vielmehr in Deutschland die Aufklärung ihre tätigsten und wirksamsten Mitarbeiter zählte. Dann aber fand ferner zwischen beiden Ländern der Unterschied statt, daß in Frankreich diesem Emporkommen oder Empörendes Denkens alles sich anschloß, was Genie, Geist, Talent, Edelmut besaß, und diese neue Weise der Wahrheit mit dem Glänze aller Talente und mit der Frische eines naiven, geistreichen, energischen, gesunden Menschenverstandes erschien. In Deutschland dagegen spaltete sich jener große Impuls in zwei verschiedene Charaktere. Auf der einen Seite wurde das Geschäft der Aufklärung[278] mit trockenem Verstande, mit Prinzipien kahler Nützlichkeit, mit Seichtigkeit des Geistes und Wissens, kleinlichen oder gemeinen Leidenschaften und, wo es am respektabelsten war, mit einiger, doch nüchterner Wärme des Gefühls betrieben und trat gegen alles, was sich von Genie, Talent, Gediegenheit des Geistes und Gemüts auftat, in feindselige, trakassierende, verhöhnende Opposition. Berlin war der Mittelpunkt jenes Aufklärens, wo Nicolai, Mendelssohn, Teller, Spalding, Zöllner usf. in ihren Schriften und die Gesamtperson, die Allgemeine Deutsche Bibliothek, in gleichförmigem Sinne, wenn auch mit verschiedenem Gefühl tätig waren; Eberhard, Steinbart, Jerusalem usf. sind als Nachbarn in diesen Mittelpunkt einzurechnen. Außerhalb desselben befand sich in Peripherie um ihn her, was in Genie, Geist und Vernunfttiefe erblühte und von jener Mitte aufs gehässigste angegriffen und herabgesetzt wurde. Gegen Nordost sehen wir in Königsberg Kant, Hippel, Hamann, gegen Süden in Weimar und Jena Herder, Wieland, Goethe, später Schiller, Fichte, Schelling u.a.; weiter hinüber gegen Westen Jacobi mit seinen Freunden; Lessing, längst gleichgültig gegen das Berliner Treiben, lebte in liefen der Gelehrsamkeit wie in ganz anderen Tiefen des Geistes, als seine Freunde, die vertraut mit ihm zu sein meinten, ahnten. Hippel etwa war unter den genannten großen Männern der Literatur Deutschlands der einzige, der den Schmähungen jenes Mittelpunktes nicht ausgesetzt war. Obgleich beide Seiten im Interesse der Freiheit des Geistes übereinkamen, so verfolgte jenes Aufklären, als trockener Verstand des Endlichen, mit Haß das Gefühl oder Bewußtsein des Unendlichen, was sich auf dieser Seite befand, dessen Tiefe in der Poesie wie in der denkenden Vernunft. Von jener Wirksamkeit ist das Werk geblieben, von dieser aber auch die Werke.

Wenn nun diejenigen, welche dem Geschäfte der Aufklärung verfallen waren, weil formelle Abstraktionen und etwa allgemeine Gefühle von Religion, Menschlichkeit und[279] Rechtlichkeit ihre geistige Höhe ausmachten, nur unbedeutende Eigentümlichkeit gegeneinander haben konnten, so war jene Peripherie ein Kranz origineller Individualitäten. Unter ihnen ist wohl Hamann nicht nur auch originell, sondern mehr noch ein Original, indem er in einer Konzentration seiner tiefen Partikularität beharrte, welche aller Form von Allgemeinheit, sowohl der Expansion denkender Vernunft als des Geschmacks, sich unfähig gezeigt hat.

Hamann steht der Berliner Aufklärung zunächst durch den Tiefsinn seiner christlichen Orthodoxie gegenüber, aber so, daß seine Denkweise nicht das Festhalten der verholzten orthodoxen Theologie seiner Zeit ist; sein Geist behält die höchste Freiheit, in der nichts ein Positives bleibt, sondern sich zur geistigen Gegenwart und eigenem Besitz versubjektiviert. Mit seinen beiden Freunden in Königsberg, Kant und Hippel, die er ehrt und mit denen er auch Umgang hat, steht er in dem Verhältnisse eines allgemeinen Zutrauens, aber keiner Gemeinschaftlichkeit ihrer Interessen. Von jener Aufklärung ist er ferner nicht nur durch den Inhalt geschieden, sondern auch aus dem Grunde, aus dem er von Kant getrennt ist, weil ihm das Bedürfnis der denkenden Vernunft fremd und unverstanden geblieben ist. Hippel steht er insofern näher, indem er seinen inneren Sinn wie nicht zur Expansion der Erkenntnis, ebensowenig der Poesie herausführen kann und nur der humoristischen, blitzenden, desultorischen Äußerung fähig ist; aber dieser Humor ist ohne Reichtum und Mannigfaltigkeit der Empfindung und ohne allen Trieb oder Versuch von Gestalten; er bleibt ganz beschränkt subjektiv. Am meisten Übereinstimmendes hat er mit dem seiner Freunde, mit dem sich das Verhältnis auch in dem Briefwechsel am innigsten und rücksichtslosesten zeigt, mit Jacobi, welcher nur Briefe und, gleichfalls wie Hamann, kein Buch zu schreiben fähig war; doch sind Jacobis Briefe in sich klar, sie gehen auf Gedanken, und diese kommen zu einer Entwicklung, Ausführung und einem Fortgang, so daß die Briefe zu einer zusammenhängenden[280] Reihe werden und eine Art von Buch ausmachen. Die Franzosen sagen: Le stile c'est l'homme même; Hamanns Schriften haben nicht sowohl einen eigentümlichen Stil, als daß sie durch und durch Stil sind. In allem, was aus Hamanns Feder gekommen, ist die Persönlichkeit so sehr zudringlich und das Überwiegende, daß der Leser durchaus allenthalben mehr noch auf sie als auf das, was als Inhalt aufzufassen wäre, hingewiesen wird. An den Erzeugnissen, welche sich für Schriften geben und einen Gegenstand abhandeln sollen, fällt sogleich die unbegreifliche Wunderlichkeit ihres Verfassers auf; sie sind eigentlich ein, und zwar ermüdendes Rätsel, und man sieht, daß das Wort der Auflösung die Individualität ihres Verfassers ist; diese erklärt sich aber nicht in ihnen selbst. Dies Verständnis vornehmlich wird uns nun aber in dieser Sammlung durch die Bekanntmachung zweier bisher ungedruckter Aufsätze Hamanns aufgeschlossen; der eine ist die von ihm im Jahre 1758 und 1759 verfaßte Lebensbeschreibung, welche freilich nur bis zu diesem Zeitpunkt geht, somit nur den Anfang seines Lebens, aber den wichtigsten Wendungspunkt seiner Entwicklung enthält; der andere, am Ende seines Lebens verfaßt, sollte die ganze Absicht seiner Autorschaft enthüllen (Bd. VII, Vorr. S. VII) und gibt eine Übersicht über dieselbe. Die reichhaltige, bisher ungedruckte Briefsammlung vervollständigt die Materialien zur Anschaulichkeit seiner Persönlichkeit. Es ist jene Lebensbeschreibung, von der wir auszugehen haben, die auch als das vornehmlichste Neue dieser Ausgabe eine ausführlichere Anzeige verdient.

