Zweiter Abschnitt.

Periode des denkenden Verstandes

[120] Wir kommen eigentlich jetzt erst zur Philosophie der neuen Welt und fangen diese mit Cartesius an. Mit ihm treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt und daß das Selbstbewußtsein wesentliches Moment des Wahren ist. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See »Land« rufen: Cartesius ist einer von den Menschen, die wieder mit allem von vorn angefangen haben; und mit ihm hebt die Bildung, das Denken der neueren Zeit an. (Es geht lange fort, auf dem vorigen Wege zu gehen. Der Deutsche, je knechtischer auf der einen Seite, desto zügelloser ist er auf der anderen; Beschränktheit und Maßloses, Originalität, ist der Satansengel, der uns mit Fäusten schlägt.)

In dieser neuen Periode ist das Prinzip das Denken, das von sich ausgehende Denken, – diese Innerlichkeit, die überhaupt in Rücksicht auf das Christentum aufgezeigt und die das protestantische Prinzip ist. Das allgemeine Prinzip ist jetzt, die Innerlichkeit als solche festzuhalten, die tote Äußerlichkeit, Autorität zurückzusetzen, für ungehörig anzusehen. Nach diesem Prinzip der Innerlichkeit ist nun das Denken, das Denken für sich, die reinste Spitze des Innersten, diese Innerlichkeit das, was sich für sich jetzt aufstellt; und dies Prinzip fängt mit Descartes an. Es ist das Denken frei für sich, was gelten soll, was anerkannt werden soll; dies kann es nur durch mein freies Denken in mir, nur dadurch kann es mir bewährt werden. Dies hat zugleich den Sinn, daß dies Denken allgemeines Geschäft, Prinzip für die Welt und die Individuen ist: das, was gelten, was festgesetzt sein soll in der Welt, muß der Mensch durch seine Gedanken einsehen; was für etwas Festes gelten soll, muß sich bewähren durch das Denken.[120]

Wir treten damit erst in eigentliche Philosophie seit der neuplatonischen Schule und was damit zusammenhängt; es ist Wiederanfang der Philosophie. So findet man auch in älteren Geschichten der Philosophie aus dem 17. Jahrhundert nur die Philosophie der Griechen und Römer, und das Christentum macht den Beschluß, so daß in demselben und von da an keine Philosophie mehr vorhanden gewesen sei, weil sie nicht mehr nötig, – z.B. bei Stanley. Die philosophische Theologie des Mittelalters hatte nicht zum Prinzip das freie, von sich ausgehende Denken; dies ist aber nun das Prinzip. Dabei müssen wir aber nicht erwarten, zu finden ein philosophisches Prinzip, das aus dem Gedanken sich methodisch entwickelt. Das Denken ist das Prinzip; was gelten soll, gilt nur durch das Denken. Das alte Vorurteil ist vorausgesetzt, daß der Mensch nur Wahrheit erlangt durch das Nachdenken; dies ist schlechthin die Grundlage. Aber es ist noch nicht aus dem Denken das Viele, die Weltanschauung zu entwickeln, – die Bestimmung von Gott, Bestimmung der erscheinenden Welt als aus dem Denken notwendig hervorgehend aufzuzeigen, sondern wir haben nur Denken, Denken von einem Inhalt, der durch die Vorstellung, Beobachtung, Erfahrung gegeben wird.

Einerseits ist es eine Metaphysik, andererseits die besonderen Wissenschaften; einerseits das abstrakte Denken als solches, andererseits der Inhalt desselben aus der Erfahrung; zwei Linien stehen abstrakt gegeneinander, teilen sich aber nicht so scharf. Wir werden zwar auf den Gegensatz kommen: von apriorischem Denken, daß die Bestimmungen, die dem Denken gelten sollen, aus dem Denken selbst genommen sein sollen, – und der Bestimmung, daß wir aus der Erfahrung anfangen, aus der Erfahrung schließen müssen, denken müssen usf. Es ist der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus, aber es ist ein untergeordneter, weil auch das Philosophieren, was nur den immanenten Gedanken gelten lassen will, nicht methodisch Entwickeltes aus der Notwendigkeit des Denkens nimmt, sondern auch seinen[121] Inhalt nimmt aus der Erfahrung, aus der inneren oder äußeren; die metaphysische Seite verfährt ebenso empirisch. Die Form der Philosophie, welche durch das Denken zunächst erzeugt wird, ist die der Metaphysik, die Form des denkenden Verstandes; die zweite ist der Skeptizismus und Kritizismus gegen den denkenden Verstand, gegen die Metaphysik als solche und gegen das Allgemeine des Empirismus. Die erste Periode, die der Metaphysik, enthält als Hauptpersonen Cartesius, Spinoza, Locke, Leibniz usf., – die französischen Materialisten. Das Andere ist die Kritik, Negation dieser Metaphysik und der Versuch, das Erkennen für sich selbst zu betrachten, daß die Bestimmungen aus dem Erkennen selbst abgeleitet werden, – betrachtet wird, welche Bestimmungen sich aus ihm entwickeln.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 20, Frankfurt am Main 1979, S. 120-122.
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