b. Erweis der Nichtigkeit der philosophischen Erkenntnis durch die Geschichte der Philosophie selbst

[34] Nach einer anderen Seite hängt aber mit jener Vorstellung eine andere Folge zusammen, die man, wie man will, für einen Schaden oder einen Nutzen ansehen kann. Nämlich beim Anblick von so mannigfaltigen Meinungen, von so vielerlei philosophischen Systemen gerät man in das Gedränge, zu welchem man sich halten solle. Man sieht, über die großen Materien, zu denen sich der Mensch hingezogen fühlt und deren Erkenntnis die Philosophie gewähren wolle, haben sich die größten Geister geirrt, weil sie von anderen widerlegt worden sind. »Da dieses so großen Geistern wider fahren ist, wie kann ego homuncio da entscheiden wollen.« Diese Folge, die aus der Verschiedenheit der philosophischen Systeme gezogen wird, ist, wie man meint, der Schaden in der Sache, zugleich ist sie aber auch ein subjektiver Nutzen. Denn diese Verschiedenheit ist die gewöhnliche Ausrede für die, welche mit Kennermiene sich das Ansehen geben wollen, sie interessieren sich für die Philosophie, dafür, daß sie bei diesem angeblichen guten Willen, ja bei zugegebener Notwendigkeit der Bemühung um diese Wissenschaft, doch in der Tat sie gänzlich vernachlässigen. Aber diese Verschiedenheit der philosophischen Systeme ist weit entfernt, sich für eine bloße Ausrede zu nehmen. Sie gilt vielmehr für einen ernsthaften, wahrhaften Grund gegen den Ernst, den das Philosophieren aus seiner Beschäftigung macht, – als eine Rechtfertigung, sich nicht mit ihr zu befassen, und als eine selbst unwiderlegbare Instanz über die Vergeblichkeit des Versuchs, die philosophische Erkenntnis der Wahrheit er reichen zu wollen. Wenn aber auch zugegeben wird, die Philosophie solle eine wirkliche Wissenschaft sein und eine Philosophie werde wohl die wahre sein, so entstehe die Frage; aber welche? woran soll man sie erkennen? Jede[34] versichere, sie sei die wahre; jede selbst gebe andere Zeichen und Kriterien an, woran man die Wahrheit erkennen solle; ein nüchternes besonnenes Denken müsse daher Anstand nehmen, sich zu entscheiden.

Dies ist das weitere Interesse, welches die Geschichte der Philosophie leisten soll. Cicero (De natura deorum I, 10-16) gibt eine solche schludrige Geschichte der philosophischen Gedanken über Gott. Er legt sie einem Epikureer in den Mund, wußte aber nichts Besseres darauf zu sagen; es ist also seine Ansicht. Der Epikureer sagt, man sei zu keinem bestimmten Begriff gekommen. Der Erweis, daß das Bestreben der Philosophie nichtig sei, wird sogleich aus der allgemeinen oberflächlichen Ansicht der Geschichte der Philosophie geführt: der Erfolg der Geschichte zeige sich als eine Entstehung der mannigfaltigsten Gedanken, der vielfachen Philosophien, die einander entgegengesetzt sind, sich widersprechen und widerlegen. Dies Faktum, welches nicht zu leugnen ist, scheint die Berechtigung, ja die Aufforderung zu enthalten, die Worte Christi auch auf die Philosophien anzuwenden und sich zu sagen: »Laß die Toten ihre Toten begraben und folge mir nach!« – Das Ganze der Geschichte der Philosophie ist ein Reich vergangener, nicht nur leiblich verstorbener Individuen, sondern widerlegter, geistig vergangener Systeme, deren jedes das andere tot gemacht, begraben hat.7 – Statt »folge mir nach« müßte es freilich nach diesem Sinne vielmehr heißen: Folge dir selbst nach, d.h. halte dich an deine eigene Überzeugung, bleibe bei deiner eigenen Meinung stehen. Warum bei einer fremden?

Es geschieht freilich, daß eine neue Philosophie auftritt. Diese behauptet, daß die anderen nichts gelten. Jede Philosophie tritt zwar mit der Prätention auf, daß durch sie die vorhergehenden Philosophien nicht nur widerlegt, sondern[35] ihrem Mangel abgeholfen, das Rechte endlich gefunden sei. Aber der früheren Erfahrung gemäß zeigt sich vielmehr, daß auf solche Philosophie gleichfalls andere Worte der Schrift anwendbar sind, die der Apostel Paulus zu Ananias spricht: »Siehe die Füße derer, die dich hinaustragen werden, stehen schon vor der Tür.« Siehe die Philosophie, wodurch die deinige widerlegt und verdrängt werden wird, wird nicht lange ausbleiben, sowenig als sie bei jeder anderen ausgeblieben ist.

7

Es sei ein Schlachtfeld, nur bedeckt mit den Gebeinen der Toten.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 34-36.
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