Sie ist im I. Bd., S. 149-242, enthalten und führt den Titel Gedanken über meinen Lebenslauf, Psalm 94, 19 (der Anfang), datiert von London, 21. April 1758. Die Stimmung, in der sich Hamann daselbst befand, ist in dem ruhig und sehr gut stilisierten und insofern besser als meist alle seine späteren Schriften geschriebenen Anfange eines anderen Aufsatzes, Biblische Betrachtungen eines Christen, auch von London, den 19. März am Palmsonntag 1758 datiert, ausgedrückt:[281] »Ich habe heute mit Gott den Anfang gemacht, zum zweitenmal die Heilige Schrift zu lesen. Da mich meine Umstände zu der größten Einöde nötigen, worin ich wie ein Sperling auf der Spitze des Daches sitze und wache, so finde ich gegen die Bitterkeit mancher traurigen Betrachtungen über meine vergangenen Torheiten, über den Mißbrauch der Wohltaten und Umstände, womit mich die Vorsehung so gnädig unterscheiden wollen, ein Gegengift in der Gesellschaft meiner Bücher, in der Beschäftigung und Übung, die sie meinen Gedanken geben... Die Wissenschaften und jene Freunde meiner Vernunft scheinen gleich Hiobs mehr meine Geduld auf die Probe zu stellen, anstatt mich zu trösten, und mehr die Wunden meiner Erfahrung bluten zu machen, als ihren Schmerz zu lindern. Die Natur hat in alle Körper ein Salz gelegt, das die Scheidekünstler auszuziehen wissen, und die Vorsehung (es scheint) in alle Widerwärtigkeiten einen moralischen Urstoff, den wir aufzulösen und abzusondern haben und den wir mit Nutzen als ein Hilfsmittel gegen die Krankheiten unserer Natur und gegen unsere Gemütsübel anwenden können. Wenn wir Gott bei Sonnenschein in der Wolkensäule übersehen, so erscheint uns seine Gegenwart des Nachts in der Feuersäule sichtbarer und nachdrücklicher. Ich bin zu dem größten Vertrauen auf seine Gnade durch eine Rücksicht auf mein ganzes Leben berechtigt... Es hat weder an meinem bösen Willen gelegen, noch an Gelegenheit gefehlt, in ein weit tieferes Elend, in weit schwerere Schulden zu fallen, als worin ich mich befinde. Gott! wir sind solche armseligen Geschöpfe, daß selbst ein geringerer Grad unserer Bosheit ein Grund unserer Dankbarkeit gegen dich werden muß.« Die Veranlassung zu dieser bußfertigen Stimmung sowie zu dem Niederschreiben seines bisherigen Lebenslaufs waren die Verwicklungen, in welche er in dieser Epoche geraten war und die hier mit den früheren Hauptmomenten seines Lebens kurz herauszuheben sind.

Hamann ist den 27. August 1730 in Königsberg in Preußen[282] geboren; sein Vater war ein Bader und, wie es scheint, von bemittelten Umständen. Das Andenken seiner Eltern (S. 152) ›gehört unter die teuersten Begriffe seiner Seele und ist mit zärtlicher Bewegung der Liebe und Erkenntlichkeit verknüpft‹; ohne weiteres Detail über ihren Charakter ist gesagt, daß die Kinder (Hamann hatte nur noch einen etwas jüngeren Bruder) »zu Hause eine Schule an der Aufsicht, ja an der strengen Aufsicht und an dem Beispiele der Eltern« fanden. Das elterliche Haus war jederzeit eine Zuflucht junger Studierender, welche die Arbeit sittsam machte; in diesem Umgange trieb Hamann Sprachen, Griechisch, Französisch, Italienisch, Musik, Tanzen, Malen. »So schlecht und recht wir in Kleidern und in anderen Torheiten kurzgehalten wurden, soviel Ausschweifungen wurde uns hierin verstattet und nachgesehen.« In seiner Schulerziehung hatte er sieben Jahre Unterricht bei einem Manne, der ihm das Latein ohne Grammatik beizubringen gesucht hatte, alsdann bei einem mehr methodischen Lehrer, bei dem er dafür nun mit dem Donat anfangen mußte. Die Fortschritte, die er hierin machte, waren so, daß derselbe sich und Hamann schmeichelte, an diesem einen großen Lateiner und Griechen erzogen zu haben; Hamann nennt ihn einen Pedanten, und über die erlangte Fertigkeit im Übersetzen griechischer und lateinischer Autoren, in der Rechenkunst, in der Musik, läßt er sich in den damals sich verbreitenden Ansichten gehen, daß die Erziehung auf Bildung des Verstandes und Urteils gerichtet sein müsse. Der junge Adel und viele Bürgerskinder sollten eher die Lehrbücher des Ackerbaus als das Leben Alexanders usf. zu Lehrbüchern der römischen Sprache haben und dergleichen, – Ansichten, von welchen die Basedowschen, Campeschen u. a. Deklamationen und Aufschneidereien wie ihre pomphaften Unternehmungen ausgegangen und welche auf die Organisation und den Geist des öffentlichen Unterrichts so nachteilige, noch jetzt, sosehr man davon zurückgekommen, in ihren Folgen nicht ganz beseitigte Einwirkungen gehabt haben. Hamann klagt, daß er in[283] Historie, Geographie ganz zurückgelassen worden und nicht den geringsten Begriff von der Dichtkunst erlangt habe, den Mangel der beiden ersten niemals gehörig habe ersetzen können, auch sich in vieler Mühe finde, seine Gedanken mündlich und schriftlich in Ordnung zu sammeln und mit Leichtigkeit auszudrücken. Wenn ein Teil dieses Mangels auf den Schulunterricht kommt, so liegt jedoch davon, wie wir weiterhin sehen werden, wohl am meisten in der sonst charakteristischen Temperatur und Stimmung seines Geistes.

Es ist ebenso charakteristisch für ihn, obgleich wohl nicht für den Schulunterricht, was er ferner angibt, daß alle Ordnung, aller Begriff und Faden und Lust an derselben in ihm verdunkelt worden sei. Mit einer Menge Wörter und Sachen überschüttet, deren Verstand, Grund, Zusammenhang, Gebrauch er nicht gekannt, sei er in die Sucht verfallen, immer mehr und mehr ohne Wahl, ohne Untersuchung und Überlegung aufeinanderzuschütten, und diese Seuche habe sich auf alle seine Handlungen ausgebreitet; auch in seinem übrigen Leben ist er hierüber nicht reifer geworden. Als einen weiteren Abweg, in den er verfallen, gibt er eine Neugierde und kindischen Vorwitz an, in allen Ketzereien bewandert zu werden. »So sucht der Feind unserer Seelen und alles Guten den göttlichen Weizen durch sein Unkraut zu ersticken.« Nach ferneren Schulstudien, worin er die ersten Begriffe von Philosophie und Mathematik, von Theologie und Hebräischem bekam, ein neues Feld von Ausschweifungen: »Mein Gehirn wurde zu einer Jahrmarktsbude von ganz neuen Waren«; mit diesem Wirbel kam er im Jahre 1746 auf die hohe Schule. Er sollte Theologie studieren, fand aber ein Hindernis in seiner Zunge, schwachem Gedächtnisse, viele Heuchelhindernisse in seiner Denkungsart usw. Was ihn vom Geschmacke an derselben und an allen ernsthaften Wissenschaften entfernte, sei eine neue Neigung gewesen, die in ihm aufgegangen, nämlich zu Altertümern, Kritik, hierauf zu den sogenannten schönen und zierlichen Wissenschaften, Poesie, Romanen, Philologie, den französischen[284] Schriftstellern und ihrer Gabe zu dichten, zu malen, schildern, der Einbildungskraft zu gefallen usw.; er bittet Gott inbrünstig um Verzeihung dieses Mißbrauchs seiner natürlichen Kräfte usf. Er bekannte sich also »zum Schein zur Rechtsgelehrsamkeit,... ohne Ernst, ohne Treue, ein Jurist zu werden«; seine Torheit, sagt er, ließ ihn eine Art von Großmut und Erhabenheit sehen, nicht für Brot zu studieren, sondern nach Neigung, zum Zeitvertreibe und aus Liebe zu den Wissenschaften selbst, da es besser wäre, ein Märtyrer denn ein Taglöhner und Mietling der Musen zu sein. »Was für Unsinn läßt sich«, fügt er mit Recht gegen solchen Hochmut hinzu, »in runden und vollautenden Worten auszudrücken!«

Er gedachte nun eine Hofmeisterstelle anzunehmen, um Gelegenheit zu finden, in der Welt seine Freiheit zu versuchen, auch weil er im Geld etwas sparsam gehalten wurde; er schiebt die Schuld, mit seinem Gelde nicht besser ausgekommen zu sein, auf den Mangel des göttlichen Segens, die »Unordnung, der allgemeine Grundfehler meiner Gemütsart, eine falsche Großmut, eine zu blinde Liebe und Wohlgefallen für anderer Urteile und Sorglosigkeit« aus Unerfahrenheit; – von dem Fehler des Wohlgefallens für anderer Urteile ist er bald nur zu sehr geheilt worden.

Aus dem Detail der Mißverhältnisse, in die er in seinen Hofmeisterstellen sich verwickelte, mag hier nur ausgehoben werden, was er davon auf seinen Charakter schiebt. »Meine ungesellige oder wunderliche Lebensart«, sagt er S. 177, »die teils Schein, teils falsche Klugheit, teils eine Folge einer inneren Unruhe war, an der ich sehr lange in meinem Leben siech gewesen, – eine Unzufriedenheit und Unvermögendheit, mich selbst zu ertragen, eine Eitelkeit, sich selbige zum Rätsel zu machen, verdarben viel und machten mich anstößig«. In seiner ersten Stelle schrieb er zwei Briefe an die[285] Mutter [seines Zöglings], eine Baronin in Livland, die ihr das Gewissen aufwecken sollten; das Antwortschreiben gab ihm seine Entlassung. Es ist S. 254 f. buchstäblich abgedruckt, der Anfang mag hier stehen: »Herr Hamann, da die Selben sich gahr nicht bei Kinder von Condition zur Information schicken, noch mir die schlechte Briefe gefallen, worin Sie meinen Sohn so auf eine gemeine und niederträchtige Ahrt abmalen« usf. – Für die Demütigungen seines Stolzes fand er durch die Zärtlichkeit des Kindes und die Schmeichelei, unschuldig zugleich und mit Bösem für Gutes vergolten zu sein, einige Genugtuung, »Ich wickelte mich«, sagte er, »in den Mantel der Religion und Tugend ein, um meine Blöße zu decken, schnaubte aber vor Wut, mich zu rächen und mich zu rechtfertigen«; doch verrauchte »diese Torheit« bald. In ähnliche Mißverständnisse geriet er in einem zweiten Hause und späterhin in noch weitere Mißstimmungen dadurch, daß er, nachdem er dasselbe verlassen, sich nicht enthalten konnte, sowohl seinem Nachfolger, einem Freunde, als auch den Zöglingen fernerhin seine brieflichen Belehrungen und Zurechtweisungen aufzudrängen. Sein Freund schien diese Aufmerksamkeit für den jungen Baron als Eingriffe oder Vorwürfe anzusehen, und der letztere bezahlte ihn (Hamann) mit Haß und Verachtung.

In Königsberg hatte Hamann die Freundschaft eines der Brüder Berens aus Riga gewonnen. »Der die Herzen kennt und prüft und zu brauchen weiß, hat seine weisen Absichten gehabt, uns beide durch einander in Versuchung zu führen«. In der Tat sind die Verwicklungen mit diesem Freunde und dessen Familie das Durchgreifendste in Hamanns Schicksal. Er lebte eine Zeitlang in diesem Hause, wo er, wie er sagt, als ein Bruder, Ja beinahe als ein älterer Bruder angesehen wurde; aber er gibt zugleich an, daß er ungeachtet alles Anlasses, zufrieden zu sein, sich der Freude in der Gesellschaft[286] der edelsten, muntersten, gutherzigsten Menschen beides Geschlechts doch nicht überlassen konnte; nichts als Mißtrauen gegen sich selbst und andere, nichts als Qual, wie er sich ihnen nähern oder entdecken sollte! Er sieht dies als eine Wirkung der Hand Gottes an, die schwer über ihm geworden, daß er sich selbst unter allem dem Guten, was ihm von Menschen geschah – als deren Bewunderer, Verehrer und Freund er sich zugleich angibt –, nicht erkennen sollte. – Hamann beschreibt diesen Zustand seiner inneren Unruhe als ein Gedrücktsein, das gegen wohlwollendste Freundschaft, die er auch empfand und anerkannte, nicht zu einem inneren Wohlwollen gegen sie [die Freunde] und damit nicht zur Offenheit und Freimütigkeit des Verhältnisses mit ihnen gelangen konnte. Die Franzosen haben einen kurzen Ausdruck für einen Menschen von dieser Widerwärtigkeit des Gemüts, welche wohl Bösartigkeit zu nennen ist; sie nennen einen solchen un homme mal élevé, indem sie Wohlwollen und Offenheit mit Recht für die nächsten Folgen einer guten Erziehung ansehen. Auch ein anderer Keim zu einer späteren, höheren Selbsterziehung von innen heraus, dessen Zeit ist, in der Jugend zu erwachen, tut in Hamanns Jugend sich nicht hervor, – nicht irgendeine Poesie dieser Lebenszeit oder, wenn man will, Phantasterei und Leidenschaft, die ein zwar noch unreifes, ideales, aber festes Interesse für einen Gegenstand geistiger Tätigkeit enthält und für das ganze Leben entscheidend wird. Die Energie seines intelligenten Naturells wird nur zu einem wilden Hunger geistiger Zerstreuung, die keinen Zweck enthält, in den sie sich resümierte. Aber das Übel seiner Gemütsart sollte bald in einer Prüfung auf eine schlimmere Weise zum Ausschlag kommen.

Er war auf kurze Zeit in die zweite Hofmeisterstelle zurückgekehrt, die er in Kurland bekleidet hatte. Jedoch zurückgerufen nach Haus, um seine sterbende Mutter noch einmal zu sehen, und auf das Anerbieten engerer Verbindungen mit dem Berensschen Hause in Riga, verließ er jene[287] Stelle wieder: »Gott«, sagt er S. 189, »gab außerordentlichen Segen, daß ich von dem Hause aus Kurland mit Scheingründen und ohne Aufrichtigkeit losgelassen wurde unter dem Versprechen, wiederzukommen, das eine offenbare Lüge und wider alle meine Absichten und Neigungen war.« Die Verbindung mit den Brüdern Berens war die Aufnahme Hamanns in ihre Dienste, Geschäfte und Familie; er sollte auf ihre Kosten eine Reise tun, »um mich aufzumuntern und mit mehr Ansehen und Geschick in ihr Haus zurückzukommen«. Nachdem er seine Mutter sterben gesehen, wobei er bei der unsäglichen Wehmut und Betrübnis, die er empfunden, zugleich gesteht, daß an ihrem Totenbette sein Herz weit unter der Zärtlichkeit geblieben, die er ihr schuldig gewesen, und sich imstande fühlte, ungeachtet der nahen Aussicht, sie zu verlieren, sich auf der Welt anderen Zerstreuungen zu überlassen, trat er am 1. Oktober 1756, mit Geld und Vollmacht versehen, die Reise nach London an, über Berlin, wo er unter anderen die erste Bekanntschaft mit Moses Mendelssohn machte, über Lübeck, wo er bei Blutsverwandten die Wintermonate zubrachte, und Amsterdam. In dieser Stadt, sagt er, daß er alles Glück, Bekannte und Freunde nach seinem Stande und Gemütsart zu finden, worauf er sonst so stolz gewesen sei, verloren [habe], so daß er glaubte, daß sich jedermann vor ihm scheute, und er selbst scheute jeden; von jener einfachen Erfahrung in einer ganz fremden holländischen Stadt weiß er sich keinen anderen Grund anzugeben, als daß Gottes Hand schwer über ihm gewesen, weil er ihn aus den Augen gesetzt, ihn mit lauem Herzen nur bekannte usf. Auf der Weiterreise nach London wurde er von einem Engländer um Geld betrogen, den er morgens auf den Knien betend gefunden und daher Zutrauen zu ihm gefaßt hatte. In London, wo Hamann den 18. April 1757 ankam, war sein erster Gang, einen Marktschreier aufzusuchen, von dem er gehört hatte, daß er alle Fehler der Sprache heilen könnte (schon oben war eines solchen Fehlers erwähnt, der wohl im Stottern bestand). Weil[288] aber die Kur kostbar und langwierig schien, unterzog sich Hamann derselben nicht und mußte also, wie er sagt, seine Geschäfte mit der alten Zunge und mit dem alten Herzen anfangen; er entdeckte selbige (wie es scheint Schuldforderungen) denjenigen, an die er gewiesen war: »Man erstaunte über die Wichtigkeit meiner Angelegenheit, noch mehr über die Art der Ausführung, und vielleicht am meisten über die Wahl der Person, der man selbige anvertraut hatte«; man lächelte und benahm ihm die Hoffnung, etwas auszurichten. Hamann aber spiegelte sich nun als das Klügste vor, »so wenig als möglich zu tun, um nicht die Unkosten zu häufen, mir nicht durch übereilte Schritte Blößen zu geben und Schande zu machen«. Er ging also unterdrückt und taumelnd hin und her, hatte keinen Menschen, dem er sich entdecken und der ihm raten oder helfen konnte, war der Verzweiflung nahe und suchte in lauter Zerstreuungen selbige aufzuhalten und zu unterdrücken. ›Mein Vorsatz war nichts, als eine Gelegenheit zu finden – und dafür hätte ich alles angesehen –, um meine Schulden zu bezahlen und in einer neuen Tollheit anfangen zu können; die leeren Versuche, in die ich durch Briefe, durch die Vorstellungen der Freundschaft und Erkenntlichkeit aufwachte, waren lauter Schein; nichts als die Einbildung eines irrenden Ritters, und die Schellen meiner Narrenkappe waren meine gute Laune und mein Heldenmut.‹ So beschreibt er die Rat- und Haltlosigkeit, in der sich sein Charakter befand. Endlich zog er auf ein Kaffeehaus, weil er keine Seele zum Umgang mehr hatte, »einige Aufmunterung in öffentlichen Gesellschaften zu haben, um durch diesen Weg vielleicht... eine Brücke zum Glück zu bauen«. So ganz heruntergekommen durch den Eigensinn einer herumlungernden, alle Haltung und Rechtlichkeit wie den Zusammenhang mit seinen Freunden in Riga und mit seinem Vater verschmähenden Torheit sehen wir ihn nach einem ohne alles Geschäft und Zweck verbrachten Jahre in einem Hause bei einem ehrlichen dürftigen Ehepaar vom 8. Febr. 1758 [an] einquartiert, wo er in drei Monaten[289] höchstens viermal ordentliche Speise gehabt und seine ganze Nahrung Wassergrütze und des Tags einmal Kaffee war. Gott, sagt er, hat ihm selbige außer ordentlich gedeihen lassen, denn er fand sich bei dieser Kost in guter Gesundheit; die Not, fügt er hinzu, war der stärkste Beweggrund zu dieser Diät, diese aber vielleicht das einzige Mittel, seinen Leib von den Folgen der Völlerei wiederherzustellen.

Die innerlich und äußerlich ratlose Lage trieb ihn, eine Bibel aufzusuchen; hier beschreibt er die Zerknirschung, die das Lesen derselben in ihm hervorbrachte, die Erkenntnis der Tiefe des göttlichen Willens in der Erlösung Christi, seiner eigenen Verbrechen und seines Lebenslaufs in der Geschichte des jüdischen Volkes; sein Herz ergoß sich in Tränen, er konnte es nicht länger, konnte es nicht länger seinem Gott verhehlen, daß er der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Wir finden aus der damaligen Zeit häufig Schilderungen von der Angst und Qual, in welche Menschen von einfachem, ruhigem Leben gerieten, wenn sie die Forderung zur Buße und die Bedingung der Gnade, in ihrem Herzen eine abscheuliche Sündhaftigkeit zu finden, bei aller Erforschung ihres Innern nicht erfüllen konnten; aber sie belehrten sich endlich, daß eben dies, die Sündhaftigkeit nicht in sich zu entdecken, die ärgste Sünde selbst sei, und waren hiermit auf den Weg, Buße tun zu können, gediehen. Hamann hatte nach dem, wie er seinen Aufenthalt in London schildert, diese Wendung nicht nötig. Durch seine Buße und Reue fühlte er nun sein Herz beruhigter als jemals in seinem Leben; der Trost, den er empfangen, verschlang alle Furcht, alle Traurigkeit, alles Mißtrauen, [so] daß er keine Spur davon mehr in seinem Herzen finden konnte. Die nächste Anwendung, die er von diesem empfangenen Tröste machte, war die Stärkung gegen die Last seiner Schulden. 150 Pfund Sterling hatte er in London durchgebracht; ebensoviel war er in Kurland und[290] Livland schuldig geblieben; ›seine Sünden sind Schulden von unendlich mehr Wichtigkeit und Folgen als seine zeitlichen; wenn der Christ mit Gott wegen der Hauptsache richtig geworden, wie sollte es diesem auf eine Kleinigkeit ankommen, sie obenein zum Kauf zu geben.‹ Die 300 Pfund Sterling sind seine Schulden; er überläßt nun Gott alle Folgen seiner Sünden, da derselbe deren Last auf sich genommen.

In dieser beruhigten Stimmung schrieb er diese höchst charakteristische Schilderung seines Lebenslaufs und seines Innern, bis Ende April 1758, und setzte sie auch von da noch weiter fort.

Auf Briefe von Hause und von Riga, die ein Mann für ihn hatte, der ihn zufällig endlich auf der Straße traf, kam er zum Entschluß, nach Riga zurückzukehren, wo er im Juli 1758 wieder eintraf und in dem Hause des Herrn Berens, wie er sagt, mit aller möglichen Freundschaft und Zärtlichkeit bewillkommt wor den. Er bleibt in demselben; seine Geschäfte bestehen bloß in einem Briefwechsel mit dessen Bruder, in dem Unterricht der ältesten Tochter des Hauptes der Familie und einer kleinen Handreichung eines jüngeren Bruders, der auf dem Kontor war. Er dankt Gott, daß derselbe bisher diese Arbeit mit sichtbarer Hand gesegnet, und nach einer schlaflosen, in Überlegung zugebrachten Nacht stand er am 15. Dezember mit dem Gedanken auf, zu heiraten, nachdem er sich und seine Freundin, eine Schwester seiner Freunde, der Herren Berens, der Barmherzigkeit Gottes empfohlen. Nach erhaltener Zustimmung seines Vaters eröffnet er seinen Entschluß den Brüdern Berens und deren Schwester selbst, die einverstanden scheint; aber der letzte Tag des Jahres 1758, schreibt Hamann (S. 230), war voller außerordentlicher Auftritte zwischen ihm und einem der Brüder, den er wie Saul unter den Propheten mit ihm (Hamann) reden hört; das war ein Tag der Not, des Scheltens und Lästerns; erbaulich genug spricht er aber auch dabei von der ungemeinen Rührung über die Sinnesänderung (?) und die Eindrücke der Gnade, die er in jenem wahrzunehmen[291] schien, und geht, mit Freudigkeit, die Nacht zu sterben, ins Bett, wenn Gott so gnädig sein sollte, die Seele dieses Bruders zu retten. In einem Briefe an seinen Vater gibt er den Tag jener Auftritte der Saulschen Prophetensprache, der Not, des Scheltens usf. für einen Jahresschluß von vielem außerordentlichen Segen aus, den ihm Gott widerfahren lassen. Mit einem bußfertigen und salbungsvollen Gebete für alle seine Freunde vom ersten Tage des Jahres 1759 schließt das Tagebuch. Noch in jenem Briefe an seinen Vater vom 9. Januar schreibt er von den Hoffnungen, die Einwilligung des einen Bruders Berens, der sich zu Petersburg befand und der Chef der Familie gewesen zu sein scheint, zu der Heirat mit seiner Schwester zu erhalten. Aber die Sammlung ist hier lückenhaft; der nächste Brief derselben vom 9. März ist aus Königsberg; aus demselben geht hervor, daß er Riga verlassen hat und zunächst alle Verhältnisse zwischen ihm und dem Berensschen Hause abgebrochen sind. Im Verfolg des Briefwechsels zwischen Hamann und dem Rektor J. G. Lindner in Riga, dem gemeinschaftlichen Freunde Hamanns und der Gebrüder Berens, finden sich jene dunkel gebliebenen Vorfallenheiten nicht weiter aufgehellt, aber man liest genug, um die gänzliche Mißstimmung der beiden Teile zu sehen, bei den Herren Berens die tiefe Empfindung des Kontrasts zwischen Hamanns üblem Betragen in England und der Fortsetzung eines untätigen Lebens [einerseits] und dem breiten Auslegen seiner Frömmigkeit und der von Gott empfangenen Gnade [andererseits], insbesondere der Prätention seiner Frömmigkeit, durch diese soviel vor seinen Freunden voraus zu haben und von ihnen als ihr Meister und Apostel anerkannt werden zu wollen. Hamann hatte seinen Lebenslauf, der durch das Angeführte charakterisiert genug ist, dem Herrn Berens, wie es scheint, nach dem Heiratsprojekt und den zur selben Zeit erfolgten Explosionen in die Hände kommen lassen, – es erhellt von selbst, in welcher Absicht und ebenso mit welcher Wirkung; von Berens kommt die Äußerung vor, daß er diesen Lebenslauf mit Ekel gelesen[292] (S. 362); um nicht Hungers zu sterben, habe Hamann die Bibel nötig gehabt, um sich zu überwinden, nach Riga zurückzukommen; S. 355 sogar liest man von der Drohung, Hamann zu seiner Besserung in ein Loch stecken zu lassen, wo nicht Sonne noch Mond scheine. Der vorhin genannte Lindner und dann auch Kant bei der Anwesenheit eines der Herren Berens in Königsberg, den Geschäfte dahin geführt hatten, bemühten sich als gemeinschaftliche Freunde beider Teile, das Mißverhältnis auszugleichen. Die Briefe Hamanns in dieser Angelegenheit, besonders auch einige an Kant sind von dem Lebendigsten, auch Offensten und Verständlichsten, was aus seiner Feder geflossen. Nachdem Hamanns Frömmigkeit die Hauptstimmung der Bußfertigkeit, der inneren Freudigkeit und einer Ergebenheit nicht nur gegen Gott, sondern auch einer äußeren Beruhigung gegen ein Verhältnis und den Zustand mit Menschen gehabt hatte, so wird jetzt in dem Gedränge des Mißverhältnisses mit seinen Freunden seine ganze Leidenschaftlichkeit und geniale Energie erregt und diese Leidenschaftlichkeit und Unabhängigkeit seines Naturells in diese Frömmigkeit gelegt. Indem in diesem ein halbes Jahr fortgesetzten Kampfe und Zanke die ganze Individualität Hamanns wie seine Darstellungsweise und Stil ihre Entwicklung erlangt, auch seine eigentliche schriftstellerische Laufbahn hier ihre Veranlassung hat, so verweilen wir bei der Heraushebung der Züge dieses Zanks, die für das Verständnis dieses Charakters die bedeutendsten werden; sie sind auf einen allgemeineren, wesentlichen und darum überall durchdringenden Gegensatz gegründet.

Beide Teile dringen und arbeiten auf eine Sinnesänderung des andern Teils; von Hamann wird die Anerkennung, der Entschluß und das wirkliche Eingehen in ein rechtliches, brauchbares und arbeitsames Leben gefordert und die Prätention seiner Frömmigkeit, insofern diese ihn nicht auch hierzu treibt, nicht geachtet. Hamann dagegen setzt sich in[293] die Stellung seiner inneren Zuversicht auch praktisch fest; seine Buße und der an die göttliche Gnade erlangte Glaube sind die Burg, in der er sich isoliert und nicht nur gegen die Anforderungen seiner Freunde, mit ihnen über die Verhältnisse der Wirklichkeit zu etwas Gemeinsamem und Festem zu kommen und objektive Grundsätze anzuerkennen, sondern auch auf ihre Vorwürfe die Haltung umkehrt, ihnen die Erkenntnis ihrer selbst zu erwerben aufgibt und Buße und Bekehrung von ihnen verlangt. Der gemeinschaftliche Punkt, der sie zusammenhält, ist das auch nach allen Differenzen scheinbar wenigstens bei Hamann unerschütterlich geblichene Band der Freundschaft; aber indem er daraus Rechte und Pflichten gegen sie [die Freunde] nimmt, weist er zugleich alles ab, was sie daraus gegen ihn geltend machen wollen, und läßt sie nicht an ihn kommen. Das Prinzip, aus dem er seine Dialektik führt, ist das religiöse, welches seine Superiorität gegen die sogenannten weltlichen Pflichten und gegen die Tätigkeit in und für bestehende Verhältnisse abstrakt behauptet und in diese Superiorität seine zufällige Persönlichkeit einschließt, – eine Dialektik, die auf diese Weise Sophisterei wird. Als Hauptzüge mögen folgende mit einiger Anführung der eigentümlichen Weise, in der sich Hamanns Humor dabei ausspricht, ausgehoben werden.

Zunächst kommen die Freunde Lindner und Kant über ihr Vermittlergeschäft selbst sehr übel weg. Als ihm jener, als unparteiisch sein wollender Mittelsmann, die Äußerungen des Freundes Berens mitteilt, fragt Hamann, ob das neutral sein heiße, wenn man geharnischte Männer unter dem Dache seiner Briefe einnehme und sein Kuvert zum hölzernen Pferde mache; er setzt diese Gefälligkeit mit der einer Herodias gegen ihre Mutter, das Haupt des Johannes sich auszubitten, parallel; er heißt dies, als ein Heuchler in Schafskleidern zu ihm kommen usf. An Kant schreibt er über dessen Bemühungen: »Ich muß beinahe über die Wahl eines Philosophen zu dem Endzweck, eine Sinnesänderung in mir hervorzubringen, lachen. Ich[294] sehe die beste Demonstration wie ein vernünftig Mädchen einen Liebesbrief und eine Baumgartensche Erklärung wie eine witzige Fleurette an.« Am meisten charakteristisch drückte Hamann seine Stellung in diesem Kampfe so aus, daß Kant, indem er mit hereingezogen worden, der Gefahr ausgesetzt worden sei, »einem Menschen so nahe zu kommen, dem die Krankheit seiner Leidenschaft eine Stärke zu denken und zu empfinden gibt, die ein Gesunder nicht besitzt«. Dies ist ein Zug, der für die ganze Eigentümlichkeit Hamanns treffend ist. – Die Briefe an Kant sind mit besonderer, großartiger Leidenschaftlichkeit geschrieben. Wie es scheint, hatte Kant nicht mehr auf Hamanns Briefe oder dessen ersten Brief geantwortet und Hamann vernommen, daß Kant dessen Stolz unerträglich gefunden habe. Über diesen seinen Stolz und Kants Stillschweigen entgegnet und fordert ihn Hamann mit weitläufiger Heftigkeit heraus; er fragt ihn, ob Kant sich zu Hamanns Stolz erheben wolle oder Hamann sich zu Kants Eitelkeit herablassen solle.

Den Vorwürfen, die ihm wegen seines früheren Benehmens und seiner jetzigen Bestimmungslosigkeit gemacht werden, entgegnet er auf die einfache Weise durch die Parrhesie des Bekenntnisses und Zugeständnisses, daß er der vornehmste unter den Sündern sei; eben in dieser Empfindung seiner Schwäche liege der Trost, den er in der Erlösung genossen; die Demütigung, die aus jenen Vorwürfen gegen ihn erwachse, erwidere er mit dem Stolze auf die alten Lumpen, welche ihn aus der Grube gerettet, und er prange damit wie Joseph mit dem bunten Rocke. – Die nähere Besorgtheit seiner Freunde um seine Lage und Zukunft, seine Unbrauchbarkeit und Arbeitslosigkeit beantwortet er damit, daß seine Bestimmung weder zu einem Staats-, Kauf- noch Weltmann sei; er danke Gott für die Ruhe, die derselbe ihm gebe. – Hamann lebte, nachdem er Riga verlassen, bei seinem alten Vater; dieser gebe ihm alles reichlich, was ihm zur Leibesnahrung und Notdurft gehöre, und wer frei sei und frei sein könne, solle nicht ein Knecht werden; er gehe seinem alten[295] Vater zur Seite und frage nicht danach, wieviel Vorteil oder Abbruch er diesem schaffe; Bibellesen und Beten sei die Arbeit eines Christen, seine Seele sei in Gottes Hand mit allen ihren moralischen Mängeln und Grundkrümmen. Wenn man ja wissen wolle, was er tue: er lutherisiere; es müsse doch etwas getan sein. »Dieser abenteuerliche Mönch sagte zu Augsburg (!): hier bin ich – ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen!« – Seine Geldschuld gegen das Berenssche Haus tut er zunächst (in dem einen Briefe an Kant, S. 444) so daß, wenn davon vielleicht die Rede würde, so solle Kant dem Herrn Berens sagen, daß er, Hamann, jetzt nichts habe und selbst von seines Vaters Gnade leben müsse; wenn er sterben sollte, wolle er seinen Leichnam dem Herrn Berens vermachen, an dem er sich, wie die Ägypter, pfänden könne. Ein Jahr später (III. Teil, S. 17 f.) schreibt er an jenes Haus, um den Anspruch seiner Schulden auf einen ordentlichen Fuß zu bringen; er erhält die Erledigung in der Antwort, daß der Abschied, den er aus jenem Hause genommen, die Quittung aller Verbindlichkeiten sein möge, die je zwischen ihnen gewesen. – Die hauptsächlichste Wendung seines Benehmens gegen seine Freunde aber ist die Umkehrung des Angriffs auf sie, die Anforderung an sie, zunächst an einen der Brüder Berens, daß er bei allen den gründlichen Entdeckungen, die er über Hamanns Herz gemacht, in seinen eigenen Busen fühlen und sich so gut für einen Mischmasch von großem Geiste und elendem Tropf erkennen soll, als er ihn, Hamann, mit viel Schmeichelei (die Schmeicheleien, die Berens ihm mache, tun ihm weher als seine beißenden Einfälle) und Treuherzigkeit erkläre. Daß er in seiner Privatsache dem Freund Lindner wider Gewissen und Pflicht so überlästig geworden, sei gewesen, weil er gewünscht und gehofft, daß er (Lindner) mehr Anwendung davon auf sich selbst machen würde. Wie oft sei er (Hamann) aber an das Leiden unseres Erlösers erinnert worden, da seine Nächsten, seine Tischfreunde der keines vernahmen und nicht wußten, was er redete und was er [296] ihnen zu verstehen geben wollte. Man beschuldige ihn hart, daß er die Mittel verachte; aber so[nst] wäre er ein Verächter der göttlichen Ordnung; aber was für ein besser Mittel hätte sich sein Freund von Gott selbst erbitten können als ihn, den man für einen alten, wahren Freund ansehe, wenn er in seinem eigenen Namen komme? Weil man aber den nicht kenne, der ihn gesandt habe, so sei er (Hamann) auch verworfen, sobald er in dessen Namen komme; sie verwerfenden, den Gott versiegelt habe zum Dienste ihrer Seelen. Seine Freunde ekle vor der losen Speise, die sie in seinen Briefen finden; was lese er aber in den ihren? Nichts als die Schlüsse seines eigenen Fleisches und Blutes, das verderbter sei als ihres; nichts als das Murren seines eigenen alten Adams, den er mit seinen eigenen Satiren geißle und die Striemen davon eher als sie selbst fühle, länger als sie selbst behalte und mehr darunter brumme und girre als sie, weil er mehr Leben, mehr Affekt, mehr Leidenschaft besitze, nach ihrem eigenen Geständnis.

Den ihm von Gott zugeteilten Beruf, seinen Freunden zur Selbsterkenntnis zu verhelfen, bestätigt er noch weiter damit, daß [er sagt], wie man den Baum an den Früchten erkenne, so wisse er, daß er ein Prophet sei, – aus dem Schicksal, das er mit allen Zeugen teile, gelästert, verfolgt und verachtet zu werden; – die größte Stufe des Gottesdienstes, den Heuchler Gott bringen, sagt er seinen Freunden ein andermal, bestehe in der Verfolgung wahrer Bekenner. Dieser angemaßten Stellung gemäß fordert er Kant (S. 505) heraus, ihn mit eben dem Nachdruck zurückzustoßen und sich seinen Vorurteilen zu widersetzen, als er (Hamann) ihn und seine Vorurteile angreife; sonst werde in seinen Augen Kants Liebe zur Wahrheit und Tugend so verächtlich als Buhlerkünste aussehen. Mitunter gibt er auch den ganzen Hader für eine gemeinschaftliche Prüfung ihrer Herzen, seines mit eingeschlossen, an. So an Lindner (S. 375): er soll richten, was er, Hamann, sage, und das Gericht seines Nächsten als eine Züchtigung des Herrn ansehen, auf daß wir[297] nicht samt der Welt verdammt werden; er, Lindner, solle die Wunden, die Hamann ihm schlagen müsse, den Schmerz, den er ihm machen müsse, als ein Christ vergeben. So erkennt, wie er S. 353 schreibt, Hamann die Heftigkeit nicht, die in des Freundes Berens Zuschriften sich finde; er sehe alles als eine Wirkung der Freundschaft desselben und diese sowohl als ein Geschenk wie als eine Prüfung Gottes an. Daß er (Hamann) S. 393 in einem harten und seltenen Ton geschrieben, sei nur darum geschehen, »daß eure Neigung, euer Herz gegen uns offenbar würde vor Gott; Gott wollte versuchen, was in meinem Herzen die Liebe Christi gegen euch für Bewegungen hervorbringen würde und was die Liebe Christi in euch gegen uns hervorbringen würde«. – Bei einer Herausforderung an Kant und bei dem Scheine, sich mit seinen Freunden in die Gemeinsamkeit der Prüfung zu stellen, ist, wie angeführt, die Zuversicht der eigenen Vollendung in der Buße und Überlegenheit über die Freunde zu stark ausgesprochen, als daß diese darin nicht Hamanns »Stolz« vornehmlich hätten empfinden müssen. Bei jenen Voraussetzungen von seiner Seite, sieht man wohl, konnte es zu keinem Verständnisse kommen. Kant scheint, wie erwähnt, schon früher sich mit Hamann über diese Sache nicht weiter eingelassen zu haben; der letzte Brief Hamanns an Kant (S. 504) macht ihm den Vorwurf über sein Stillschweigen und versucht, ihn zu Erklärungen zu zwingen; auch fühlt Hamann ebenso, daß er vergebene Mühe aufwendet, den anderen Freunden, Lindner und Berens (S. 469: »Alle meine Sinnenkünste sind umsonst« usf.), zu imponieren, und macht (S. 405) den Vorschlag, da der Briefwechsel zwischen ihnen immer mehr ausarten möchte, von der Materie abzubrechen und denselben eine Weile ruhen zu lassen. In der Tat ist die Erfahrung, welche Hamann hierbei gemacht hat, für ihn nicht verlorengegangen; wir sehen ihn von nun an gegen Lindner, mit dem der Briefwechsel nach[298] längerer Zeit wieder aufgenommen wurde, sowie auch gegen spätere Freunde in einem veränderten, verständigen Benehmen, das sich auf die Gleichheit des Rechts moralischer und religiöser Eigentümlichkeit gründet und die Freiheit der Freunde unbeeinträchtigt und unbedrängt läßt.

Allein dieser Verzicht, die Herzen seiner Freunde zu bearbeiten oder sie wenigstens zu Diskussionen über den Zustand ihrer Seelen zu drängen, ist mehr ein äußerlicher Schein und erstreckt sich nur auf das direkte Benehmen gegen sie. Sein Drang wirft sich jetzt, weil er es in der Korrespondenz aufgeben muß, sich als Meister und Prophet anerkannt zu sehen, in das andere Mittel, das Wort zu haben, – in das Mittel von Druckschriften. Wir sehen schon in den letzten Briefen an Lindner und vornehmlich an Kant die Keime und dann die nähere Ankündigung der Sokratischen Denkwürdigkeiten, des Anfangs seiner Autorschaft, wie Hamann selbst diese Schrift nennt. Er stellt den jungen Berens mit Kant gegen sich in das Verhältnis von Alkibiades zu Sokrates und bittet um die Erlaubnis, als der Genius zu reden. In dem ganz charakteristischen, höchst geistreichen Briefe an Kant geht er zu der Wendung über, daß es ihm (Hamann) um die Wahrheit so wenig zu tun sei als Kants Freunden; »ich glaube wie Sokrates alles, was der andere glaubt, und gehe nur darauf aus, andere in ihrem Glauben zu stören«. Im anderen öfters angeführten Briefe an Kant (S. 506) wirft er diesem vor, es sei ihm nichts daran gelegen, ihn (Hamann) zu verstehen oder nicht zu verstehen; seine (Hamanns) Anerbietung sei gewesen, die Stelle des Kindes zu vertreten; Kant hätte ihn daher ausfragen sollen; dies Einlassen ist es) was er auf alle Weise hervorzurufen bestrebt ist, und zwar in dem Zwecke, die Freunde zur Selbsterkenntnis zu bringen. Die Sokratischen Denkwürdigkeiten sind die Ausführung und ausdrückliche Exposition der Stellung, die er sich nehmen will: als Sokrates sich zu verhalten, der unwissend gewesen und seine Unwissenheit ausgestellt habe,[299] um seine Mitbürger anzulocken und sie zur Selbsterkenntnis und einer Weisheit zu führen, die im Verborgenen liege. Man sieht im Verfolge, daß Hamann mit dem eigentümlichen Zwecke dieser Schrift nicht glücklicher gewesen als mit seinen Briefen; auf Kant hat sie offenbar weiter keine Wirkung gemacht und ihn nicht zum Einlassen vermocht; von der anderen Seite her, wie es scheint, hat sie ihm Verachtung und selbst Hohn zugezogen. Aber sie drückt sowohl den allgemeinen Grundtrieb der sämtlichen Schriftstellerei Hamanns aus, als auch aus ihr die Sätze geschöpft worden sind, welche späterhin eine allgemeine Wirkung hervorgebracht haben. Wir verweilen daher bei ihr noch etwas, indem wir nur noch bemerken, daß Hamann zum Behuf dieser Schrift sich nicht einmal die Mühe gab, den Platon und Xenophon selbst nachzulesen, wie er irgendwo zugesteht.

In der Zueignung – sie ist gedoppelt: an Niemand, den Kundbaren (das Publikum), und an Zween – charakterisiert er diese, Berens und Kant (II. Bd., S. 7): »Der erste arbeitet am Stein der Weisen, wie ein Menschenfreund, der ihn für ein Mittel ansieht, den Fleiß, die bürgerlichen Tugenden und das Wohl des gemeinen Wesens zu fördern... Der andere möchte einen so allgemeinen Weltweisen und guten Münzwardein abgeben, als Newton war.« (Hamann =) Sokrates selbst sei der Reihe von Lehrmeistern und Lehrmeisterinnen, die man ihm gegeben, unerachtet unwissend geblieben; aber ›er übertraf die anderen an Weisheit, weil er in der Selbsterkenntnis weitergekommen war als sie, und wußte, daß er nichts wußte. Mit diesem seinem: Nichts weiß ich! wies er die gelehrten und neugierigen Athenienser ab und erleichterte seinen schönen Jünglingen die Verleugnung ihrer Eitelkeit und suchte ihr Vertrauen durch seine Gleichheit mit ihnen zu gewinnen. – Alle Einfälle des Sokrates, die nichts als Auswürfe und Absonderungen seiner[300] Unwissenheit waren, schienen den Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit, so fürchterlich als die Haare an dem Haupte Medusens, dem Nabel der Ägide.‹ Von dieser Unwissenheit geht er dazu über, daß unser eigen Dasein und die Existenz aller Dinge außer uns geglaubt und auf keine andere Weise ausgemacht werden müsse. »Der Glaube«, sagt er, »ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angriff derselben unterliegen, weil Glauben sowenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen.« Für das Sokratische Zeugnis von seiner Unwissenheit gibt es kein ehrwürdigeres Siegel als 1. Kor. 7: »So jemand sich dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll. So aber jemand Gott liebt, der wird von ihm erkannt.« – Wie aus der Unwissenheit, »diesem Tode, aus diesem Nichts, das Leben und Wesen einer höheren Erkenntnis neu geschaffen hervorkeime, so weit reicht die Nase eines Sophisten nicht«.

»Aus dieser Sokratischen Unwissenheit fließen als leichte Folgen die Sonderbarkeiten seiner Lehr- und Denkart. Was ist natürlicher, als daß er sich genötigt sah, immer zu fragen, um klüger zu werden; daß er leichtgläubig tat, jede Meinung für wahr annahm und lieber die Probe der Spötterei und guten Laune als eine ernsthafte Untersuchung anstellte,... Einfälle sagte, weil er keine Dialektik verstand;... daß er, wie alle Idioten, oft so zuversichtlich und entscheidend sprach, als wenn er unter allen Nachteulen seines Vaterlandes die einzige wäre, welche der Minerva auf ihrem Helm säße.« Man sieht, wie auch nach der Seite des Stils Hamann den Sokrates und sich selbst zusammenmengt; die letzteren Züge dieser Zeichnung passen ganz auf ihn selbst und mehr als auf Sokrates; so auch Folgendes, worin schon oben Angeführtes nicht zu verkennen ist: »Sokrates antwortete auf die gegen ihn gemachte Anklage mit einem Ernst und Mut, mit einem Stolz und Kaltsinn, daß man ihn eher für einen Befehlshaber seiner Richter als für einen Beklagten hätte ansehen sollen.« »Platon macht die[301] freiwillige Armut des Sokrates zu einem Zeichen seiner göttlichen Sendung. Ein größeres ist seine Gemeinschaft an dem letzten Schicksale der Propheten und Gerechten« (Matth. 23, 29; s. oben: gelästert, verspottet zu werden).

So ganz persönlich, wie der Sinn, Inhalt und Zweck dieser Schrift ist, während ihr zugleich gegen das Publikum der Schein eines objektiven Inhalts gegeben wird, ist zwar der Sinn anderer Schriften nicht, aber in allen ist mehr oder weniger das Interesse und der Sinn der Persönlichkeit eingemischt. Auch die Sätze über den Glauben sind auf ähnliche Weise zunächst vom christlichen Glauben hergenommen, aber zu dem allgemeinen Sinn erweitert, daß die sinnliche Gewißheit von äußerlichen, zeitlichen Dingen – »von unserem eigenen Dasein und von der Existenz aller Dinge« – auch ein Glaube genannt wird. In dieser Erweiterung ist das Prinzip des Glaubens von Jacobi bekanntlich zu dem Prinzip einer Philosophie gemacht worden, und man erkennt in den Jacobischen Sätzen nahezu wörtlich die Hamannschen wieder. Der hohe Anspruch, den der religiöse Glaube, und zwar nur in Recht und Kraft seines absoluten Inhaltes hat, ist auf diese Weise auf das subjektive Glauben mit der Partikularität und Zufälligkeit seines relativen und endlichen Inhaltes ausgedehnt worden. Der Zusammenhang auch dieser Verkehrung mit Hamanns Charakter überhaupt wird sich weiterhin näher ergeben.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 11, Frankfurt a. M. 1979, S. 275-302.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anonym

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon